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Hannes Bajohr: "Halbzeug"
Der Automatengedichtautomat

Die Gedichte des Konzeptpoeten Hannes Bajohr entstehen nicht nur am Computer. Für seinen Lyrikband "Halbzeug" macht der promovierte Literaturwissenschaftler die technischen Möglichkeiten zur Bedingung seines Schreibens. Das ist nicht nur witzig und raffiniert. Bajohrs Gedichte wirken auch unmittelbar.

Von Miriam Zeh | 18.07.2018
    Buchcover "Halbzeug" Hannes Bajohr und im Hintergrund "Künstliche Intelligenz"
    "Halbzeug" - aus recycelten Texten entsteht Poesie (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Hintergrund: imago stock&people)
    Hannes Bajohr hat ein Buch geschrieben. Er hat aber auch ein Buch schreiben lassen. Denn die Gedichte in Bajohrs Lyrikband "Halbzeug" sind allesamt maschinell erzeugt worden. Mit vier unterschiedlichen Automatismen bearbeitet der Autor online verfügbare Textkorpora. Er lässt sie durchsuchen, neu ordnen, übersetzen und ersetzen. Diese vier Operationen gliedern Bajohrs Gedichtband in vier Teile.
    Im ersten finden sich Korpusgedichte. Gigantische Textmengen werden hier nach bestimmten Wörtern oder Wortfolgen durchsucht - ein typisches Verfahren des sogenannten Distant Reading. Als literaturwissenschaftliche Methode soll die Korpusanalyse charakteristische Züge eines Textes oder eines Stils herauskristallisieren. Bajohr nutzt das Analysetool nicht wissenschaftlich, sondern literarisch. Was in der digitalen Literaturwissenschaft nur ein Zwischenergebnis darstellen würde, poetisiert er zum Endprodukt. Die Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen etwa lässt er nach den häufigsten Vier-Wort-Folgen durchsuchen. Die Ergebnisse listet er in dem Gedicht "Es trug sich zu" nach der Häufigkeit ihres Auftretens.
    es war einmal ein / in die höhe und / in den wald und / es trug sich zu / hinaus in den wald / trug sich zu dass / in den wald hinein / und fing an zu / sich auf den weg / an zu weinen und / es dauerte nicht lange / nicht lange so kam
    Arbeit und Code
    Selbst in diesen oberflächlichen Sprachstrukturen haben sich die Gattungsmerkmale des Märchens eingegraben: seine spezifische Repetitivität, seine Formelhaftigkeit und sein typischer Verlauf. Außerdem produziert das Gedicht selbst wiederum ein Wissen, das interpretiert werden will. So steht die Vier-Wort-Folge "es war einmal ein" an erster Stelle. Sie kommt also am häufigsten vor. Die Wendung "es war einmal eine" steht dagegen erst in der 19. Zeile des Gedichts.
    Diese Ergebnisse hat Bajohr allenfalls erahnen, nicht jedoch im Detail vorhersagen können. Denn bei dieser algorithmusgestützen Textproduktion gibt der Autor die Kontrolle über seinen Schreibprozess streckenweise ab.
    Das wird besonders in den Gedichten im zweiten Teil des Bandes deutlich, die durch Zufallsoperationen erzeugt wurden. Die Quelltexte, eine Rede des konservativen Politikers und ehemaligen BDI-Präsidenten Hans-Olaf Henkel etwa, jagt Bajohr durch seinen Automatengedichtautomaten. Das Programm arrangiert die einzelnen Wörter des Ausgangstextes neu. Der Autor fertigt in diesem dichterischen Verfahren also lediglich das Werkzeug. Der Automat verrichtet die Arbeit dann von allein.
    Im dritten Teil von "Halbzeug" übersetzt Bajohr Bild in Text und Text in Ton. Dafür öffnet er zum Beispiel Eugen Gomringers Gedicht "schweigen" als Text- und Bilddatei absichtlich mit einer Sound-Software, die daraufhin unleserlichen Quellcode ausspuckt.
    Im letzten Teil des Gedichtbandes lässt Bajohr kanonische Gedichte der Nachkriegszeit mit der Microsoft-Word-Synonymsuche Wort für Wort ersetzen. So wird aus Hans Magnus Enzensbergers Gedicht "Ins Lesebuch für die Oberstufe" das semantische Äquivalent "In den Reader für das Eleventum".
