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Hala Alyan: "Häuser aus Sand"
Das Echo der Geschichte

Salma muss mit ihren Kindern aus Palästina fliehen - ihre Tochter wiederum packt während des Golfkriegs in Kuwait ihre Koffer. Hala Alyan erzählt in ihrem Debütroman "Häuser aus Sand" von Flucht und Vertreibung und davon, wie zurückliegende Traumata in späteren Generationen nachwirken.

Von Dina Netz | 27.09.2018
    Buchcover Hala Alyan: "Häuser aus Sand" und im Hintergrund das "Heilige Land"
    Flucht in der Familie über zwei Generationen (Buchcover DuMont, Hintergrund: imago-United Archives)
    Als der Roman einsetzt, ist das traumatische Ereignis schon passiert: Hala Alyan erzählt im Rückblick davon, wie die Palästinenser Salma und Hussam Ende der 1940er Jahre ihre Heimat Jaffa, die von Israel besetzt wurde, verlassen mussten. Sie flohen nach Nablus, doch das Haus in Jaffa konnte Salma nie vergessen:
    "Salmas und Hussams Villa stand auf einer Anhöhe über dem Meer. Darunter erstreckten sich die Reihen der Orangenbäume. Nach wenigen Tagen war die Plantage verwüstet, der Boden mit Holzstümpfen gespickt. Überall lagen Orangen, deren Fruchtfleisch aus den zerrissenen Schalen quoll."
    Diese erste Vertreibung wird sich in Salma festsetzen. Sie wird die Sehnsucht nach der Heimat und nach längst verschwundenen Dingen an ihre Kinder weitergeben – das ist das "Echo der Geschichte", wie es im Roman heißt. Vertreibungen ziehen sich auch durch die weitere Familiengeschichte. Dabei ist "Häuser aus Sand" kein Kriegsroman, denn die Yacoubs sind eine wohlhabende Akademiker-Familie und können es sich leisten, immer wieder vor den verschiedenen Konflikten zu fliehen und an anderen Orten neu anzufangen.
    "Mögen Widad, Alia und Mustafa Schüsse mit angehört und den Krieg erlebt haben, so sind sie doch durch die Rüstung des Reichtums davor geschützt geblieben. Das unterscheidet die Familie von den Flüchtlingen in den Lagern rings um den Stadtrand von Nablus. Als Kind hielt Salma immer die Luft an, um das Unglück abzuwehren, und sie tut es noch heute, wenn sie dort vorbeifahren muss."
    Das Trauma der Vertreibung wird vererbt
    Es gelingt Salma nicht, das Unglück abzuwehren: Ihr Sohn Mustafa, der sich der neu gegründeten PLO anschließt, wird von Israelis getötet. Ein weiteres traumatisches Erlebnis, über das nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Nach dem Sechs-Tage-Krieg verlässt die Familie Palästina endgültig Richtung Kuwait.
    Hala Alyan erzählt von fünf Generationen der Familie Yacoub und davon, wie das Trauma der Vertreibung aus Palästina sich vererbt und in jeder weiteren Generation verändert. Hinzu kommen neue Kriegserfahrungen, denn die Familie von Salmas Tochter Alia wiederum muss vor dem Golfkrieg aus Kuwait fliehen. Am Schluss ist die Familie Yacoub auf der halben Welt verstreut, ihre Mitglieder leben in Beirut, Amman, Kuwait und Boston. Als Salmas Urenkelin Manar einen Amerikaner heiratet, ist die Familie entsetzt, denn allen Ortswechseln zum Trotz ist man doch bislang "unter sich" geblieben, also: unter Arabern. "Häuser aus Sand" ist damit eine Art palästinensische Buddenbrooks des ausgehenden 20. Jahrhunderts, ein großer Familienroman, der zwar nicht vom Ende, aber doch von radikalen Veränderungen in der Familie Yacoub erzählt.
