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Hans Fallada: „Der eiserne Gustav“
Volksschriftsteller und Opportunist

Zuerst verlangten die Nazis von Hans Fallada einen anderen Schluss, später zensierten die DDR-Germanistik alle ideologisch unliebsamen Stellen des Romans: In der Veröffentlichungsgeschichte von „Der eiserne Gustav“, Falladas großem Epochenpanorama von 1938, spiegelt sich deutsche Geschichte.

Von Oliver Pfohlmann | 08.03.2020
Porträt des deutschen Schriftstellers Hans Fallada (1893-1947). | Verwendung weltweit
Porträt des deutschen Schriftstellers Hans Fallada (1893-1947) (Bifab 121906)
Der 29. Juli 1914 ist kein guter Tag. Nicht für die Welt, und auch nicht für Gustav Hackendahl. Denn just an dem Tag, an dem jeder über das Attentat von Sarajevo und seine möglichen Folgen spricht, geraten für Hans Falladas Titelfigur, den "eisernen Gustav", die Dinge außer Kontrolle. Zunächst zuhause, wo der Familienpatriarch feststellen muss, dass sein Lieblingssohn Erich die Haushaltskasse geplündert hat, um sein Lotterleben zu finanzieren. Mit dem Rest der sechsköpfigen Familie steht es kaum besser: Die eine Tochter, Sophie, packt, genervt vom ewigen Kasernenton des Vaters, ihre Sachen. Und die andere, Eva, geht mit ebenfalls daheim geklautem Geld shoppen – nur um einem Menschenschinder in die Arme zu laufen.
Aber auch beruflich gestaltet sich der Tag für den ‚eisernen Gustav‘ zu einem Debakel. Hackendahl, diese Verkörperung Wilhelminischer Werte, kommandiert auf den Berliner Straßen eine ganze Armada an Pferdedroschken. Und weigert sich, die neue benzingetriebene Konkurrenz ernst zu nehmen.
"Denn so wie Sie fährt eben doch keiner, Hackendahl! Immer pünktlich auf die Minute, und dann im schlanken Trabe durch, und dabei kein Gejachter mit Peitschengeknall und Gejohle, und vor allem nie Streit mit diesen neumodischen Automobilen!"
"I wo denn, Herr Kammergerichtsrat! Zu was denn Streit? Mit solchen Benzin-stinkern mache ich mich nicht gemein, Herr Kammergerichtsrat! Das sind doch alles bloß Todeskandidaten, und in zehn Jahren weiß kein Mensch mehr was von ihren Töfftöffs. Da ist die Mode vorbei. Die jagen, Herr Kammergerichtsrat, aber bloß, dass sie schneller in die Grube jagen…"
Auto schlägt Gaul
Das Wettrennen, das ihm an diesem Tag ein feixender Auto-Chauffeur rund um die Berliner Siegessäule aufzwingt, geht nicht gut aus. Denn das Gehupe des Gegners führt dazu, dass Hackendahls Pferd einfach durchgeht. Der Kutscher verliert einen Stammkunden und bekommt eine Verwarnung. Und sein geliebter Schimmel ist nicht mehr zu gebrauchen; er wird zu einem im Stall vor sich hin zitternden Kollateralschaden der Moderne. Der damit aber zugleich symbolisch all die traumatisierten Frontsoldaten ankündigt, die der Krieg bald produzieren wird. Von diesem Krieg erhofft sich Falladas Protagonist in zeittypischer Naivität ein reinigendes "Stahlbad" für die verweichlichte Friedensgeneration, sprich: seinen Nachwuchs.
"Der eiserne Gustav", so nannten sie ihn nur, in der Frankfurter Allee – unnachgiebig, stur, dickköpfig, aber auch aufrecht und untadelig. Spät in eine bürgerliche Welt verschlagen, die ihm zu weich vorkam, versuchte er, seinen Kindern die Grundsätze einzuimpfen, durch die er, wie er meinte, zum Erfolg gekommen war: Fleiß, Pflichtgefühl, unbedingte Rechtlichkeit, Unterordnung unter den Willen eines Höheren – heiße er nun Gott, Kaiser oder Gesetz."