    Das Digitale als Experimentierfeld
    Hannes Bajohr produziert in allen vier Teilen seines Lyrikbandes digitale Literatur im zweifachen Sinne. Denn Computer und Internet dienen ihm als Bedingungen und Instrumente des Schreibens zugleich. Einerseits werden die Gedichte in "Halbzeug" durch Computerprogramme erzeugt. Andererseits macht das Internet mit seinen digital zugänglichen Textmassen das Durchsuchen und Re-arrangieren der oft monströsen Datenkorpora erst möglich. Das Ergebnis dieses generativen Produktionsverfahrens, das Hannes Bajohr und sein Kollege Gregor Weichbrodt als "eskaliertes Schreibenlassen" bezeichnen, ist dabei selbst immer nur vorläufig. Wie jeder digital verfügbare Text jederzeit kopiert, appropriiert und verändert werden kann, sieht auch Bajohr selbst seine eigenen Gedichte wiederum als Ausgangspunkt für weitere Bearbeitungsoperationen. Der Titel des Lyrikbandes verweist darauf.
    "Die Poetik funktioniert nach dieser Metapher des Halbzeugs. Das Halbzeug ist ein Begriff aus der Industrieproduktion. Halbzeug ist etwas, das nicht mehr Rohstoff, aber noch nicht Endprodukt ist, also eine Rolle Stahlblech zum Beispiel. Und die Metapher funktioniert als Poetik eben so, dass der Text immer weiter verarbeitet werden kann. Natürlich ist Halbzeug als Buch in sich geschlossen, aber es kann zu jeder Zeit wieder zum Ausgangspunkt neuer Produktion werden. Es ist immer noch nur noch Halbzeug."
    So ist der Gedichtband "Halbzeug" zwar durch seine Materialität als Werk markiert, er stellt den Werkbegriff aber zugleich in Frage und verweist konzeptuell auf seine Offenheit. Und nicht nur das Werk, auch den Autor muss man bei dieser experimentellen Literatur anders denken als bei realistischer Prosa. Hannes Bajohr lässt zwar den Computer seine Texte schreiben und kann das Ergebnis seines Tuns damit nicht vollständig abschätzen. Der menschliche Faktor ist aus generativer Literatur jedoch nicht wegzudenken, ebenso wenig ein Konzept von Autorschaft. Schließlich muss es ein Mensch sein, der zu Beginn des dichterischen Prozesses ein Programm schreibt, es mit Korpusdaten und Suchbefehlen füttert. Außerdem ist am Ende des Produktionsprozesses ein Mensch nötig, der ein Auswahl an gelungenen Gedichten bestimmt und sie unter Berücksichtig einer übergeordneten Werkidee zur Veröffentlichung bringt. Kreativität, Können und Handwerk sind damit auch für das Schreibenlassen von Gedichten entscheidend. Die Vorstellung von einem Autor als alleinigem Genie allerdings wird abgelöst. Nicht allmächtig verfügt der Dichter über seinen Text, sondern im stetigen Austausch mit den Daten und den Möglichkeiten einer Maschine.
    "Der Autor oder die Autorin ist nicht mehr der Garant für literarische Qualität. Nicht mehr das Authentische, das Selbsterlebte oder das biographisch Abgesicherte ist wichtig, sondern das Formulieren von Konzepten, von Regeln, von Anwendungsrezepten. Und in diesem Autorverhältnis oder Autorverständnis ist automatisch mehr Distanz drin. Das heißt, allein die Form, wie Literatur produziert wird, produziert ein anderes Autorbild, das eines ist, das Abstand nimmt und reflektiert, was dort passiert."
    Kein Algorithmus ohne Mensch
    Auch im Gedichtband "Halbzeug" wird reflektiert und erläutert, wie der Autor vorgegangen ist. Ein Appendix expliziert die Poetik des Bandes. Und auch auf jedes einzelne Gedicht folgt das ihm zugrundeliegende Konzept in eckigen Klammern. Nicht nur der verwendete Korpus wird darin genannt, sondern auch die jeweilige Operation, mit der ein Datenpool bearbeitet wurde. Das Nebeneinander von Theorie und Umsetzung hat in der konzeptuellen Avantgardenliteratur Tradition. In der generativen Literaturszene treten die meisten Produzenten auch als Theoretiker des Genres in Erscheinung.
