Freitag, 29. März 2024

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Hans-Jürgen Heinrichs: "Fremdheit"
Das Leben als Reibung

Fremdheit – ein schillernder Begriff. Man ist sich selbst fremd, fühlt sich fremd in einem anderen Land, lehnt fremde Menschen ab. Und doch sind wir ohne das Fremde nicht in der Lage, uns selbst zu sehen. Hans-Jürgen Heinrichs beschäftigt sich in seinem neuen Buch einmal mehr mit seinem Lebensthema.

Von Ulrich Rüdenauer | 10.09.2019
Zu sehen ist der Autor Hans-Jürgen Heinrichs und das Cover seines Buches "Fremdheit. Geschichten und Geschichte der großen Aufgabe unserer Gegenwart."
Hans-Jürgen Heinrichs - geschult an Victor Segalen, Michel Leiris und Hubert Fichte (Autorenfoto: Privat/ Cover: Verlag Antje Kunstmann )
Den Umschlag des neuen Buches von Hans-Jürgen Heinrichs ziert ein Blurb – ein Werbezitat – des Weltensammlers Ilija Trojanow:
"Heinrichs hat sich ein Leben lang mit Fremdheit beschäftigt. Dieses Buch ist die kluge und sensible Quintessenz seiner Annäherungen an eines der zentralen Themen der Gegenwart."
Besser ist das Unbehagen an der Gegenwart wohl kaum zu fassen: Die Rede von Fremdheit, von den Fremden und von Überfremdung wird von der populistischen Rechten, aber auch von Teilen der Linken dankend genutzt. Es ist ein wohlfeiles Instrument, eine nationale oder gar völkische Einheit zu schmieden, die sich gegen alle Andersdenkenden und Andersausschauenden wehrhaft aufstellen soll. Die zunehmende Entfremdung von einer weltoffenen Gesellschaft, die trotz grenzenloser Handelsströme in immer weiterer Ferne liegt, kommt darin zum Vorschein. Also könnte man sich Ilija Trojanow anschließen und sagen: Heinrichs‘ neues Buch "Fremdheit" ist das Buch zur Stunde. Ein bekannter Autor, Ethnologe und Reisender, Entdecker und Herausgeber, Interviewer und Journalist widmet seinem Lebensthema eine weitere Studie – das ist angesichts der Brisanz des "Fremdheits"-Begriffs ausdrücklich zu begrüßen. Ein Buch der Stunde aber ist es nur bedingt. Heinrichs‘ jüngstes Werk ist eine Art ausgeschütteter Zettelkasten. Seine von verschiedenen Richtungen ausgehenden Annäherungen an das Thema sind essayistisch, literarisch, anekdotisch, wissenschaftlich. Durchaus programmatisch vermischen sich hier verschiedene Genres und Schreibstile. Denn für Heinrichs ist das Verstehen aufs engste verknüpft mit dem Erzählen von Fremdheit. Nicht immer ganz frei von Eitelkeit, wuchert er mit dem Pfund seiner in vielen Jahren gewonnenen Einsichten, seiner zahlreichen Begegnungen mit Ethnologen, Schriftstellern und Künstlern. Mit dem Thema des Buches spielende Bilder, beigetragen von Rebecca Horn oder Anselm Kiefer, sind hier zudem abgedruckt: Weniger zur Illustration, sondern eher als Beispiele für andere Erfahrungsräume – was allerdings zum Teil einen leicht beliebigen Eindruck hinterlässt. Auch wenn Heinrichs eine breitgefächerte Bestimmung von Fremdheit anstrebt, erscheint einem der Erkenntnisgewinn zuweilen dünn. Was auch an dem mitunter etwas hohen, bedeutungsschwangeren Ton liegt, in dem nicht selten Gemeinplätze ziemlich aufgeblasen wirken.
"Zur Welt kommen heißt, sich einer unfassbaren Fremdheit ausgesetzt zu sehen. Das ist der Anfang – und so geht es bis zum Ende des Lebens weiter. Das Urmuster aller Entscheidungen, die man fortan trifft, besteht darin, ob man der Fremdheit lustvoll oder aber feindlich begegnet, ob man ihr die Tore zum eigenen Inneren öffnet oder aber verschließt."
Das Fremde umkreisen
