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Hans Ehlert / Armin Wagner (Hg.): Genosse General.

Kaum ein Bereich des gesellschaftlichen Lebens war in der DDR besser von der Außenwelt abgeschottet als der militärische. Nicht nur, dass jeder mittelbar wie unmittelbar mit der Nationalen Volksarmee in Beziehung stehende DDR-Bürger praktisch automatisch zum "Geheimnisträger" wurde - auch die Biographien führender DDR-Militärs waren bis zur Wende mehr oder weniger Verschlusssache - zumindest dann, wenn sie Brüche enthielten, die nicht ins offizielle Propagandabild passten.

Von Karl Wilhelm Fricke | 29.12.2003
    Ost-Berlin, Karl-Marx-Allee, 7. Oktober 1989. Punkt zehn Uhr: Beginn der Ehrenparade der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR zum vierzigsten Jahrestag der Staatsgründung. Hier ein Ton-Dokument aus dem Ost-Fernsehen:

    Der Kommandierende der Parade, Generaloberst Horst Stechbarth, Stellvertreter des Verteidigungsministers, Chef der Landstreitkräfte: 'Ehrenparade – stillgestanden! Achtung: Präsentiert das Gewehr! Zur Meldung die Augen links!’...

    Die Meldung nimmt Armeegeneral Heinz Kessler entgegen, der Minister für Nationale Verteidigung, der daraufhin die angetretenen Militärformationen begrüßt:

    Genossen Soldaten und Matrosen, Unteroffiziere und Maate, Genossen Fähnriche und Offiziere! Ich begrüße und beglückwünsche Sie zum vierzigsten Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik" – "Hurra, Hurra, Hurra"

    Das Zeremoniell ist seit Jahren dasselbe. Nach einer Meldung an den Generalsekretär der Staatspartei Erich Honecker auf der Ehrentribüne fährt der Minister im offenen Wagen die Front der Marschblöcke ab. Danach setzt sich das Defilee in Bewegung. Stechschritt ist befohlen. Den Fußtruppen folgen motorisierte Einheiten. Schützenpanzerwagen, Raketenwerfer, schwere Kampfpanzer, Haubitzen, Selbstfahrlafetten und anderes mehr. Die Militärparade hat historischen Charakter. Sie wird die letzte sein unter der Diktatur der SED. Und was Stechbarth und Kessler anbelangt – ihre Porträts finden sich selbstverständlich auch in dem Sammelband "Genosse General!" - "Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen", der hier zu rezensieren ist.

    Das Buch vereint Studien zu neunzehn Generalen und Admiralen aus über vierzig Jahren ostdeutscher Militärgeschichte. Dass zu ihren Biografien heute, im Jahre vierzehn der deutschen Einheit, überhaupt noch Neues, bislang Unbekanntes mitteilbar ist, erklärt sich aus der Manie zur Geheimhaltung und Verschleierung im Staat der SED. Auch und gerade die Lebensläufe führender Kader in den Streitkräften waren davon betroffen. Von prominenten Ausnahmen abgesehen, durften ihre Biografien bis zur friedlichen Revolution nur partiell oder gar nicht publik werden.

    In den Porträts ausgesuchter Generale und Admirale der Kasernierten Volkspolizei und der Nationalen Volksarmee, die 1956 aus der KVP hervorging, machen die Autoren, zumeist ausgewiesene Militärhistoriker, die Prototypen einer zentralen Funktionselite im Waffenrock exemplarisch. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Biografische Skizzen von fünf ehemaligen Offizieren und Generalen der Wehrmacht Adolf Hitlers, die sich dem Aufbau der DDR-Streitkräfte frühzeitig zur Verfügung stellten, machen den ersten Teil aus. Porträtiert werden die ehemaligen Generale Rudolf Bamler, Bernhard Bechler, Arno von Lenski, Vinzenz Müller und Heinz Bernhard Zorn.

    Die fraglos schillerndste Figur aus dieser Gruppe verkörperte seinerzeit Vinzenz Müller, dessen Porträt – wie übrigens auch das von Bernhard Bechler - aus der Feder von Thorsten Diedrich stammt. Offizier schon im Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik Vertrauter des Generals Kurt von Schleicher, Stabschef in der Wehrmacht Adolf Hitlers, zuletzt kommandierender General der 4. Armee, war er 1944 an der Ostfront im Kessel von Minsk, in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. Verblüffend schnell wechselte der Generalleutnant nun allerdings auch politisch die Seite, er trat dem antifaschistischen Bund Deutscher Offiziere bei und engagierte sich in der Front-Agitation der Roten Armee. Als Vinzenz Müller 1948 nach Berlin heimkehrte, begann er eine kurze Karriere als Politiker der National-Demokratischen Partei, einer DDR-Block-Partei. 1952 wurde er, ein hochbegabter Militär, als Stabschef der KVP und der NVA zur Aufrüstung der DDR herangezogen Nach rund sechs Jahren schied er aus dem Dienst aus. Politisch desillusioniert und von Krankheit heimgesucht, verübte der Generalleutnant a.D. 1961 Selbstmord. Die Herrschenden hatten ihn als Ihresgleichen nie anerkannt, sie waren ihm grundsätzlich mit Misstrauen begegnet, ungeachtet seiner militärfachlichen Verdienste.