    Unterschiedliche Blickwinkel auf das Familienleben
    Hala Alyan wählt den dramaturgisch geschickten Kniff, in jedem Kapitel eine andere Figur sprechen zu lassen, meist Frauenfiguren, und chronologisch einige Jahre voranzuschreiten. So verfolgt man die Entwicklung der Familie aus der Nähe, lernt durch die Perspektivwechsel aber auch die unterschiedlichen Blickwinkel kennen.
    Salmas Tochter Alia zum Beispiel hat Palästina mit ihrem Mann Richtung Kuwait verlassen. Während er das gut strukturierte Leben dort genießt, hat es für sie etwas von Friedhofsruhe:
    "Nach Amman. Zu ihrer Mutter, ihren Tanten, den Cousinen und Jugendfreunden, die nach dem Krieg dorthin gezogen sind. Schlicht und klar wie ein Regenschauer ist ihr die Idee erschienen. Sie müssen nach Amman gehen, anstatt in diesem Ödland Kuwait zu bleiben mit seinen endlosen heißen Nachmittagen vor dem Fernseher."
    Wonach sich Alia sehnt, das wird eine Generation später wiederum für ihre Tochter Riham zur Qual, wenn die Familie die Sommer bei der Verwandtschaft in Amman verbringt:
    "Es ist der Lärm, das unablässige Geschrei, vor dem es kein Entrinnen gibt. Zu Hause in Kuwait hat Riham ein Eckzimmer voller Bücher, in dem sie Priyas Hantieren in der Küche oder die Gespräche ihrer Eltern und alle anderen Geräusche schon aufgrund der Distanz nur gedämpft hört. Hier dagegen ist der Lärm wie ein zusätzlicher Mitbewohner."
    Die Generationen in Alyans Roman trennt bei weitem nicht nur das Alter, sondern aufgrund der vielen Ortswechsel bilden sich auch kulturelle Gräben zwischen ihnen.
    Genaue Beschreibungen der Szenen und Figuren
    Hala Alyans Interesse gilt der Familienchronik. Sie vernachlässigt darüber jedoch nicht die genaue Schilderung der einzelnen Figuren und Situationen. Einige Motive kehren immer wieder: In allen Generationen blicken die Frauen verständnislos auf ihre sich immer freizügiger kleidenden Töchter. Diese Wiederholungen sind aber nicht redundant, denn Hala Alyan beschreibt sehr genau die Details der Szenen, das Spezifische der Figuren und die Probleme ihrer jeweiligen Generation.
    "Eine nie ganz verschorfte Wunde", das ist Palästina für Salmas Enkel, die vom Land ihrer Vorfahren bisher nur gehört haben. Die Urenkelin Manar, die in den USA lebt, drängt es am Schluss des Romans ins Land ihrer Vorfahren:
    "Ihre quälende Sehnsucht nach Palästina war stets ein eher vages Gefühl, an dem sie ihre ganze Unzufriedenheit aufhängen konnte. Jetzt ist Palästina plötzlich real. Es ist voller Menschen mit dem gleichen Haar und der gleichen Stimme wie sie; diese Menschen leben tatsächlich hier, stellt sie leicht dümmlich fest. Sie wachen unter dieser Sonne auf, feiern Geburts- und Hochzeitstage, gehen auf Beerdigungen und sehen immer mehr Siedlungen und Checkpoints entstehen. Während sie mit amerikanischen Jungs schlief und Seminararbeiten über die Diaspora schrieb, lebten hier Menschen, die tatsächlich Palästinenser waren."
    Manar erlebt die Reise nach Palästina schließlich als eine Art Heilung der familiären "Wunde". Hala Alyan hat mit "Häuser aus Sand" einen eindrucksvollen Roman über die Fragilität von Lebensläufen in Kriegszeiten geschrieben und darüber, wie zurückliegende Traumata noch in späteren Generationen nachwirken.
    Hala Alyan: "Häuser aus Sand"
    aus dem Englischen von Michaela Grabinger
    DuMont Buchverlag, Köln, 396 Seiten, 24 Euro