Dass die Lektüre dennoch empfehlenswert ist, liegt an einer gewissen Emphase, die dem Buch eigen ist: Heinrichs ist zutiefst überzeugt davon, dass es beim Thema "Fremdheit" nicht nur gegenwärtig um etwas geht. Sondern dass es überhaupt eine zentrale Kategorie des Zusammenlebens ist, der Organisation des Sozialen, der Wahrnehmungsfähigkeit. Ausdrücklich spricht Heinrichs von einer Erzählung und von sich selbst als Erzähler. Das ermöglicht ihm, behände zwischen verschiedenen Ebenen hin- und herzuspringen: Seine Studie beschäftigt sich mit Fremdheitserfahrungen in der Liebe ebenso wie mit Rassismus. Sie erzählt Geschichten von Flucht und Ankunft und versucht zugleich theoretisch zu fassen, was mit uns geschieht, wenn wir uns mit Fremdheit auseinandersetzen. Von intimsten Verstörungen bis zu gesellschaftlichen Problemstellungen reicht das Untersuchungsfeld des Ethnopsychologen, der eben das Seelenleben mit in seine Beobachtung sozialer und historischer Verhaltensweisen einbezieht. Das Dasein stellt für Heinrichs schlechthin eine fortwährende Reibung am Fremden dar – man könnte wertneutraler auch sagen: mit dem Nichtgleichen, der Differenz. Dieses Andere wird umkreist, angeglichen oder ausgegrenzt. Gleichgültig steht man ihm nie gegenüber. Dabei ändert sich allerdings im Laufe der Zeit oder situationsbedingt das Objekt, das man als fremd und bedrohlich wahrnimmt. Der Blick auf den Fremden sei immer kulturell und emotional begrenzt.
"Jede Empfindung von Fremdartigkeit ist immer auch ein Konstrukt aus Projektionen und Zuschreibungen."
Fremd- und Selbsterkundung
Einer der zentralen Aspekte im Denken Heinrichs‘ besteht in einem selbstreferentiellen Motiv: Erst in der Auseinandersetzung mit dem und den Fremden werden wir uns über das Eigene bewusst. Auch wir sind uns eigentlich fremd, was uns aber erst deutlich wird, wenn wir uns konfrontieren. Nur kommt es auf die Art der Konfrontation an. Ist diese geprägt von Abwehr und Feindschaft oder von Neugierde und Offenheit? Fremderkundung hat also immer auch mit Selbsterkundung zu tun. Fremdheit ist die Voraussetzung dafür, Erfahrungen und Begegnungen zu ermöglichen. Für die Vermittlung dieser Erfahrungen braucht es, so Heinrichs, eine andere Sprache: Geschichte und Geschichten müssten sich ergänzen, und gerade Reporter-Schriftsteller und Ethnologen, die sich literarischer Formen bedienen, könnten durch ihr Schreiben die Angst erzeugenden und politisch instrumentalisierten Zerrbilder des Fremden auflösen. Heinrichs fordert einen realistischen, empathischen, Grenzen überschreitenden Blick, wie man ihn etwa in den Büchern von Navid Kermani oder Gilles Kepel finde. Und wie er auch von einigen Gewährsmännern, die Heinrichs‘ eigene Arbeit geprägt haben, in die Wissenschaft eingeführt wurde:
"Victor Segalen, Michel Leiris und Hubert Fichte waren die drei Säulen einer neuen unakademischen, einer literarischen Darstellung und Erforschung von Fremdheit im 20. Jahrhundert in Europa. Sie veränderten grundlegend die Arbeit des Übersetzens kultureller Tatsachen aus der erforschten Kultur in die Sprache der eigenen Kultur. Hier findet eine Initialzündung für die Erkenntnis statt, dass die Erkundung des Fremden letztlich in die Erarbeitung von Texten mündet."
Die eigene Kultur als Maßstab?
Fremdheit bereitet deshalb Probleme, weil wir sie außerhalb unserer Lebenswelt verorten, es uns nicht gelingt, eine gedankliche Übertragungsleistung zu erbringen und gesellschaftliche Konfliktsituationen in Geschichten zu verwandeln, die uns Konstruktionen bewusst machen könnten. In dieser Hinsicht ist Hans-Jürgen Heinrichs‘ neues Buch eine Mahnung an alle, die es sich mit der Gegenüberstellung von "wir" und "die" zu einfach machen.
"Die eigene Kultur nicht als alleinigen Maßstab der Normalität zu nehmen, erfordert einen grundsätzlichen Perspektivenwandel. Es heißt anzuerkennen, dass alles, was einem selbst als normal und selbstverständlich erscheint, in einer anderen Kultur gegenteilig begriffen werden kann und dass auch in unseren Traditionen ständig elementare Systemveränderungen und -verkehrungen, Umwertungen und Neusetzungen möglich sind, stattgefunden haben und stattfinden."
Hans-Jürgen Heinrichs: "Fremdheit. Geschichten und Geschichte der großen Aufgabe unserer Gegenwart"
Kunstmann Verlag. München 2019
246 Seiten. 22.- Euro