Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Hans Joachim Schädlich: "Narrenleben"
Im Schatten der Macht

Hans Joachim Schädlich schafft Rätsel durch absolute Klarheit. In Büchern wie "Tallhover", "Schott" oder "Anders" erzählte er vom Konflikt zwischen Geist und Macht, vom Täuschen und Sich-Verstellen, vom Räderwerk der Geschichte. So auch in seinem neuen Roman "Narrenleben", der pessimistisch und trostreich zugleich ist.

Von Ulrich Rüdenauer | 06.05.2015
    Der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich.
    Der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich. (dpa / picture alliance / Carmen Jaspersen)
    "Wie konnte Fröhlich fröhlich sein.
    Er musste es. Es war sein Beruf."
    Joseph Fröhlich, geboren im Jahr 1694, ein gelernter Müller aus der Steiermark, lernt auf der Walz erste Zaubertricks, entdeckt sein Talent, die Menschen zu unterhalten. Diese Begabung fällt auf. Er wird zum "Hof-Taschenspieler" beim Markgrafen Georg Wilhelm in Bayreuth. Später verschlägt es ihn mitsamt Familie nach Sachsen, zu August dem Starken, bei dem er zum Lustigen Rat aufsteigt, ein angesehener, wohltätiger Mann. Fröhlich richtet sich als Hofnarr ein im Schatten der Macht, und das gar nicht so schlecht.
    Er hat Umgang mit Größen seiner Zeit, weiß zu gefallen, solange er sich seiner Position bewusst bleibt. Er wird zum Gegenstand etlicher Gemälde und Skulpturen, die man heute noch in Dresden bestaunen kann. An der Augustusbrücke bezieht er ein Wohnhaus, das im Volksmund "Narrenhäusl" genannt wird. Am Fürsten- und Königshof in Dresden lernt er die große, wenngleich noch überschaubare Welt kennen. August schart dort bedeutende Persönlichkeiten um sich, um selbst Bedeutung zu erlangen.
    "Künstler und Naturforscher von Rang wie die Baumeister Matthäus Daniel Pöppelmann, Johann Friedrich Karcher, Zacharias Longuelune, Johann Gottfried Fehre, Johann Christoph Knöffel, George Bähr, die Bildhauer Balthasar Permoser, Benjamin Thomae, Johann Joachim Kändler, Johann Christian Kirchner, der Juwelier Johann Melchior Dinglinger, der Forscher Johann Friedrich Böttger Walther von Tschirnhaus standen im Dienst des Dresdner Hofes.
    Sie ließen sich von August zu einzigartigen Leistungen anregen."
    Hans Joachim Schädlich erzählt chronologisch das Leben dieses Lustigen Rats nach, das gestreift wird von den historischen Geschehnissen der Epoche, beeinflusst von der Willkür der Mächtigen, geprägt von den Gepflogenheiten am Hof. Sein Einfluss auf August den Starken ist nicht gering – als Hofnarr darf er Kritik üben, und Fröhlich tut das ausgiebig, weil er seinen König liebt.
    Dennoch ist Schädlichs Buch auch ein ironisches Protokoll des Gleichmuts, ein Lebenslauf des Duldens, immer wieder durchbrochen von leisem Zweifel, der sich aber kaum formuliert. Schädlichs Prosa ist wie eh und je von einer außerordentlichen Zurückgenommenheit: sachlich, nüchtern, referierend. Zahlreiche Quellen, die im Anhang aufgelistet sind, wurden zu Rate gezogen. Alles ist so prägnant und pointiert wiedergegeben, dass man sich eine größere Verdichtung kaum vorstellen kann. 50 Jahre auf knapp 120 Seiten, dazu kommt noch der autobiographische Bericht eines Zeitgenossen von Joseph Fröhlich namens Peter Prosch, der sein eigenes Dasein in dem des Hof-Taschenspielers gespiegelt sieht – obwohl er, in viel stärkerem Maße, ein Spielball der Mächtigen ist, ohne feste Stellung von Hof zu Hof ziehen muss, die Gunst, die ihm erwiesen wird, teuer bezahlen muss.
