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Hannah Dübgens zweiter Roman
Perspektiven auf das Neue

Hannah Dübgen ist eine Autorin, die sich in ihren Büchern mit den Veränderungen der globalisierten Welt beschäftigt. In ihrem zweiten Roman "Über Land" erzählt sie von der Freundschaft zweier Frauen vor dem Hintergrund einer Flüchtlingsgeschichte - und nicht zuletzt von Menschen, die es allesamt sehr gut meinen.

Von Christoph Schröder | 07.11.2016
    Die Schriftstellerin Hannah Dübgen
    Die Schriftstellerin Hannah Dübgen (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    An einem Vormittag in Berlin kommt es zu einem eigentlich recht harmlosen Unfall: Eine Frau springt in einer Seitenstraße der jungen Ärztin Clara vor das Fahrrad. Doch als Clara sich um die offenbar nur leicht verletzte Frau kümmern will, läuft diese davon. Ein alltäglicher und banaler Zwischenfall. Aber Clara wird von dem Ereignis bis in die Nacht verfolgt.
    "Spät, kurz vor dem Einschlafen jedoch, als sie bereits im Bett liegt und das Licht ausgeschaltet ist, merkt Clara, dass sie das Bild der fliehenden Frau nicht loslässt."
    Hannah Dübgen ist eine Autorin, die sich in ihren Büchern mit den Veränderungen der globalisierten Welt beschäftigt. In ihrem Debütroman "Strom" zeigte sie anhand von vier Figuren, dass das geografische Zusammenrücken neue emotionale Lücken produziert. Und auch für "Über Land", ihren zweiten Roman, hat Dübgen ein aktuelles Thema gewählt, auch wenn das Buch im Jahr 2013 spielt.
    Kurzreferate auf recht überschaubarem literarischem Niveau
    Die Frau, die Clara angefahren hat, heißt Amal, ist 21 Jahre alt, kommt aus Bagdad und lebt in einem Heim für Asylbewerber in Brandenburg. Der Roman ist abwechselnd und in harten Schnitten aus Claras und Amals Perspektive erzählt. Clara macht die junge Irakerin ausfindig und beginnt, sich um sie zu kümmern. Amal erzählt Clara ihre Geschichte. Und an diesem Punkt läuft "Über Land" aus gleich mehreren Gründen aus der Spur.
    Es ist Hannah Dübgen durchaus hoch anzurechnen, dass sie sich eines wichtigen Themas angenommen hat, ohne sich zwanghaft an tagesaktuelles Geschehen heranschmeißen zu wollen. Doch dadurch, dass sie zum einen die langsam entstehende Freundschaft zweier Menschen mit komplett unterschiedlichen Voraussetzungen erzählt, andererseits aber auch die Fluchtgeschichte Amals und deren historische Hintergründe rekonstruiert, verlässt "Über Land" streckenweise den Boden des literarischen Erzählens. Stattdessen ergeht der Roman sich in historischen Kurzreferaten auf recht überschaubarem literarischem Niveau.
    Nur selten bekommt man als Leser eine Ahnung von der permanenten psychischen Zwangslage, in der sich Amal, deren Vater als politischer Oppositioneller im Irak verschleppt wurde, auch in der vermeintlichen deutschen Sicherheit befindet.
    "Sie hatte sich entscheiden müssen, wem zu vertrauen war: Der Wahrheit und nichts anderem als der Wahrheit, oder den jungen Leuten von der Asylberatung des Flüchtlingsrats, die ihr erklärt hatten, wenn sie Asyl in Deutschland wolle, käme es nicht darauf an, in jedem Punkt bei der Wahrheit zu bleiben, sondern darauf, eine Geschichte zu erzählen, die ihren Fall 'systemfähig' und 'Dublin-sicher' mache."
    Gut Gemeint ist nicht immer auch gut
    Die etwas unbeholfene Darstellung der Frauenfreundschaft ist nur das kleinere Problem in "Über Land". Viel gravierender ist etwas anderes: Alle Menschen in diesem Buch sind so unglaublich gut. So freundlich, so empathisch, so rücksichtsvoll, politisch korrekt und kommunikationsbereit. Immer auf der Hut, den anderen nicht zu verletzen. Wenn Hannah Dübgen tatsächlich einen Ausschnitt aus der Realität hat einfangen wollen, so scheitert dieser Versuch vor allem daran, dass es im Gegensatz zum wirklichen Leben hier nicht einen Ansatz von sozialer Reibungsfläche gibt. Drastisch gesagt: Man würde sich wünschen, dass da mal ein echter Schlechtmensch um die Ecke käme. So aber bleiben die Figuren flach und blass.
    Das gilt auch für Tarun, Claras Freund. Der ist ein in Bengalen geborener Architekt, der nun in Haora, einer Stadt nahe Kolkata, das früher "Kalkutta" hieß, seinen ersten selbst entworfenen Großauftrag abwickelt – einen Turm, in dem unterprivilegierte Landarbeiter ein Zuhause finden sollen. Das passt ins Bild. Und spätestens, wenn Clara in leitartikelhaften Floskeln über ihre Beziehung nachdenkt, landet "Über Land" hart am Rande des Kitsches:
    "Denn auch wenn Tarun für seine Freiheit sicherlich mehr hat kämpfen müssen, hatten sie bereits in ihrem ersten, längeren Gespräch ihre Liebe zur Freiheit im Anderen wiedergefunden, hatten im Anderen die eigene, wilde Leidenschaft für das berauschende Gefühl gespürt, sich in der Fremde frei und neu, selbstbestimmt entwerfen zu können."
    Sicher, es ist zu ahnen, dass es Hannah Dübgen in "Über Land" um Perspektiven auf das Neue, Unvertraute geht. Um Identitätsbildung und Sicherheitsverlust. Und natürlich auch um die Bereitschaft, Bedürftigen zu helfen. Davon kann es nicht genug geben. Doch hinter der allzu statischen Erzählkonstruktion erkennt man eben allzu oft die Absicht – und ist verstimmt. So wird "Über Land" zu einem schlagenden Beweis dafür, dass das gut Gemeinte in der Kunst nicht immer auch gut ist.
    Hannah Dübgen: "Über Land"
    Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2016
    270 Seiten, 20 Euro