Was für ein großartiger Beginn dieses Familienromans aus dem Jahr 1938! Dank einer Neuausgabe im Aufbau Verlag kann "Der eiserne Gustav" nun neu entdeckt werden. Denn erstmals erscheint dieser 800-Seiten-Wälzer nicht verstümmelt oder verfälscht, sondern in der von Hans Fallada intendierten Originalfassung. Am Schicksal einer gewöhnlichen Berliner Familie entfaltet das Werk das kulturelle und sozialpsychologische Panorama jener Zeit. In Alltagsszenen erzählt es deutsche Geschichte "von unten": die Illusionen des Bürgertums bei Kriegsausbruch, die Not der Kriegsjahre, das Chaos der Revolutionszeit und das Luxusleben der Spekulanten im Berlin der Zwanziger. Dabei besticht der Roman nicht nur durch seine scharf gezeichneten Figuren, präzisen Dialoge oder das breite Spektrum an Schauplätzen, vom Mietshaus über den Nachtklub bis zum Reichstag. Sondern auch durch seine polyperspektivische Anlage, die Lebensschicksale miteinander konfrontiert: Da steht etwa der Egoist Erich, der immer obenauf schwimmt, neben seinem idealistischen Bruder Heinz, der sich ins Heer der Arbeitslosen einreihen muss. Oder ihre Schwägerin, die bucklige Schneiderin Tutti, eine der für Fallada typischen starken Frauenfiguren, neben Eva, die in der Prostitution endet. In einer der eindringlichsten Szenen des Romans gibt Eva dem Vater die Schuld dafür, dass ihr der "schöne Eugen" mit Drohungen und Schlägen so schnell die Selbstachtung rauben konnte:
"Besinn dich, Evchen. Anständige Arbeit ist immer gut."
"Aber ich bin bei deiner anständigen Arbeit so geworden, wie ich jetzt bin! Glaubst du, der Eugen hätte mich so leicht gekriegt, wenn ich nicht bei euch so geworden wäre? Anständige Arbeit, jawohl, immer Pflicht und Gehorsam und Pünktlichkeit, aber das war ja alles gar nicht wahr, Vater!"
"Doch, doch, Mächen! Det sage nich! Ick habe anständig jearbeitet …"
"Und was hast du jetzt davon? Auf dem Bock sitzt du wie vor zwanzig Jahren, aber der Gaul, den du vor dir hattest, der war vor zwanzig Jahren besser! Und was noch kommt, das weißt du auch nicht. Alles hast du noch nicht hinter dir …"
"Nee, Evchen, det habe ick wirklich noch nich, da haste Recht. Det ick ’ne Tochter haben würde, dir mir sacht, ins Jesicht sacht, sie is lieber im Puff beim Luden als bei Vatern un Muttern – det hab ick nich jejlaubt!"
Nachkriegskarriere des Romans als Film
Bekannter als Hans Falladas Roman selbst dürften heute seine Verfilmungen sein, vor allem die erste mit Heinz Rühmann als eisernen Gustav aus den fünfziger Jahren. Bezeichnenderweise konzentrierte sich der Film fast ganz auf das, wovon der Roman erst nach über 700 Seiten vergleichsweise knapp erzählt, den historischen Aufhänger von Falladas Roman: die berühmte Fahrt des letzten Berliner Droschkenkutschers nach Paris von 1928. Für Gustav Hartmann, so hieß der echte "eiserne Gustav", wurde der Zeitungsrummel um seine Reise ebenso zur späten Genugtuung wie für sein Abbild im Roman. Falladas Titelheld kann in den Weimarer Jahren froh sein, wenn er wenigstens noch für ein Krankenhaus die Urinproben zum Labor transportieren darf. Äußerlich ist Falladas Droschkenkutscher zwar verarmt und hat fast alles verloren, doch hat er dafür aller demonstrativ behaupteten Unnachgiebigkeit zum Trotz sein Herz entdeckt. Umso berührender für den Leser daher sein später Triumphzug, als eindrucksvolle Gestalt im Alter mit blauem Kutschermantel und weißem Lackzylinder:
"In der Stadt Dortmund sind hundertfünfzigtausend Menschen zu seinem Empfange bereit (…) Was sehen sie in ihm, dass sie so begeistert sind, dass sie in der Stadt wie auf dem Lande zusammenströmen, ihn durchaus sehen wollen, alles herrlich finden, was er tut? (…)
Dieser alte Mann, aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gekommen, hat unendlich viel durchgemacht, Kriege, Siege, Niederlagen – eine endlose Zahl schwerster Niederlagen. Man muss nur in sein Gesicht sehen, dieses faltige Gesicht wie ein scholliger Acker, Jahr um Jahr säte neue Enttäuschung, schlimmere Niederlage, bitteres Entbehren ein. Aber die Augen sind hell geblieben, der Mund findet immer noch ein Witzwort. Alles, was geschah, hat ihn nicht weichschlagen können, er ist wahrhaft der eiserne Gustav, er hat das Hoffen nicht verlernt. Wenn neunundneunzig Dinge misslungen sind, kann das hundertste doch gelingen, wir fahren. Wir lachen – wir geben nie die Hoffnung auf. Wir können einzeln und als Volk – wohl einmal fallen, aber wir müssen nicht im Dreck liegenbleiben. Wir müssen uns darum nicht aufgeben, wir fahren doch weiter!"