    "Das hat einerseits natürlich etwas mit meinem persönlichen Werdegang zu tun. Ich habe Philosophie und Literaturwissenschaft studiert, insofern liegt das nahe. Andererseits ist diese Form von Literatur natürlich auch sehr theorieaffin. Und zwar ganz ähnlich wie die Konzeptkunst und die Gegenwartskunst überhaupt theorieaffin ist, weil man sich irgendwann von einem klassischen Modell des Erzählens oder einem klassischen Modell des Darstellens abgewandt hat. In der Kunst passiert das mit Duchamps, wo man sagt: Ich erkläre etwas zu Kunst. Das ist eine radikale Geste, die ist neu, die hat nichts mehr mit Darstellung von Wirklichkeit zu tun. Und in der konzeptuellen Literatur eben genauso: Ich erkläre diesen Text, der nicht von mir ist, den ich sozusagen geklaut habe oder appropriiert habe, zu Literatur. Und das ist eine Operation, die reflexiv ist und für die ein gewisser Theoriehintergrund oder man kann auch einfacher sagen: eine Umstellung der Rezeptionserwartung notwendig ist."
    Raffiniert konzipiert und doch unmittelbar
    Es scheint schlüssig, dass zur Beurteilung von Bajohrs Lyrikband deshalb vor allem die Konzepte seiner Gedichte herangezogen werden. Sie sind raffiniert und gewitzt. Doch mehr als Humor und Neuartigkeit zeichnen Bajohrs Gedichte aus. Schließlich könnten die Ergebnisse dieser automatisierten Schreibverfahren auch mit dem originellsten Algorithmus unglaublich langweilig und unlesbar sein. Das sind sie bei Bajohr aber nicht und gerade hierin liegt das besondere Können des Autors. Wo die Werke des US-amerikanischen Konzeptpoeten Kenneth Goldsmith ins Uferlose und Unzumutbare ausarten, weiß Hannes Bajohr zu pointieren. Er schafft atmosphärische Dichte und einen unmittelbaren Ausdruck, der nicht nur über die Lektüre des Konzepts, sondern über die Lektüre des Texts transportiert wird.
    Für das Automatengedicht "Wendekorpus" hat Bajohr einen Datenpool aus 3,23 Millionen Einträgen bearbeitet. In dieser Textsammlung finden sich verschiedenste Gattungen, von Zeitungsartikel über Handzettel bis hin zu Gesprächs- und Sitzungsprotokollen, die sich alle mit der innerdeutschen Wende beschäftigen. Bajohr hat dieses Textkonvolut nach Sätzen von exakt sechs Wörtern Länge durchsucht, die mit dem Pronomen "wir" beginnen. Das alphabetisch sortierte Ergebnis ist eine entlarvende Appropriation von Zitaten. Indem es mit einfachsten Mitteln kopiert, montiert und wiedergibt, was längst gesagt worden ist, entsteht ein vielschichtiges Stimmungsbild der Wendezeit.
    wir atmen wieder, aber welche luft? / wir bedauern das nach wie vor / wir begründen heute unseren gemeinsamen staat / wir begrüßen ihn aus ganzem herzen / wir bekamen 30 sitze im rathaus / wir bekamen nicht einmal eine einladung / wir bekennen uns zu sozialistischem unternehmergeist / wir bekennen uns zu unserer friedenspflicht / wir bekommen täglich post zur eigentumsfrage / wir besitzen sie doch überhaupt nicht /
    Ein bedeutender Teil jeder digitalen Literatur erschließt sich nicht durch das Lesen, sondern durch das Nachdenken über sie. Bajohr gelingt es, seinen Gedichten darüber hinaus eine evidente sinnliche Dimension zu verleihen. Der Lyrikband "Halbzeug" ist damit eine Einladung zur Lektüre, zum Nachdenken – und zum Mitmachen.
    Bitte nachmachen
    "Also Halbzeug ist in gewisser Weise eine Aufforderung zum Mitmachen. Ich will nicht und das ist auch überhaupt nicht mein Anspruch, dass jetzt alle so schreiben. Ich habe auch nichts gegen das, was ich – neutral – konventionelle Literatur nenne, also Literatur, die eine gewisse Tradition hat, bestimmten Regeln folgt. Das halte ich überhaupt gar nicht für problematisch. Was ich mir wünsche ist einfach, dass mehr experimentiert wird, dass auch das Digitale als Experimentierfeld angenommen wird – gerade für die Literatur. Und dass diese merkwürdige etwas snobistische Ablehnung, die man immer noch antrifft, sich etwas verliert."
    Für alle, die Bajohrs Aufforderung zum Mitmachen folgen wollen, hat der Autor seinen Automatengedichtautomaten auf seiner Website frei zugänglich gemacht. Hier kann jeder die Maschine mit Text füttern, bestimmte Produktionsparameter festlegen und den Automaten losdichten lassen.
    Hannes Bajohr: "Halbzeug. Textverarbeitung", Suhrkamp, Berlin, 109 Seiten. 16 Euro