Freitag, 19. April 2024

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Hans Joas
Die Macht des Heiligen

Der europäische Säkularisierungsweg ist eine Ausnahme. Davon ist der Sozialphilosoph Hans Joas überzeugt. Dass vor allem Großstädte sich weitgehend säkularisieren würden, wie von Soziologen vorhergesagt, trifft fürs Gros der "heutigen Metropolen gerade nicht zu", sagte Joas im Dlf.

Hans Joas im Gespräch mit Andreas Main | 19.10.2017
    Der Sozialphilosoph Hans Joas steht an einem Pult und hält eine Rede.
    Welche Rolle spielt das Sakrale in den vermeintlich säkularen Großstädten unserer Tage? (imago / VIADATA)
    Der Soziologe Hans Joas, geboren 1948 in München, lebt überwiegend in Berlin. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet. Sein jüngstes Buch "Die Macht des Heiligen: Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung" ist im Oktober bei Suhrkamp erschienen.
    Andreas Main: Sein Wort findet Gehör. Als er vor einem Jahr ein kleines Büchlein veröffentlichte mit dem Titel "Kirche als Moralagentur?", saßen wir im selben Studio zusammen. Er sagte damals wörtlich: "Es darf nie so scheinen, als wäre die politische Linie der Kirchenführung selbstverständlich verpflichtend in irgendeinem Sinne für alle Mitglieder der Kirchen". Es war in den Monaten danach zu beobachten, dass jetzt Kirchenführer, die politisch gerne vorpreschen, sich etwas zurückhielten. Hans Joas' Worte wirken eher langfristig. Sie verändern etwas in den Denkern und Intellektuellen dieses Landes und weit darüber hinaus. Hans Joas ist Sozialphilosoph, ist Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Uni in Berlin sowie Professor für Soziologie an der Universität Chicago. Dort ist er in diesem Moment und deswegen zeichnen wir dieses Gespräch hier in unserem Berliner Studio auf. Guten Tag, Herr Joas.
    Hans Joas: Guten Tag, Herr Main.
    Main: Herr Joas, wir wollen über Ihr neues, soeben erschienenes, Buch sprechen - es hat den Titel "Die Macht des Heiligen: Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung". Herr Joas, ich sage das jetzt mit allem gebotenem Respekt, aber ich habe mich selten so schwer getan, ein Gespräch, wie wir es jetzt führen, vorzubereiten. Ahnen Sie, warum?
    Joas: Das Buch greift auf eine solche Fülle von Wissen über Religionsgeschichte zurück, dass ich mir gut vorstellen kann, dass die vielerlei Bezugnahmen manchen Leser auch verwirren.
    "Ist Religion etwas, was immer schwächer wird?"
    Main: Ich muss einfach in aller Demut feststellen, ich verstehe nicht die gesamte Tiefe Ihres Denkens. Auch wenn ich sicher bin, dass dieses Buch noch dann besprochen werden wird, wenn wir beide tot sind. Deswegen jetzt eine Frage, die es vielleicht den Hörern und Hörerinnen zugänglich macht: Versuchen Sie mal, einer 82-Jährigen ohne akademische Bildung oder einem 16-Jährigen zu erklären, warum dieses Buch wichtig ist?
    Joas: Ich würde damit anfangen, dass es in den letzten 20 Jahren eine Umstellung in den Vorstellungen über die Zukunft der Religion gegeben hat. Lange Zeit - und in vielen Köpfen natürlich auch heute noch - haben die Leute angenommen - und zwar Leute, ob sie nun gläubig sind oder nicht gläubig sind -, dass Religion etwas ist, was immer schwächer wird und vielleicht sogar zum völligen Verschwinden bestimmt ist. In den letzten 20 Jahren hat sich immer mehr die Auffassung durchgesetzt, dass das so einfach nicht zutrifft. Ich sage 'so einfach nicht', weil man natürlich nicht bestreiten kann, dass es etwa in Deutschland tatsächlich eine voranschreitende Schwächung von Religion gibt.
