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Halsstarriger Streiter in Sachen Vernunft

Rund 40 Jahre liegen zwischen dem Entstehungsdatum der beiden Bücher "Die molussische Katakombe" und "Die Kirschenschlacht". In beiden wird deutlich, warum sich Günther Anders stets als "einsamer Rufer in der Wüste" verstand, als Warner vor einer totalitären Bedrohung.

Von Astrid Nettling |
    "Wir haben, auch wenn wir keine Hoffnung haben, uns so zu benehmen, als wenn wir ein Recht auf Hoffnung hätten. Ich habe gar keine Hoffnung, aber ich habe mein Leben der Sache gewidmet. Denn vielleicht ist eine Chance da, und wem ist geschadet, wenn die Welt ohnehin untergeht, wenn ich auch versucht habe, meinen Beitrag zu einer Rettung beizutragen."

    Günther Anders 1992, wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag, wenige Wochen, bevor sein Roman "Die molussische Katakombe" mit 60 Jahren Verspätung das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Anfang der 30er Jahre, noch vor der Machtergreifung Hitlers geschrieben, war der Roman des knapp Dreißigjährigen als Warnung gedacht vor dem heraufziehenden Nationalsozialismus, dessen totalitäre Bedrohung Anders früh erkannt hatte. Ein "Beitrag zu einer Rettung", wenn man so will, bereits dies, obwohl Anders sein Weltuntergangsszenario mit Hiroshima und Nagasaki auf einem ganz anderen Schauplatz finden wird. "Die molussische Katakombe" spielt in einem totalitären Regime, dem fiktiven Land "Molussien". Erzählt wird die Geschichte von Gefangenen, die in einem unterirdischen Gefängnis, der Katakombe, leben und sich von einer Generation zur nächsten Geschichten, Fabeln und Maximen des Widerstands erzählen, solange bis die "für die Fortführung des Freiheitskampfes notwendigen Lehren" wieder ans Licht gelangen können.

    Der Roman setzt ein mit der dreizehnten Generation, die Protagonisten sind Olo, so heißt immer der Ältere, und Yegussa, so immer der Jüngere, der den Korpus von Geschichten auswendig zu lernen und ihn dann als Olo dem nächsten Yegussa weiterzugeben hat. Denn in hoffnungslos finsteren Zeiten, wenn oben am Tag der totale Lügen- und Verblendungszusammenhang herrscht, darf unten im Dunkel der Katakombe die erhellende Stimme der Vernunft nicht verstummen.

    Keine Sache verlangt heute, in der Zeit der allgemeinen Verhöhnung des Geistes, der organisierten Verdummungen, der kommandierten Vergötterungen, eine so tiefe und gleichzeitig so breite Durcharbeitung wie der Kampf gegen die Lüge für die Sache der Vernunft.

    Heißt es im Vorwort des fiktiven Herausgebers der "molussischen Dokumente", heißt es mit der Stimme des Autors selbst, für den Zeit seines Lebens ein solcher Einsatz für die Vernunft in einer Welt grassierender Unvernunft und Lüge die treibende Kraft des Denkens geblieben ist. In seinem frühen Werk wählt Anders dafür die literarischen Mittel der Fabel und Parabel, die, wie er seinen älteren Protagonisten Olo erklären lässt, Mikroskopen gleichen, die das, was das unbewaffnete Auge nicht erkennen könne, durch ihre Vergrößerung allererst wahrnehmbar machen. "Der Apparat", so Olo, "stellt richtig und macht handgreiflich sichtbar, was wir handgreiflich behandeln und bekämpfen wollen." Verbunden sind die gedanklich sehr verdichteten Fabeln und Parabeln durch Gespräche zwischen Olo und Yegussa, der in der Dunkelheit der Katakombe unter Anleitung des Älteren lernt, die molussische Wirklichkeit vermittels dieser 'Sehhilfen' zu durchschauen und denkerischen Widerstand zu leisten. Gewisse Ähnlichkeiten der Gespräche mit den Dialogen Platons nicht zuletzt in ihrem didaktischen Zuschnitt sind wohl kein Zufall, wie auch das 'Setting' des Romans selbst dem "Höhlengleichnis" aus Platons "Staat" nachempfunden ist – mit dezidiert anti-platonischer Tendenz versteht sich. Denn "wer herumsitzt und den Wahrheiten vertraut, weil sie ohnehin sind, der hat sie schon verscherzt." Ohne Ausblick auf eine metaphysische Ideenwahrheit bildet das Ganze bei Anders ein Lehrstück über die reale Aussichtslosigkeit von Wahrheit in einer Welt systematischer Lügen und geistiger Unfreiheit. So lernt Yegussa beispielsweise am 28. Tag seiner Gefangenschaft, was es in Wahrheit mit der sogenannten "freien Meinungsäußerung" auf sich hat.

    "Der Irrtum Deines Einwandes liegt darin", faßte Olo zusammen, "daß Du voraussetzt, jeder habe von sich aus seine eigene Meinung. Was unterdrückt werden könnte, sei einzig deren Äußerung. Aber was gewöhnlich unterdrückt wird, ist nicht die Äußerung der Meinung, sondern das Zustandekommen einer eigenen Meinung. Solange solche 'eigene Meinung' nicht existiert, braucht ihre Äußerung natürlich nicht unterdrückt zu werden – solange gibt es eben – 'freie Meinungsäußerung'". Yegussa war tief erstaunt.

