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Hamburger Institut für Sozialforschung
Karriereschub eines angeschlagenen Konzepts

Nach dem Scheitern sozialistischer Experimente fehlen Alternativen zum Kapitalismus - zumal dieser seit der Finanzkrise 2008 an Aufwind gewonnen hat. Dabei entscheidet in dem System eine Minderheit, wohin sich die Wirtschaft entwickelt - und profitiert auch davon. Eine Vortragsreihe in Hamburg vertieft die Debatte.

Von Ursula Storost | 03.11.2016
    Auf einem Scrabble-Brett sind mit Buchstaben-Steinen die Begriffe "Kapitalismus" und "Macht" zusammengefügt, scheinbar wahllos im Hintergrund liegende Steine bilden das Wort "Geld".
    Bausteine des Kapitalismus - Dynamik und Fiktionen eines Wirtschaftssystems werden in der Vortragsreihe am Hamburger Institut für Sozialforschung diskutiert. (dpa / picture alliance / Hans Wiedl)
    Seit Karl Marx hat der Kapitalismus sich verändert. Um herauszufinden wie, haben Wissenschaftler des Hamburger Instituts für Sozialforschung nun eine Vortragsreihe über die "Bausteine des Kapitalismus" konzipiert. Bis zum Januar 2017 kann man dort sich noch über neue kapitalistische Dynamiken und Fiktionen informieren.

