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Haitis Diktatur-Vergangenheit
"Noch immer herrscht eine absolute Straflosigkeit"

Unter François Duvalier und dessen Sohn Jean-Claude starben und verschwanden auf Haiti bis 1986 zehntausende Menschen. Diese Zeit ist kaum aufgearbeitet, kein Täter bestraft, Schulbücher schweigen darüber. Und doch gibt es inzwischen nicht wenige auf der Insel, die sich wieder nach einer "starken Hand" sehnen.

Von Cornelius Wüllenkemper | 04.11.2017
    Undatierte Aufnahme des haitianischen Präsidenten und Diktators Francois Duvalier, genannt "Papa Doc"(hinten), mit seinem Sohn und Amtsnachfolger Jean-Claude Duvalier, genannt "Baby Doc".
    1957 bis 1971 haitianischer Präsident, seit 1964 auf Lebenszeit: Jean-Claude Duvalier. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Jean-Claude das Land. Und die Terrorherrschaft des Vaters (picture-alliance / dpa / AFP)
    Zögerlich zieht Jacqueline Edline Benoît ein vergilbtes Fotoalbum aus dem Regal. Die pensionierte Lehrerin lebt allein in einem einfachen Bungalow in einem Vorort von Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis Ihre gesamte Familie habe sie verloren, so erzählt die kleine Frau mit erstickender Stimme, während sie mit Tränen in den Augen die Fotos betrachtet. Kurz bevor François Duvalier sich zum Präsidenten auf Lebenszeit machte, wurden aufgrund vermeintlicher Umsturzpläne wahllos Militärangehörige und Zivilisten entführt, gefoltert und ermordet.
    "Zuerst traf es meinen Vater. Die Tonton Macoutes pferchten ihn am 26. April 1963 in einen Kofferraum und verschleppten ihn. Dann wurde mein Bruder Claude verhaftet. Der Bürgermeister von Saltrou hatte ihn beschuldigt, Teil der Rebellentruppen zu sein."
    Menschen verschwanden spurlos, allein der Verdacht auf oppositionelle Umtriebe genügte, um ganze Familien auszulöschen. Jacqueline Edeline Benoît:
    "Meine Schwiegereltern haben sie getötet, als sie von der Messe kamen. Ihre Leichen haben sie verbrannt. Die Luft war zum Ersticken. Der Macoute-Offizier Max Dominique, der Schwiegersohn Duvaliers, schnappte sich unseren 18 Monate alten Sohn, stieg in seinen Jeep und fuhr davon. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Sohn gesehen habe. Wenn man jemanden beerdigt, weiß man, dass er tot ist. Aber ohne Beerdigung bleibt immer diese schmerzliche Hoffnung."
    "Unsere Devise lautet: Schneidet ihnen die Köpfe ab"
    Sechzig Jahre nach dem Machtantritt François Duvaliers ist die Erinnerung an die grausamen Verbrechen noch sehr präsent. Auch Jean-Claude Duvalier, der seinem Vater 1971 als Minderjähriger ins Amt folgte, bediente sich blutiger Gewalt, um seine Macht zu sichern.
    "Seit Jean-Claude Duvalier an der Macht ist, herrscht Frieden und Einigkeit im Lande. Und falls es doch mal was gibt, schlagen wir los. Wir sind bis zu den Zähnen bewaffnet. Außerdem haben wir viele Einheiten mit Macheten. Unsere Devise lautet: Schneidet ihnen die Köpfe ab und brennt ihre Häuser nieder! (lacht)", berichtete damals ein hochrangiger Tonton Macoute stolz einem belgischen Reporter.
    Bis zu 60.000 Menschen sollen umgekommen sein, die genaue Zahl kennt niemand. Seit Duvalier 1986 abgesetzt wurde, ist nicht ein einziger Täter zur Rechenschaft gezogen worden. Zunächst verweigerte Frankreich die Auslieferung. Als der Ex-Diktator dann 2011 nach Haiti zurückkehrte, strengte ein "Komitee gegen die Straffreiheit" einen Prozess gegen ihn und seine engsten Mitarbeiter an. Doch das Verfahren verlief im Sande, bis Duvalier 2014 starb.