    Eine Kirche im Süden Manhattans zwischen Wolkenkratzern.
    Eine Kirche im Süden Manhattans zwischen Wolkenkratzern. (dpa)
    Aber man muss eben gleichzeitig ins Auge fassen, dass im Weltmaßstab gegenwärtig etwa das Christentum, auch der Islam, enorm wachsende Religionen sind. Also, immer mehr Christen und immer mehr Muslime existieren und in verschiedenen Ländern auch von einer Schwächung entsprechend gar keine Rede sein kann. Das ist nicht der eigentliche Gegenstand des Buches, aber ein Hintergrund für dieses Buch. Weil nämlich hinter dieser Behauptung von der fortschreitenden Schwächung der Religion - und der Fachbegriff dafür ist Säkularisierungsthese oder Säkularisierungstheorie - eine noch komplexere, einen viel größeren historischen Zeitraum betreffende andere These steckt. Und die nennt man die Entzauberungsthese.
    Das ist die Vorstellung, dass im Zeitalter der alttestamentlichen Propheten, also sagen wir ganz über den Daumen, vor zweieinhalb Jahrtausenden, ein Prozess eingesetzt hat, der als Vorbereitungsprozess dieser modernen Säkularisierung aufgefasst werden kann. Und ich stelle nun in diesem Buch die Vorstellungen über diesen langfristigen, religionshistorischen Prozess, in der jüdisch-christlichen Tradition, aber weit darüber hinaus, eigentlich in der Universalgeschichte der Religionen in Frage und versuche, eine alternative Geschichte zu erzählen.
    "Entmagisierung"
    Main: Das Stichwort "Entzauberung" kommt von Max Weber und hat Dutzende, Hunderte, Tausende von Denkern geprägt. Was verbirgt sich hinter diesem Kerngedanken der Entzauberung nach Max Weber?
    Joas: Das ist nun selber schon teilweise kontrovers, was sich genau dahinter verbirgt. Deshalb habe ich in einem mittleren Kapitel in dem Buch den Versuch unternommen, buchstäblich alle einzelnen Stellen, an denen der Max Weber von 'Entzauberung', 'entzaubern', 'entzaubert' oder irgendeiner Wortform hier spricht, einzeln, ganz genau mikroskopisch zu interpretieren. Weil ich zu dem Schluss gekommen bin, dass Max Weber den Begriff mit verschiedenen Bedeutungen auflädt. Und auch da geht es mir jetzt nicht etwa darum, Max Weber, der eigentlich ein begrifflich sehr klarer Autor ist, vorzuwerfen, er sei noch immer nicht begrifflich klar genug, sondern es geht mir darum, zu zeigen, dass man die verschiedenen Bedeutungen so auseinandernehmen kann, dass damit auch die suggestive Geschichte der Religion, die er erzählt, eigentlich zerfällt. Das muss ich jetzt natürlich vielleicht nur an einem der Bedeutungsmomente des Entzauberungsbegriffs veranschaulichen.
    Der Soziologe Max Weber
    Der Soziologe Max Weber (imago / ZUMA / Keystone)
    Bei Max Weber wird der Begriff zunächst einmal sicher in dem Sinne verwendet, den man als Entmagisierung bezeichnen könnte, also als Zurückdrängung von Magie, als Feindschaft gegenüber der Magie. Und Max Weber hat sicher Recht, dass die Propheten des Alten Testaments von Magie-Feindschaft geprägt sind. Dass es etwa ganz berühmte Stellen gibt, in denen Propheten sagen, natürlich jetzt gewissermaßen als Sprachrohr Gottes, "eure Brandopfer will ich nicht, ihr Geruch, der Geruch der Brandopfer stinkt in meiner Nase. Ich will vielmehr, dass Gerechtigkeit herrscht im Volk Israel".