    Der Kapitalismus gleicht einem Chamäleon. Einmal in der Welt vermag er es, sich an neue Situationen anzupassen. Immer wieder findet er Schlupfwinkel und Ritzen, um sich in immer neuen Variationen breit zu machen, sagt Professor Jens Beckert, Direktor des Max Planck Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln.
    "Wenn wir die letzten zweihundert Jahre beobachten, dann können wir sehen, der Kapitalismus ist durch massive Krisen gegangen und hat sich immer irgendwie berappelt, mit neuen Formen. Er hat sich in diesen Krisen verändert."
    Professor Wolfgang Knöbl, Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat eine Vortragsreihe initiiert, die sich mit dieser Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus beschäftigt. Und der, sagt der Soziologe, scheint heute wieder ungezügelter zu agieren als vor zwanzig Jahren.
    "Klar ist für alle, dass in Teilen der Wirtschaftswissenschaften, in Teilen der Soziologie, in Teilen der Sozialwissenschaften auch die Frage sehr viel stärker im Mittelpunkt ist, inwieweit sich diese Dynamik des Kapitalismus noch einhegen lässt."
    Welche Möglichkeiten, fragen die Wissenschaftler, hätte z.B. der Staat, um den Kapitalismus zu begrenzen. Denn wenn man seiner Dynamik nicht Einhalt gebietet, steuern wir auf schwere gesellschaftliche Krisen zu, sagt Wolfgang Knöbl.
    "Wir sehen natürlich derzeit schon mit Sorge, wie dynamisch dieser Kapitalismus gerade auch im Hinblick auf seine Zerstörungswirkung ist. Zerstörungswirkung auf soziales Leben, auf den sozialen Zusammenhalt, auf Vernichtung von Vermögen, von verschiedenen Schichten."
    Die globale Ungleichheit hat in den letzten Jahren dramatisch zugenommen, konstatiert der Soziologe Dr. Aaron Sahr vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Schuld daran sei die ökonomische Entwicklung, vor allem die sogenannte Finanzialisierung. Das heißt, heute nähmen die Finanzmärkte einen immer größeren Raum in unserem Wirtschaftssystem ein.
    "Wir sind es gewohnt, klar zu unterschieden ob ein Unternehmen ein Finanzunternehmen ist oder ein Realwirtschaftsunternehmen. Banken sind klar Finanzunternehmen. Und ein Automobilproduzent ist klar ein Realwirtschaftsunternehmen. Diese Unterscheidung lässt sich heute aber nicht mehr so klar treffen, weil auch die Realwirtschaftsunternehmen immer mehr Einnahmen darüber investieren, dass sie als Finanzfirmen tätig sind."
    Insofern, so Aaron Sahr, sei die Lehre von Karl Marx überholt. Denn seine in der Frühzeit der Industrialisierung entwickelte Theorie des Kapitalismus gründet auf einer Theorie der Arbeit.
    "Physische Arbeit spielt aber für die Wertschöpfungsprozesse der Gegenwart gar keine so große Rolle mehr. Das sehen sie allein daran, dass die Mehrheit der globalen Werte Finanzwerte sind. Und wie viele Finanzwerte es gibt, hat nichts damit zu tun, wie viel Arbeit sie hineinstecken."
    Ein zentrales Problem des gegenwärtigen Kapitalismus seien die privaten Banken. Sie könnten unreguliert jeden beliebigen Geldbetrag, den sie für ihre Investitionen bräuchten, einfach erzeugen. Auch dieses Geldschöpfungsprivileg verursache soziale Ungleichheit.
    "Eben einfach dadurch, dass Banken in den letzten Jahren und Jahrzehnten vor allem Geld für Finanzinvestitionen geschaffen haben. Und dadurch das Geld für Investitionen in realwirtschaftliche Prozesse, die dann zu vermehrter Beschäftigung oder steigenden Löhnen geführt hätten, nicht vorgenommen haben."
    In die Abhängigkeit dieser Finanzunternehmen haben sich vor allem die südeuropäischen Staaten begeben, behauptet der Wirtschaftshistoriker Professor Alexander Nützenadel von der Humboldt Universität in Berlin. Mit dem Ergebnis:
    "In Italien und in Griechenland haben wir eine Wirtschaftskrise, die dazu geführt hat, dass die Länder zwanzig, dreißig Jahre zurückfallen in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Das muss man sich mal vorstellen. Wir haben massive Probleme in der Beschäftigung."
    Dass die Finanzmärkte immer mächtiger wurden, haben diese Staaten selbst zu verantworten. Zunehmende Staatsdefizite durch ein entwickeltes Sozialsystem und eine hohe Inflationsrate führten z.B. in Italien schon vor 30 Jahren dazu, dass der Staat sich bei privaten Banken verschuldete. Ein Teufelspakt, sagt Alexander Nützenadel.
    "Der Staat konnte sich eben immer weiter verschulden, weil er diese finanziellen Möglichkeiten hatte. Und wenn es die nicht gegeben hätte, hätte er viel früher sagen müssen, so, wir müssen eine andere Lösung finden. Wir müssen einen anderen Weg gehen. Das hat eine Fehlentwicklung verstärkt, die sehr, sehr schlecht ist für diese Länder."
    Eine Folge ist, dass die Dynamik des kapitalistischen Wirtschaftssystems heute im Wesentlichen von den Finanzmärkten und nicht mehr von den traditionellen Wirtschaftsunternehmen ausgeht.
    "Es führt dazu, dass der Staat im Grunde sich der Finanzmärkte bedient hat und jetzt den Pakt auch nicht mehr lösen kann. Das bedeutet, dass er natürlich an Autonomie eingebüßt hat, dass die Möglichkeit das eigene System, die eigene Gesellschaft, das eigene Wirtschaftssystem noch selbstständig zu steuern sehr viel geringer ist als das vielleicht wünschenswert wäre."
    Die Finanzialisierung macht selbst vor den Sozialsystemen nicht mehr Halt, ergänzt Dr. Lisa Knoll, Wirtschaftssoziologin an der Universität Hamburg.
    "Wir können ja feststellen, dass seit den 70er Jahren der Zusammenhang zwischen sozialer Wohlfahrt und ökonomischer Prosperität auseinanderklafft. Wirtschaftliche Akteure fangen nun an darüber nachzudenken, wie man eigentlich innerhalb des bestehenden Systems die Wohlfahrtsproblematik lösen kann. Und da entstehen einige spannende Neuerungen mit weitreichenden Folgen."
    In England und den USA ist solche sogenannte Vermarktlichung des Sozialwesens bereits Wirklichkeit. Die Finanzwirtschaft geht in Vorleistung, um Sozialprojekte unterschiedlicher Art zu finanzieren. Sie investiert z.B. in eine Einrichtung, die eine möglichst geringe Rückfallquote von Häftlingen verspricht. Und schließt darüber mit dem Staat einen Vertrag.
    "In diesem Vertrag wird festgelegt, dass ab einer bestimmten Erfolgsquote, einer erreichten sozialen Wirkung, dem Investor ein finanzieller Rückfluss plus Zinsen vom Wohlfahrtsstaat aus Steuergeldern finanziert zugesprochen wird."
    Gezahlt und verdient wird bei Erfolg. Risikopraktiken aus der Finanzwirtschaft werden so übertragen auf die Wohlfahrt.
    "Im Grunde wird das Prinzip umgedreht. Also die Idee, dass man als Staatsbürgerin Rechte hat auf soziale Versorgung. Versorgung im Alter, Ansprüche auf Kitaplätze usw. Das klassische Wohlfahrtsmodell."
    Dabei, sagt Lisa Knoll, könne man durchaus auch zu anderen, klassischen Mitteln greifen, wenn der unterfinanzierte Staatshaushalt auf Anlage suchendes Kapital trifft.
    "Nämlich der Besteuerung dieser Gelder, die da frei flottieren. Und nach Investitionsmöglichkeiten suchen."
    Eine Eigenschaft des modernen Kapitalismus sei es, auf Geschichten und Gerüchte zu vertrauen anstatt auf rationale Überlegungen, so Jens Beckert vom Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Fiktionale Erwartungen seien der Motor für kapitalistische Dynamik,
    "Alles Handeln in der kapitalistischen Ökonomie ist auf die Zukunft ausgerichtet. Und gleichzeitig kann man nicht wissen, welche Produktideen letztendlich erfolgreich sein werden. Sie müssen also immer in eine ungewisse Zukunft hinein handeln. Und diese ungewisse Zukunft, die wird genau besetzt durch das, was ich als fiktionale Erwartungen bezeichne."
    Wann immer sich Gerüchte über steigende Immobilienpreise verbreiten oder Investments im Sozialbereich als das große Geschäft der Zukunft gehandelt werden, immer werden Erwartungen geweckt. Die Finanzwelt horcht auf und investiert. Dieser Glaube an Geschichten, sagt Jens Beckert, macht den modernen Kapitalismus aber gleichzeitig äußerst krisenanfällig und fragil.
    "Er ist entstanden seit dem späten 18. Jahrhundert. Und alle historischen Formen haben irgendwann auch ein Ende. Nur wann das sein wird, das kann, glaub ich, niemand sagen."