    "Es wollte mir lange nicht in den Kopf, dass die Herrschaften freundlich zu mir sind und mir gleichzeitig üble Streiche spielen."
    Und er ahnt sehr wohl, dass er sich sein Auskommen durch die Demütigungen, die ihm wiederfahren, verdient:
    "Je mehr ich ertrage, desto größer ist mein Ertrag."
    Das ist die Quintessenz: Dass man sich einrichten muss in den Verhältnissen, dem Verhalten der Herrschenden ausgeliefert ist. Macht man sich zum Hofnarren, dann kann man sich zwar einige Dinge herausnehmen. Aber ändern lässt sich an den sozialen Hierarchien nichts, und für den Spott sorgt man am Ende niemals selbst. Das freilich gilt für feudale Zeiten ebenso wie für totalitäre und selbst noch für demokratische. Der kritische Akt besteht vielmehr darin, diese Ohnmacht zu erkennen und sich doch nicht dumm machen zu lassen – das ist die tiefere Erkenntnisschicht der Texte von Hans Joachim Schädlich.
    Aus diesen Texten ist mehr und mehr alles Laute, alles Spektakuläre, alles Schmückende herausdestilliert. Was bleibt, ist eine geradezu karge Chronik politischer und privater Ereignisse. Es sei besser, hat Schädlich einmal notiert, durch die Beschreibung der Sache Gefühle hervorzurufen als die Gefühle selbst zu beschreiben. Die Sache wird zum Fantasie- und Gefühlsgenerator; die ästhetische Erfahrung, die man dabei als Leser macht, ist erstaunlich: Die Reduktion erzeugt Fülle, die Konzentration pralles Leben. Fröhlich und Prosch kommen einem nahe, weil sie aus der Distanz betrachtet werden.
    Wie in anderen seiner Bücher steht auch hier das Verhältnis von Individuum und Geschichte, von Macht und Ohnmacht im Zentrum – gerade weil es von den Figuren kaum reflektiert wird und kaum reflektiert werden kann.
    In der Sprache wird das in einem Changieren zwischen personaler und Ich-Erzählung kenntlich, in einem fortwährenden Wechsel der Perspektiven, einem Schaukeln, einer Verschiebung, die eine Differenz des Blicks markiert. Wo Joseph Fröhlich aus sich heraus zu sprechen scheint, spricht letztlich ein der Epoche verhaftetes, in ein bestimmtes System verstricktes Bewusstsein, in dem manchmal Fragen zucken, die der Leser zumindest erspürt. Dagegen steht der Blick von außen auf die Zeit, die als unhintergehbare Abfolge von Geschehnissen geschildert wird.
    Bei Schädlich bleibt das alles ohne Interpretation. Die kleinen Szenen, Dialoge, Geschichtsskizzen stehen irritierend für sich. Es gibt aber nicht nur keine Interpretation, es gibt auch keine durch die Erzählung erzwungene Identifikation. Man muss erst einmal einen Autor finden, der seinem Leser so viel Freiraum zubilligt.
    Dennoch ist diese Prosa weder kühl noch einfach. Sie hat doppelte Böden und Ambivalenzen oder besser Falltüren. Denn in den geschilderten, exemplarischen Lebensläufen liegt eine tragische Zwangsläufigkeit, die, wenn man sie durchdenkt, kaum auszuhalten ist. "Narrenleben" führen eben nicht nur Hof-Taschenspieler; jede Biografie muss einem angesichts eines von den Zeitläuften determinierten Schicksals als Narrenleben erscheinen. Hans Joachim Schädlichs Prosa ist von großer Anteilnahme, größtem Pessimismus und trostreich zugleich.
    Hans Joachim Schädlich: "Narrenleben"
    Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg 2015. 175 Seiten. 17,95 Euro.