    Das soll heißen: "Ich will nicht, dass Ihr glaubt, dass Ihr durch bestimmte Mittel", die wir jetzt mal magische Mittel nennen, "Zwang auf mich ausüben könntet, sodass ich dann tue, was Ihr wollt. Sondern ich habe euch bereits mitgeteilt, was ich will und Ihr könnt mich nicht ablenken davon, dass Ihr gegen das laufend verstoßt, indem Ihr mir irgendwelche Opfer darbringt". Also, Entmagisierung ist eine erste Bedeutungsschicht des Begriffs Entzauberung, aber es ist eben nicht die einzige.
    "Totale Entsakralisierung?"
    Main: Das hat aber doch eine gewisse Plausibilität, dieser ethische Ansatz, der wegführt von Hokuspokus, sage ich jetzt mal auf Deutsch, das in Richtung Säkularisierung führt, weg vom Aberglauben, das hat erst mal eine gewisse Plausibilität. Was stört Sie an diesem Ansatz?
    Joas: Es hat eine hohe Plausibilität. Und ich stelle ja die Behauptung, dass die Propheten gegen Magie vorgegangen sind, gar nicht in Frage. Was ich in Frage stelle ist, dass der Begriff der Entzauberung gleichzeitig ganz andere Bedeutungselemente enthält, und dass die nun mit diesem Entmagisierungssinn verkoppelt werden. Vielleicht auch dafür ein Beispiel, dass ich nun aus der Geschichte der Reformation nehme.
    Max Weber hat ganz klassisch, also klassisch im Sinn der deutschen Protestanten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Vorstellung, dass zwar die Propheten nun gegen Magie vorgegangen seien, dass Christen im Mittelalter die prophetische Magiefeindschaft wieder vergessen hätten. In Max Webers Sicht sind die Reformatoren gewissermaßen die Wiederkehr des Prophetischen. Sie nehmen also auf die prophetische Magiefeindschaft und sorgen jetzt, also ausgeprägter als bei Luther ist das bei Calvin, also für eine radikale Zurückdrängung von all dem, was sie für magisch halten. Das beeinflusst das Sakramentenverständnis und so weiter und so weiter.
    Jetzt ist der Punkt aber, den man an den Reformatoren vielleicht noch deutlicher machen kann als an den Propheten, dass diese Magiefeindschaft verbunden war, also wirklich logisch intern verbunden war, mit einer Hochsteigerung der Vorstellung von der Heiligkeit Gottes. Also, nichts Irdisches darf in sich heilig sein, nichts Irdisches trägt in sich magische Kräfte, heilig ist nur der große und transzendente Gott.
    Blick auf den Reliquienschrein mit den Gebeinen der Heiligen Drei Könige im Kölner Dom.
    "Nichts Irdisches trägt in sich magische Kräfte?" - Der Reliquienschrein mit den Gebeinen der Heiligen Drei Könige im Kölner Dom. (picture-alliance / dpa - Ossinger)
    Das heißt aus der Entmagisierung folgt nicht etwa eine totale Entsakralisierung, sondern das Sakrale wird als ausschließlich im Transzendenten beheimatet gedacht. Wenn jetzt solche Vorstellungen vom transzendenten Gott, etwa durch die Aufklärung und durch die Verbreitung eines naturwissenschaftlichen Weltbildes, sagen wir mal im 18. Jahrhundert, schwächer werden, dürfen wir meines Erachtens für diesen Prozess nicht denselben Begriff verwenden. Es geht ja jetzt offensichtlich nicht um die Zurückdrängung von Magie, jetzt geht es um die Zurückdrängung von Transzendenzvorstellungen.
    Wenn wir beides Entzauberung nennen, sieht es so aus, als wäre da eine Kontinuität. Die Kontinuität ist aber nicht vorhanden, sondern es wird in dem aufklärerischen Prozess das in Frage gestellt, was das entscheidende Gegengewicht gegen die Magie war.