Buchcover: Hans Fallada: „Der eiserne Gustav“ und als Hintergrund ein historisches Bild von Berlin Mitte mit dem Berliner Dom
Buchcover: Hans Fallada: „Der eiserne Gustav“ und als Hintergrund ein historisches Bild von Berlin Mitte mit dem Berliner Dom (Buchcover: Aufbau Verlag, Hintergrund: Imago / United Archives International)
Hitler las mit
Besorgt hat die verdienstvolle Neuausgabe die Fallada-Biografin Jenny Williams. Der editorische Clou ist natürlich die überzeugende Rekonstruktion des ursprünglich vorgesehenen Romanschlusses. Nicht zuletzt er sorge dafür, dass sich die im Roman erzählte Zeit erstmals in all ihrer "Komplexität und Widersprüchlichkeit farbig entfalten" könne, betont die irische Germanistin in ihrem Nachwort. Denn schließlich fehle in der Neuausgabe erstmals– Zitat– "keine Äußerung des Autors aus politischer Rücksichtnahme". Das stimmt – ist aber zugleich eine problematische, da allzu beschönigende Einschätzung dieses Werks. Warum, das hängt mit der schwierigen Entstehungsgeschichte des Romans zusammen und mehr noch mit dem Verhalten dieses Autors im Dritten Reich.
Rudolf Ditzen, wie Hans Fallada mit bürgerlichem Namen hieß, war zwar kein Sympathisant der Nazis. Doch fußte seine Gegnerschaft zum Regime mehr auf persönlichen Erlebnissen als auf politischen Überzeugungen. Zunächst nicht unmittelbar von Verfolgung betroffen, versuchte er sich in der NS-Zeit irgendwie durchzuwursteln, im Zweifelsfall mit einer gehörigen Portion Opportunismus. So trat Fallada in die Reichsschrifttumskammer ein und verwandelte für eine Volksausgabe seines Weltbestsellers "Kleiner Mann – was nun?" von 1932 einen SA-Schläger in einem Akt politischer Selbstzensur in einen Torwart. Im Vorwort seines "Blechnapf"-Romans machte er dann zum Entsetzen seines Verlegers Ernst Rowohlt sogar einen regelrechten Kniefall vor den neuen Machthabern.
Bei den Nazi-Rezensenten hatte Fallada dennoch einen schweren Stand. Aber er besaß einen prominenten Bewunderer: Joseph Goebbels. Der Reichspropagandaminister war es auch, der im Hintergrund die Fäden zog, als die Filmgesellschaft Tobis Fallada im November 1937 damit beauftragte, für ihren Star Emil Jannings eine Romanvorlage zu erstellen. Der notorische Schnellschreiber Fallada lieferte wenige Monate später zwar termingerecht ab. Doch endete seine Vorlage nicht, wie vereinbart, 1933 mit Hitlers Machtübernahme. Sondern schon kurz nach der Rückkehr Gustav Hackendahls aus Paris Ende der zwanziger Jahre. Falladas Hoffnung, die Nazis so aussparen zu können, war natürlich naiv; immerhin interessierte sich Hitler höchstpersönlich für dieses Filmprojekt. So kam es, wie es kommen musste: Goebbels verlangte einschlägige Änderungen, vor allem den Schluss betreffend.
