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Hansjörg Schertenleib: "Die Fliegengöttin"
Leben mit dem großen Vergessen

Ein altes Paar in Irland. Sie ist an Alzheimer erkrankt, er pflegt sie aufopferungsvoll. Hansjörg Schertenleib erzählt in „Die Fliegengöttin“ eine berührende Geschichte: Was aus einer Liebe wird, wenn sich einer von beiden nicht mehr an sie erinnert.

Von Jörg Magenau | 02.01.2019
    Hansjörg Schertenleibs Roman "Die Fliegengöttin" und im Hintergrund ein älteres Paar im untergehenden Sonnenlicht
    Was bleibt von der Liebe, wenn der eine den anderen nicht mehr erkennt? (Buchcover: Kampa Verlag / Hintergrund: picture alliance / dpa / Patrick Pleul)
    Das Motto steht nicht vorne, sondern ganz am Schluss des Buches. Es stammt vom schwedischen Lyriker Tomas Tranströmer.
    "Die Erinnerungen sehen mich an."
    Man muss erst durch die Novelle von Hansjörg Schertenleib hindurchgegangen sein, um zu verstehen, was das bedeutet. Erinnerungen sind eben nicht jederzeit abrufbar. Sie gehorchen keiner Logik. Wir sind nicht ihre Dirigenten, sondern empfangen sie wie Träume. Erinnerungen stellen sich ein, sprunghaft, assoziativ, unkontrollierbar.
    "Die Erinnerungen sehen mich an."
    "Die Fliegengöttin" ist zunächst ein Buch über das Rätsel des Gedächtnisses. Es handelt von Demenz, also vom Vergessen, ist aber vor allem eine Liebesgeschichte, die im Nordwesten Irlands spielt.
    Nach 50 Jahren Ehe erkennt sie ihn oft nicht mehr
    Im Mittelpunkt stehen der 83jährige, aus Holland stammende Willem de Wit und seine Frau Eilis. Die beiden sind seit über fünfzig Jahren verheiratet, doch jetzt ist Eilis durch ihre Alzheimer-Erkrankung seltsam verändert, zerstört, kaum noch ansprechbar, und auch wenn Willem sie hingebungsvoll pflegt, weiß er nicht, ob sie ihn erkennt. So ist die unerhörte Begebenheit, die eine Novelle kennzeichnet, vielleicht jener Moment, in dem Eilis die Augen aufschlägt, ihn ansieht und sagt: "Mein Mann."

    In solchen Momenten ist klar, warum er das alles tut, warum er sie weit über die eigenen Kräfte hinaus pflegt und daran gegen den Rat seiner Freunde und Kinder festhält.

    "Warum ließ er den Garten nicht verwildern? Blüten würden absamen, sich ausbreiten und vermehren, Büsche, Sträucher und Hecken in den Himmel wachsen, das Gras würde hüfthoch stehen, das Unkraut nach und nach alles überwuchern und ihr Haus hinter einem Dickichtgürtel verschwinden lassen. Und doch würden sie weiterleben, die alte Frau, die jeden Tag etwas Neues vergaß, und der alte Mann, der sie pflegte und umsorgte, still, aus Zeit und Welt gefallen, verborgen von wucherndem Grün, das unaufhörlich weiterwuchs."
    Verwilderte Erinnerungen
    So wie der Garten wuchert, so verwildern auch die Erinnerungen. Alzheimer bedeutet keineswegs totales Vergessen. Eilis ist oft munter, aber eingesponnen in ihre unzugängliche Welt. Sie singt und summt alte Melodien. Sie spricht rätselhafte Sätze. Manchmal beginnt sie zu tanzen. Und immer wieder tauchen auch bei ihr Szenen aus der Vergangenheit auf. "Weißt du noch, die Frösche?", sagt sie dann etwa, und löst in Willem damit Erinnerungen an eine Frankreichreise aus, von denen er bis dahin nichts mehr wusste.