    Sechs Altkommunisten, Klassenkämpfer von echtem Schrot und Korn, von der SED ihrer politischen Zuverlässigkeit wegen in militärische Schlüsselpositionen gehoben, werden im zweiten Teil des Buches vorgestellt. Die Rede ist von den Generalen Friedrich Dickel, Rudolf Dölling, Heinz Hoffmann, Willi Stoph und Kurt Wagner sowie von dem Admiral Waldemar Verner. Bis auf Stoph, den späteren DDR-Ministerpräsidenten, von Ulrich Mählert faktenreich porträtiert, dürften ihre Namen nur Insidern geläufig sein. Aus der Riege dieser Parteifunktionäre in Uniform, deren Kadergehorsam oft genug zum Kadavergehorsam verkam, ragt Heinz Hoffmann deutlich heraus. Als Chef des NVA-Hauptstabes zunächst Müllers Nachfolger, war er von 1960 bis zu seinem Tode 1985 Verteidigungsminister, zuletzt im Range eines Armeegenerals.

    Arbeiterkind, Maschinenschlosser, Genosse der KPD, Rot-Spanienkämpfer, Moskau-Kader, schwer verwundet und umwoben von Legenden: Hoffmann entsprach dem Ideal eines proletarischen Generals. Es wurde in der DDR einst so besungen:

    Gruß Barcelona / Gruß Madrid / Gruß Spaniens kühnen Taten
    Wir hielten stand im Ebrotal
    Brigade International
    Die Freiheit hat Soldaten
    Brigade International
    Die Freiheit hat Soldaten
    Brigade International
    So wahr im Wind die Rote Fahne fliegt
    Ich weiß, dass uns’re gute Sache siegt
    Im Feuer härtet sich der Stahl
    Und das war unser General
    Das war unser Genosse General.


    Hoffmanns Porträt schrieb Paul Heider, zu DDR-Zeiten Chef des Militärhistorischen Institutes der NVA. Er schuf ein gediegenes, kritisch differenzierendes, Hoffmanns Persönlichkeit würdigendes, aber keineswegs verklärendes Lebensbild.

    Gediegenheit ist ebenso für die im dritten Teil des Buches vereinten acht Porträts zu reklamieren. Von den Herausgebern werden sie der militärischen Aufbaugeneration zugeordnet, weil sie in Führungsfunktionen am Aufbau der Landstreitkräfte und der Grenztruppen, der Luftwaffe und der Volksmarine maßgeblich mitgewirkt haben. Für das Buch ausgesucht wurden Porträts der früheren Generale Heinz Kessler, Erich Peter, Fritz Peter, Wolfgang Reinhold, Horst Stechbarth und Fritz Streletz sowie der ehemaligen Admirale Wilhelm Ehm und Theodor Hoffmann.

    Aus diesem Kreis dürfte Fritz Streletz, dessen Porträt Armin Wagner verfasst hat, besonderes Interesse auf sich ziehen. Absolvent der sowjetischen Generalstabs-Akademie, zuletzt Vize-Verteidigungsminister und Chef des Hauptstabes der NVA im Range eines Generaloberst, unter Honecker in Personalunion zugleich Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, wird – wenn auch fachlich versiert - als Parteisoldat par excellence ausgewiesen. Ihm wäre Respekt zu zollen, gäbe es in seiner Vita nicht ein irritierendes Moment, das der Autor auf ein "offensichtliches Spezifikum einer sozialistischen Armee" zurückführt.

    Streletz konnte es nämlich mit seinem Gewissen und seiner militärischen Spitzenstellung durchaus vereinbaren, gleichzeitig als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit, Deckname "Birnbaum", zuzuarbeiten. Grob ausgedrückt, hat er seine Kameraden und Vorgesetzten bespitzelt, jedenfalls bis 1981. Er war zugleich graue Eminenz und Mielkes Mann im Verteidigungsministerium in Strausberg, wo er heute als Rentner lebt. Zu selbstkritischer Einsicht hat er auch nach seiner Verurteilung zu fünfeinhalb Jahren Freiheitsstrafe wegen seiner Mitverantwortung für die Todesschüsse an Mauer und Stacheldraht nicht gefunden. Streletz verhält sich in dieser Hinsicht wie viele Seinesgleichen. Kommentar der Herausgeber:

    Die große Mehrheit der NVA-Offiziere – nicht nur der Generale – nimmt für sich bis heute in Anspruch, einem Staat mit der in der deutschen Geschichte besten Sozialidee und einer 'antimilitaristischen’ Friedenspolitik gedient zu haben. Was bei einem Subalternoffizier noch ehrliche Überzeugung gewesen sein mochte, konnte das Handeln führender Generale und Admirale jedoch nicht legitimieren. Als Teil der Militärelite der DDR haben sie gleich nach dem MfS in besonderer Weise Verantwortung für die repressive Dimension ihres Staatswesens getragen.

    Mit dem DDR-Sozialismus ist auch die NVA historisch gescheitert. Zu ihrer Parade am Morgen des 7. Oktober 1989 setzten Demonstranten am Abend des sogenannten Nationalfeiertages in Ost-Berlin am Alexanderplatz und in den anliegenden Straßen den politischen Kontrapunkt:

    Demokratie – jetzt oder nie! ... Freiheit für die Inhaftierten! ... Wir bleiben hier! ... Gorbi hilf uns! ... Keine Gewalt!

    Das Ende der DDR zeichnete sich ab - und mit ihm das Ende ihrer Streitkräfte. Mehrere Porträts reflektieren diesen Niedergang. Ein Anhang mit tabellarischen Übersichten und Statistiken, Organigrammen und einem Datengerüst zur Geschichte der Streitkräfte in der SBZ/DDR rundet den vorzüglich edierten Sammelband ab. Jeder biografischen Skizze ist ein Literatur- und Quellenverzeichnis beigegeben, das Wege zu weiteren Studien weist. Alles in allem eine rundum solide Edition.