    Regimeangehöriger beriet Regierung bis 2016
    Rony Gilot gehörte zum Regime, auch er wurde angeklagt. Vor wenigen Tagen, am 60. Jahrestag der Machtübernahme der Duvaliers bekannte er:
    "François Duvalier hatte einen Plan, Gutes für unser Land zu tun. Und genauso hatte er einen Plan, wie er seine Macht sichern kann. Er und sein Sohn haben das Land 29 Jahre lang regiert, länger als jede andere Regierung Haitis. Um in unserem Land an der Macht zu bleiben, muss man auf Mittel zurückgreifen, die, sagen wir, etwas unorthodox sind. Und Duvalier hat diese Mittel genutzt."
    Bis zum vergangenen Jahr hat Rony Gilot die Regierung noch beraten, trotz seiner dunklen Vergangenheit. Das ist kein Widerspruch, denn der Neo-Duvalierismus ist längst salonfähig geworden in Haiti. Die Frustration über den ineffizienten Staatsapparat, eine galoppierende Arbeitslosigkeit, Korruption und bittere Armut lassen die Rufe nach einer "starken Hand" lauter werden – ein Schlag ins Gesicht der Opfer des Regimes Duvalier.
    Der haitianische Präsident und Diktator Jean-Claude Duvalier, genannt "Baby Doc", aufgenommen 1982. Jean-Claude Duvalier trat 19-jährig im April 1971 die Nachfolge seines Vaters  Francois Duvalier an, der sich 1964 zum Präsidenten auf Lebenszeit erklärt hatte. Nach schweren, zum Teil blutigen Unruhen und anhaltenden Streiks verließ "Baby Doc" am 7. Februar 1986 das Land und ging nach Frankreich. |
    Jean-Claude Duvalier, 1971 bis 1986 Präsident auf Haiti (B0001_AFP)
    "Wir leben im Duvalierismus ohne Duvalier"
    "Duvalier ist noch unter uns! Wir leben im Duvalierismus ohne Duvalier. Die gleiche Unberechenbarkeit, die gleiche Angst, die gleiche Arroganz der Macht. Das Schweigen über die Verbrechen spielt den Verbrechern in die Hände und lässt sie glauben, dass die Diktatur zurückkehren wird", meint etwa Marie Marguerite Clérié.
    Mit dem "Komitee gegen Straffreiheit" strengte sie 2011 den Prozess gegen Jean-Claude Duvalier an. Auch nach dem Tod des Diktators setzt sich das Komitee für die rechtliche Aufarbeitung der Verbrechen ein, lädt Zeitzeugen und Hinterbliebene zu Treffen ein, so Clerié:
    "Das Einzige, was wir in Haiti errungen haben, ist die Meinungsfreiheit. Immerhin werden sie uns nicht mehr das Wort verbieten. Wir haben uns die Redefreiheit erkämpft, die Erinnerung dringt ins Bewusstsein, und das ist eine Errungenschaft, die uns bleibt. Daran glaube ich, und dafür werde ich kämpfen."
    Kein Schulbuch, Museum, Denkmal erinnert an die Gräuel
    Doch die alten Seilschaften bestimmen bis heute die haitianische Politik. Davon ist der Historiker und Filmemacher Arnold Antonin überzeugt:
    "Noch immer herrscht eine absolute Straflosigkeit, was die Verbrechen des Duvalier-Clans angeht. Alle haben alle Angst davor, die Verantwortlichen zu benennen, weil man die heutigen Politiker dann ebenfalls für ihre Taten zur Rechenschaft ziehen würde."
    Die Jugend Haitis weiß über die Verbrechen der Vergangenheit so gut wie nichts. Das marode Bildungssystem, so Arnold Antonin, gehöre zum Erbe der Duvaliers. Denn unwissende Volksmassen könne man besser kontrollieren. Kein Schulbuch, kein Museum, keine einzige Gedenkstätte erinnert an die Gräueltaten.
    Solange die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, steht es schlecht um die Entwicklung eines demokratischen Rechtsstaats in Haiti und um die Hoffnung auf eine späte Versöhnung der Gesellschaft.