    Gegen den beginnenden Nationalsozialismus verfasst, reicht die Stoßrichtung des Romans allerdings weiter. Nicht nur zielen seine Lehren gegen jede Spielart des ideologischen und politischen Totalitarismus, ebenso lassen sich Lehrstücke wie die über "Die Gedanken sind frei oder freie Äußerung unfreier Meinung" unschwer auf die von dem nachmaligen Technikphilosophen gleichfalls als totalitär diagnostizierte massenmediale Wirklichkeit von heute applizieren, deren erste Anfänge Anders in den 40er Jahren in den USA kennengelernt hat. Überhaupt werden bereits in diesem frühen Roman später ausgearbeitete Denkpositionen wie die über die "Apokalypseblindheit" des Menschen angesichts einer von ihm nicht mehr kontrollierbaren Technik parabelhaft vorweggenommen. Immer wieder hat Anders in seine philosophischen wie politischen Schriften Fabeln und Maximen aus der unveröffentlichten "Molussischen Katakombe" eingestreut – kleine Kassiber zur Rettung der Vernunft, selbst wenn für ihn der allgemeine Weltzustand keinerlei Anlass zur Hoffnung bietet.

    "Es wird nämlich", antwortete Olo salbungsvoll, "es wird nämlich Inseln geben nach dem Erdbeben, auf denen die Menschen weiterleben werden wie zuvor. Es wird Menschen geben, die auf den Trümmern ihrer Häuser weiterleben werden, als wäre nichts geschehen. Es stand aber ein großer Stern über den Dächern von Molussien. Und obwohl, wie ich wußte, der Stern längst zerstoben war, schien er doch noch mit goldener Kraft. Und da er so stark leuchtete, hielten ihn die Molussier für das goldhaltigste Gestirn am Firmamente; und waren ungeheuer betriebsam: Die Einen rechneten, die Anderen bastelten, die Dritten machten Experimente. Denn Alle dürsteten nach dem Golde des Gestirns. Das Skandalöseste war aber, daß die astronomischen Methoden und Instrumente der Molussier durchaus ausgereicht hätten, um festzustellen, daß das Gestirn ein bloßes Nachbild war. Aber ... was soll ich Dir sagen ... selbst die Astronomen bastelten mit."

    Als einsamer 'Rufer in der Wüste' hat Anders sich stets verstanden – von daher oftmals sein Predigerton, auch seine Rechthaberei, die es immer schon besser weiß als der Rest der Welt. Solche Geister aber sollte man zuweilen vor sich selbst schützen, zumal dann, wenn es persönlich wird wie in seinem bislang unveröffentlichten Erinnerungsbändchen "Die Kirschenschlacht – Dialoge mit Hannah Arendt", das auf Notizen beruht, die Anders kurz nach Arendts Tod, 1975, niedergeschrieben und 1984 in der vorliegenden Form fertiggestellt hat. Es handelt sich um die Rekonstruktion von Gesprächen, die das junge, frischverheiratete Philosophenpaar Ende der 20er Jahre in Drewitz bei Potsdam auf dem Balkon ihrer Wohnung beim Kirschenverlesen miteinander geführt hat. "Vermutlich mehr Dichtung als Wahrheit" räumt Anders in seinem Vorwort zwar ein und erklärt ebenso: "Da ich, wie in allen meinen philosophischen Dialogen – I can't help that – recht behalte, ist der Text zugestandenermaßen furchtbar unfair", aber vor allem ist er furchtbar peinlich. Denn die nachgestellten Gespräche geraten zu einer so fürchterlichen Schulmeisterei seinerseits, was den Part seiner damaligen Ehefrau zum großen Teil auf heftiges Kopfschütteln: "Was ich wegen der geschleuderten Haare sehr gerne sah" und Stirnrunzeln beschränkt: "Die steile Zornesfalte erschien prompt zwischen ihren Brauen", dass das Ganze – I can't help that – ins ungewollt Lächerliche und peinlich Misslungene kippt. Selbst wenn es von dem über Siebzigjährigen als eine späte Hommage auf das "gebildetste und gelehrteste Mädchen der Welt" gedacht war. 1976 hatte der Herausgeber des "Merkur" anlässlich eines Gedenkbandes für Hannah Arendt es vorgezogen, die knapp 50 Seiten zählende "Kirschenschlacht" nicht zu veröffentlichen. Möglicherweise um Anders die veröffentliche Peinlichkeit zu ersparen – sinnvoll jedenfalls wäre ein solcher Verzicht auch jetzt gewesen. Man muss schließlich nicht alles ans Licht der Öffentlichkeit bringen. Die Wiederveröffentlichung der "Molussischen Katakombe" dagegen – nunmehr 80 Jahre nach ihrem Entstehen – erweist sich als ein recht passendes Jubiläumsgeschenk für den halsstarrigen Streiter in Sachen Vernunft. Und hatte er nicht selbst in jenem Vorwort zu den "molussischen Dokumenten" darauf gepocht:

    Wie selten ist es, daß der Mensch für diese Sache enthusiastisch ist. Wo wir Dokumente finden, die diese Aufgabe enthusiastisch behandeln, mit dem beinahe religiösen Eifer des Häretikers, da haben wir zuzugreifen und sie vorzulegen.

    Günther Anders: Die molussische Katakombe
    C.H.Beck, München 2012, 493 Seiten, 39,95 Euro

    Günther Anders: Die Kirschenschlacht
    Dialoge mit Hannah Arendt
    C.H.Beck, München 2012, 143 Seiten, 16,00 Euro