"Das Drehbuch kam zurück, und ich kann es unter meinem Eid bezeugen, dass G.[oebbels] es wirklich gelesen hatte. Auf jeder Seite war uns vorgehalten das, was wir alle vergessen hatten, ich ganz besonders, auf jeder Seite war dick mit Bleistift hingeschmiert und mit ein, zwei, drei Ausrufungszeichen, manchmal auch mit einem Fragezeichen versehen das Wort: Juden!!!? / Jawohl, das hatten wir natürlich alle vergessen, dass seit eh und je die Juden an allem Schlechten in Deutschland die Schuld trugen, seit es Deutsche gab, und dass sie in einem repräsentativen deutschen Film unbedingt tragende Hauptrollen erhalten mussten. (Fallada, "In meinem fremden Land", Gefängnistagebuch 1944)
Als der frustrierte Autor die gewünschten Eingriffe parteinahen Schreiberlingen überlassen wollte, ließ Goebbels ihm lapidar ausrichten: "Wenn Fallada heute noch nicht weiß, wie er zur Partei steht, so weiß die Partei (, wie sie) zu Fallada steht!" So zumindest erinnerte später der Autor diese Ereignisse. Über seine Reaktion auf diese Ansage notierte er im Rückblick:
"Ich liebe nicht die hohe Geste vor Tyrannenthronen, mich sinnlos, niemandem zu nutzen, meinen Kindern zum Schaden abschlachten zu lassen, das liegt mir nicht; nach drei Minuten Überlegung nahm ich den Zusatz-Auftrag an. Was ich dann freilich mit mir zu Hause abzumachen hatte, das steht auf einem andern Blatt. Der Monat, durch den ich an diesen n.[ationalsozialistischen] Schwanz schrieb, steht mit schwarzer Tinte umrandet in meinem Kalender, die Welt kotzte mich an, ich mich selbst aber noch mehr. (Fallada, "In meinem fremden Land", Gefängnistagebuch 1944)"
Kampf um den Text: Göbbels gegen Rosenberg
Also schrieb Fallada einen Schluss, in dem ausgerechnet Heinz Hackendahl als SA-Mitglied neues Selbstbewusstsein gewinnt. Dabei ist Gustavs jüngster Sohn mit seinem Anstand und Idealismus doch der große Sympathieträger dieses Romans. Aber auch der Vater, eben noch ein gefeierter Held der Völkerverständigung, will den Nazis jetzt eine Chance geben. Dass aus dem Filmprojekt dann doch nichts wurde, lag folglich nicht am Autor. Es war Goebbels Parteikonkurrent Alfred Rosenberg, der sein Veto einlegte. Bezeichnend ist, wie sehr sich Fallada in seinem Gefängnistagebuch von 1944 darüber empörte, dass Goebbels für seinen willfährigen Schreiber keinen Finger krumm gemacht habe. Der Verdacht liegt nahe, dass sich seine Einstellung zu den Nazis womöglich gewandelt hätte, wäre er als Autor von ihnen mehr hofiert worden.
Dem heutigen Leser ruft der sogenannte "Nazi-Schwanz", mit dem der Roman 1938 gedruckt wurde, jedenfalls ein berühmtes Wort von Thomas Mann in Erinnerung. Demnach hafte allen im Dritten Reich gedruckten Büchern ein "Geruch von Blut und Schande" an. 1962 besorgte der DDR-Germanist Günter Caspar dann eine Nachkriegsausgabe, die den Nazi-Schluss wieder amputierte. Und mit ihm noch etliche weitere Romanpassagen dazu, die im SED-Staat als politisch anstößig hätten gelten können. Dabei ging es, wie Jenny Williams herausgefunden hat, vor allem um Falladas Darstellung der Novemberrevolution, etwa Erich Hackendahls Spott über die Rolle der aufständischen Matrosen.
"Die Matrosen? […] Diese Herren mit der nackten Brust bilden sich ein, sie haben die Revolution gemacht! Weil sie es nicht abwarten konnten? Weil sie eine Woche zu früh losgeschlagen haben? Die sind kein Problem, das sind alles Dummköpfe!" Er schnippte verächtlich mit den Fingern. "Ich war heute früh bei ihnen im Schloss! Wie das da aussieht! Saufen, plündern, huren […]."
Gestrichen wurden in der DDR aber auch etliche jener Passagen, die das Schicksal der Hackendahls mit dem des deutschen Volkes parallelisieren. Und in denen die deutsche Niederlage und die Folgen des Versailler Vertrags thematisiert werden. Eben hier wird es nun knifflig. Denn die Kritik, die Falladas Erzähler ein ums andere Mal am Umgang der Siegermächte mit dem geschlagenen Deutschland äußert oder an deutschen Politikern, die sich dem Willen der Sieger vorschnell unterworfen hätten, war eben doch etwas mehr als nur "komplex", wie die Herausgeberin Jenny Williams schreibt. Im Jahr 1938 waren solche politischen Einschätzungen vor allem eines, nämlich wunderbar kompatibel mit der herrschenden NS-Ideologie. So etwa, wenn im Roman Gustavs jüngster Sohn Heinz nach dem Krieg vorübergehend einer, Klischee genug, französischen Femme Fatale verfällt und der Erzähler Heinzʼ Demütigung mit den Worten kommentiert:
"Zur selben Stunde gab es Leute in Berlin, Männer in den deutschen Landen, Männer, älter als er, erfahrener als er, die konnten nicht laut genug schreien: »Deutschland trägt die Alleinschuld am Kriege! Deutschland hat den Krieg verloren! Der Besiegte muss sich unter das Joch des Siegers beugen, und dieses Joch muss schwer sein, denn unsere Schuld ist ungeheuer!« O nein, Heinz Hackendahl steht nicht allein mit seiner Schmach – er hat willige Gefährten, die Lust zu leiden ist eine weitverbreitete Krankheit in diesen Tagen!"