    "Das Verlieben"
    Main: Um jetzt für uns noch mal etwas Klarheit herzustellen, der Titel Ihres Buches ist ja auch Programm. Da gibt es ein paar Begriffe, die würde ich gerne mal klären. Da ist einmal oder ich nenne noch mal den Titel "Die Macht des Heiligen: Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung". Lassen Sie uns mal jetzt die einzelnen Begriffe kurz durchdeklinieren, um Klarheit zu bekommen. Das Heilige, was ist bei Ihnen damit gemeint und was ist nicht gemeint?
    Joas: Ja, also, das ist ein absoluter Schlüsselbegriff dieses Buches, der Begriff des Heiligen. Und da muss ich natürlich, um nicht missverstanden zu werden, sagen, dass man um den Begriff des Heiligen zu verstehen, auf menschliche Erfahrungen zurückgreifen muss. Also, der Ausgangspunkt meiner ganzen Religionstheorie sind menschliche Erfahrungen. Und das soll heißen, nicht religiöse Lehren, Doktrinen, nicht religiöse Institutionen, wie, sagen wir mal, die Kirche, nicht, weil ich etwas gegen die Beschäftigung mit der Kirche habe oder gegen die Beschäftigung mit religiösen Lehren, sondern, weil ich glaube, dass wir religiöse Lehren von vorneherein nicht richtig verstehen, wenn wir sie auffassen, als wären sie quasi wissenschaftliche Theorien. Dann gehen wir an denen immer schon vorbei. Die haben einen anderen Zweck, eine andere Aufgabe und auch die religiösen Institutionen verstehen wir nicht richtig, wenn wir nicht in den Vordergrund rücken den Geist, der ihn ihnen weben muss, wenn der nämlich nicht drinnen ist, sind diese religiösen Institutionen eigentlich zum Kollaps bestimmt.
    Also menschliche Erfahrungen! Und nun kann man unterscheiden, alltägliche Erfahrungen und außeralltägliche Erfahrungen, lassen wir die alltäglichen, das ist irgendwie trivial, dahingestellt, das Besondere an den außeralltäglichen Erfahrungen ist – jetzt innerhalb meiner Theorie, da ist es wieder ein bisschen anders als bei Max Weber – dass wir an den bestimmten Punkten unseres Lebens, ob wir es wollen oder nicht, über die Grenzen unseres Selbst hinausgerissen werden.
    Gegenüber Studenten, Studentinnen verwende ich am liebsten als Beispiel, dass auch an sich noch gar nichts mit Religion zu tun hat, das Verlieben. Man begegnet einer Person und wusste das gar nicht vorher, dass einem das heute noch passieren wird, sozusagen, und diese Person lässt einen nicht mehr los. Und wenn sich das weiterentwickelt zwischen den beiden Personen, tritt tatsächlich eine Veränderung des eigenen Selbst ein, eine Verlagerung des Zentrums der eigenen Lebensführung. An einem bestimmten Punkt ist einem dieser geliebte Mensch vielleicht - ich würde fast sagen hoffentlich - wichtiger als man selbst.
    Also, das Heilige nun entsteht daraus, dass Menschen, wenn sie außeralltägliche Erfahrungen gemacht haben, solche Erfahrungen des über sich hinausgerissen Werdens, die Situation, in der sie diese Erfahrungen gemacht haben, notwendig, mit starker Emotion aufladen. Selbst triviale Objekte, die in einer solchen Situation eine Rolle gespielt haben, bleiben nicht trivial. Der Ort bleibt in Form szenischer Erinnerung im Gedächtnis, es bleiben Gerüche vielleicht, Objekte, der erste Abend in einem Restaurant mit dem geliebten Menschen und man findet irgendwann noch die Rechnung von diesem Restaurantabend, einen höchst trivialen Gegenstand. Und man spürt, man kann ihn nicht wegwerfen, weil er aufgeladen ist mit dieser intensiven Erinnerung an dieses außeralltägliche Erlebnis.
    Eine Rechnung in einem französischen Kaffee auf einem Tellerchen - darauf liegt etwas Trinkgeld
    Wenn Triviales von Verliebten mit Emotionen aufgeladen wird - eine Erfahrung des Heiligen? (dpa / Wolfram Steinberg)
    Also, so führe ich, ausführlicher natürlich, die Idee des Heiligen ein. Und lassen Sie mich einen Satz noch dazu sagen, was ganz wichtig ist: So ist das Heilige nicht etwa Bestandteil vorhandener Religionen, sodass manche Leute meinen, da sie selber nicht religiös sind, hätten sie auch keinen Zugang zum Heiligen, sondern es ist umgekehrt. Religionen werden erkennbar als Versuche, bestimmte, von vielen Menschen geteilte, Erfahrungen des Heiligen…
    Main: … zu rationalisieren.
    Joas: Genau. Also, auf Begriffe zu bringen, so zu formieren, dass sie an den Nachwuchs weitergegeben werden können und so weiter und so weiter. Aber das Heilige gibt es überall da, wo Menschen Erfahrungen machen, gerade auch bei manchen extrem säkularen sozialen Bewegungen, also die Rolle der roten Fahne etwa in der höchstsäkularen sozialistischen Arbeiterbewegung wäre ein Beispiel dafür.
    "Mit Heiligkeit aufgeladen"
    Main: Wenn Sie dann von der Macht des Heiligen sprechen, dann übt also dieses Heilige, in dem von Ihnen skizzierten Sinn, Macht aus. Auf wen und wie?
    Joas: Also, das Heilige hat, so beschrieben, auf jeden Fall eine ganz starke Motivationskraft. Ich spüre in dieser außeralltäglichen Erfahrung, dass ich mit Kräften in Berührung gekommen bin, die mich über mich hinausgerissen haben. Und in der Geschichte der Menschheit heißt das eben beispielsweise, dass Orte, an denen so etwas passiert ist, mit Heiligkeit aufgeladen werden.
    Es gibt beispielsweise heilige Berge, einen heiligen Hain oder dass der Zeitpunkt, in dem das geschieht, als "Heilige Nacht" zum Beispiel, in Erinnerung bleibt. Und dies ist nun natürlich nur eine der Quellen von Macht. Ich nenne das Buch "Die Macht des Heiligen", weil ich diese eigene Kraft, die im Heiligen steckt, systematisch in Verbindung bringen will mit politischer und ökonomischer Macht. Es gibt da unmittelbare Verbindungen deshalb, weil etwa alle politische Ordnung auf einer bestimmten Legitimität beruht. Wenn sie nicht auf purer Gewalt beruht, beruht sie auf dem Glauben von Menschen, dass diese Machtverteilung gerechtfertigt ist. In diese Rechtfertigung gehen aber notwendig selber Heiligkeitsvorstellungen ein. Etwas wird für unbedingt gut gehalten, sobald sich eine leichte Verschiebung auch nur in den Heiligkeiten ergibt, entstehen auch leichte Sprünge in der gegebenen Legitimitätsordnung.
    Main: Wir haben versucht die Begriffe "Macht des Heiligen" durchzudeklinieren. Dass Säkularisierung keine Einbahnstraße ist, sondern dass es Gegenläufiges und Zeitgleiches gibt, also, die Macht des Heiligen - welche Gesellschaften sind für Sie in der Gegenwart das Paradebeispiel für diese These?
    Joas: Also, jetzt reden wir nicht über Entzauberung, sondern über Säkularisierung. Also Gesellschaften, in denen Religion höchst vital ist: Spontan fallen mir sofort zunächst einmal unter dem Gesichtspunkt Christentum die USA und Südkorea ein.
    Main: Wo Sie regelmäßig leben, also in den USA.