Innere Emigration und Selbstzweifel
Gewiss, vom Rassenwahn der Nazis ist im "Eisernen Gustav" nichts zu finden, und Gustavs Fahrt nach Paris steht ganz im Zeichen von Versöhnung mit dem einstigen "Erzfeind". Doch schon im Vorgängerroman "Wolf unter Wölfen" von 1937, Falladas erstem Erfolgstitel in der NS-Zeit, war es gerade die Kritik an den Verhältnissen in der Weimarer Republik gewesen, die dem Autor die Anerkennung der NS-Literaturkritik sicherte. Es ist offensichtlich, dass er eine ähnlich anpassungsbereite Erzählstrategie auch im "Eisernen Gustav" verfolgte. Und zwar nicht erst nach Goebbels später Intervention, sondern, wie die rekonstruierte Originalfassung belegt, von Anfang an. Da wird zum Beispiel im Roman die Familie als "Grundpfeiler vom Staat" bezeichnet, in einer Zeit, in der den Machthabern die Familie als "Keimzelle des Volkes" gilt. Und in einer Nebenfigur, Erichs mephistoartigen Mentor Dr. Meier, artikuliert sich etwas, das man als Falladaʼsche Version der Dolchstoßlegende bezeichnen könnte: Denn der korrupte, homosexuelle SPD-Reichstagsabgeordnete unterstützt den Krieg nur deshalb, damit die Niederlage am Ende umso größer ausfällt und die Sozialdemokraten an die Macht kommen. Endlich "frei von Konzessionen", wie die Herausgeberin Jenny Williams behauptet, ist ihre rekonstruierte Originalfassung also keineswegs.
1944, als der alkohol- und morphiumsüchtige Autor in einem NS-Gefängnis für "geisteskranke Kriminelle" einsaß, ließ er in seinem heimlich geführten Tagebuch seiner Verachtung für die ins Exil gegangenen Autorenkollegen freien Lauf. Und stilisierte im Gegenzug die in Nazi-Deutschland gebliebenen Schriftsteller, also auch sich selbst, zum "Salz der Erde":
"Und da sitzen Narren draußen im Auslande, sie sitzen recht bequem und gefahrlos und die beschimpfen uns als Konjunkturritter, als Söldlinge der Nazis – sie tadeln unsere Schwäche, unsere Tatenlosigkeit, unseren Mangel an Widerstandskraft! Aber wir haben es ertragen und sie nicht (…) (Fallada, "In meinem fremden Land", Gefängnistagebuch 1944)"
Unwissentlich nahm Hans Fallada damit bereits die Argumentationsfiguren der späteren Debatte um die sogenannte "Innere Emigration" vorweg. Doch in einem ehrlicheren Augenblick musste sich der Verfasser von "Kleiner Mann– was nun?" eben auch eingestehen, wie sehr er mit seiner Anpassungsbereitschaft sein Talent korrumpiert hatte:
"(…) wie habe ich mich im Schreiben meiner Bücher selbst ändern müssen! Ich konnte nicht mehr daran denken, die Bücher zu schreiben, die mir am Herzen lagen. Jede Schilderung dunklerer Gestalten war mir streng untersagt. Ich hatte optimistisch und lebensbejahend zu sein, grade in einer Zeit, die mit Verfolgungen, Martern und Hinrichtungen den Sinn des Lebens verneinte. So habe ich seit dem "Wolf" eigentlich nichts, was mir noch am Herzen läge geschrieben. Ich bin in die seichte Unterhaltung abgesackt. (Fallada, "In meinem fremden Land", Gefängnistagebuch 1944)"
So zeigt die nun erstmals zu lesende Originalfassung des "Eisernen Gustav" auf ebenso faszinierende wie lehrreiche Weise beides: den echten Hans Fallada, den großen Volksschriftsteller auf der einen Seite. Und den Opportunisten, der um des literarischen Erfolges willen die eigene Glaubwürdigkeit verspielte, auf der anderen.
Hans Fallada: "Der eiserne Gustav"
Urfassung des Romans
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jenny Williams
Aufbau Verlag, Berlin. 832 Seiten, 26 Euro.