    Joas: In den USA. Die USA sind nie den europäischen Säkularisierungsweg gegangen und deshalb in der soziologischen und historischen Forschung viele Jahre oder Jahrzehnte lang wie ein irgendwie mysteriöser Ausnahmefall behandelt worden. Dem lag aber zugrunde, dass die europäischen Entwicklungen selbstverständlich als Maßstab verwendet wurden und die USA eben von der europäischen Regel, die auch nicht ausnahmslos gilt in Europa – Polen und so weiter, Ausnahmen in Europa – aber die USA davon weit abweichen. Durch Modernisierungsprozesse außerhalb Europas und Nordamerikas hat sich nun eher herausgestellt, dass die europäische Entwicklung die Ausnahme ist.
    Die Yoido Full Gospel Church in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul vor einem Sonntagsgottesdienst am 03.11.2013 - das Gebäude erinnert eher an ein Stadion
    Die Yoido Full Gospel Church in Seoul soll die größte Kirche der Welt sein - 15000 Menschen finden in ihr Platz (imago stock&people / epd )
    Wenn viele – auch der klassischen Soziologen – angenommen haben, dass Großstädte aus sich heraus säkular wären, weil schon im 19. Jahrhundert, im späten 19. Jahrhundert Berlin und Hamburg, zum Beispiel, also weitgehend säkularisierte Großstädte waren, dann trifft das für die heutigen Metropolen der Dritten Welt gerade nicht zu. Gerade Religionen sind dort oft, wie es auch in den USA war, die Form, in der die neuen Zuwanderer überhaupt eine Heimat in diesen neuen Großstädten finden. Und das ist in den USA anhaltend so. Südkorea erwähne ich deshalb, weil es der spektakuläre Fall ist eines ganz besonders rapiden Modernisierungsprozesses in den letzten Jahrzehnten, der sogar einhergeht mit einem Christianisierungsprozess.
    "Ich gehe am Sonntag in die Kirche - und die ist nie leer"
    Main: Das heißt, Sie unterstützen letzten Endes die Theorie von der Renaissance der Religion, von der Wiederkehr der Religion?
    Joas: Nein, von der Wiederkehr nicht, weil wiederkehren kann nur etwas, was verschwunden war. Und ich glaube, es handelt sich in Deutschland eher um eine Wiederkehr in das Aufmerksamkeitsspektrum als um eine Wiederkehr in der Wirklichkeit. Es ist ja ein Unterschied, ob plötzlich die Medien oder die Wissenschaftler mehr wieder auf etwas schauen, was immer da war, oder ob sich das, was da immer da war, plötzlich verstärkt hat.
    Man kann in Deutschland nicht davon sprechen, dass plötzlich viel mehr Leute in die Kirche gehen. Aber es haben Jahrzehnte lang viele behauptet – ich habe selber viele Intervieweinladungen bekommen, wo es zum Beispiel heißt, ich soll erklären, warum die Kirchen am Sonntag immer völlig leer sind, da sage ich: "Ich gehe am Sonntag in die Kirche - und die ist nie leer". Und es gibt auch Zahlen, die Sie gerne … Also, es gehen ungeheuer viele Menschen weiterhin – verglichen mit allen anderen Sonntagsveranstaltungen, wie Wochenendveranstaltungen …
    Main: …Fußball.
    Joas: … und Bundesliga-Fußball oder so etwas – in die Kirchen. Also, ich bin da einfach dafür, dass man ein realistisches Bild hat, weder ein schönfärberisches, noch ein schwarzgemaltes Bild, aber deshalb: Wiederkehr ist nicht der richtige Ausdruck.
    Main: Hans Joas, danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Danke und alles Gute für die Zeit in Chicago.
    Joas: Sehr gerne, Herr Main.
    Hans Joas: "Die Macht des Heiligen: Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung"
    Suhrkamp-Verlag, 527 Seiten, 35 Euro
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.