    Die Grenze zwischen ihm und seiner kranken Frau verläuft keineswegs zwischen Wissen und Nichtwissen, denn auch Willem hat vieles vergessen und ein sehr schlechtes Gedächtnis. Vergessen ist ja an sich keine Krankheit, sondern sehr oft eine Wohltat. Vielmehr sind es die anarchistisch aufflackernden Bilder, das Ungeordnete und Willkürliche, die Verkindlichung und Pflegebedürftigkeit Eilis, die ihren Zustand kennzeichnen. Zur titelgebenden Fliegengöttin wird sie durch ihre Fixierung auf die Insekten, die auf ihrer Bettdecke krabbeln, die sie zu fangen versucht und sich dann in den Mund steckt.
    Sie steckt sich gern Insekten in den Mund
    "Er wollte ihr so sanft wie möglich den Mund öffnen, da machte sie ihn selbst auf und streckte ihre Zunge heraus. Die Fliege, die darauf hockte, rieb rasend schnell ihre Vorderbeinchen aneinander, erhob sich plötzlich in die Luft und flog ihm so unvermittelt über der Nasenwurzel ins Gesicht, dass er die Augen erst schließen konnte, nachdem er den Aufprall des winzigen Körpers gespürt hatte."

    Die Zärtlichkeit zwischen den beiden Alten ist jederzeit – so auch hier – spürbar. Und doch gibt es eine Geschichte, die sie trennt und an der Willem zu tragen hat: Vor vielen Jahren hat er Eilis betrogen, ausgerechnet mit der Ehefrau seines besten Freundes. Diese Geschichte holt ihn jetzt ein, und der Freund rächt sich, indem er behauptet, er habe dafür mit Eilin geschlafen. Ob das stimmt oder nicht, spielt keine Rolle. Auch die Erinnerungen sind ja nicht einfach wahr oder falsch, sondern veränderbare Tatsachen. Doch jetzt zeigt sich anhand dieser alten Geschichte, dass nichts im Nichts verschwindet. Alles hinterlässt Spuren, auch wenn das Ereignis selbst längst vergessen sein mag.
    Die Schreckensvision per se: der totale Ich-Verlust
    Dass Altersdemenz und Alzheimererkrankungen in unserer Gegenwart ein so großes Thema geworden sind, hat nicht nur mit der steigenden Lebenserwartung und der daurch bedingten statistischen Zunahme solcher Fälle zu tun. Senile Alte hat es immer gegeben. Früher saßen sie auf der Ofenbank und wurden in Ruhe gelassen. Erst in einer Zeit, die den Individualismus, die Freiheit des Einzelnen und die Identität des Subjekts feiert, konnte der Zustand des Ich-Verlustes zum Schreckensbild schlechthin werden. Alles, was ein Mensch ist und wie er sich definiert scheint durch Alzheimer ausgelöscht. Arno Geigers großartiger Roman "Der alte König in seinem Exil" über seinen dementen Vater oder Stefan Schütz` ergreifender Bericht über sein Verhältnis zu seiner dementen Frau sind zwei literarische Kostbarkeite n, an die Hansjörg Schertenleib anknüpft. Der Film "Liebe" von Michael Haneke gehört ebenfalls in diese Reihe – er wird in der "Fliegengöttin" sogar als Referenz zitiert.
    Sterbehilfe als letzter Liebesakt?
    Schertenleibs Kunst zeigt sich in der Feinheit der Zwischentöne, die er hervorbringt. Willem hat nicht nur an seiner Schuld zu tragen, er ist seinen Kindern geg enüber – dem schwulen Sohn, der sich nach Boston abgesetzt hat und der auf ihre Unabhängigkeit pochenden Tochter – eher unduldsam und kein beso nders liebender Vater. Auch die tiefe Zärtlichkeit gegenüber seiner Frau hat einen verstörenden Kern: Einst versprachen sich die Ehele ute gegenseitig, sich im Falle der Pflegebedürftigkeit oder Demenz jeweils zu erlösen. Damals, also vor Eilis Alzheimer-Erkrankung, waren sich beide Partner noch ganz sicher, dass die Einlösung dieses Versprechens eine Tat der Liebe wäre. Doch nun zögert Willem, weil er spürt, dass Eilis keineswegs als Person ausgelöscht ist. Ja, er spürt, dass Eilis trotz aller neurologischen Ausfälle glücklich sein kann. Heißt sie zu lieben also, das Versprechen auf Sterbehilfe zu brechen?

    Der Roman handelt, ohne sie zu stellen, von den großen Fragen: Was macht einen Menschen als person aus? Warum leben wir? Was ist Schuld? Was bedeutet es zu lieben? Tatsächlich ist "Die Fliegengöttin" weniger ein Buch über Krankheit und Verfall, als über die Kraft der Zuneigung. Denn die bewährt sich gerade da, wo es gilt, eine Person, ihr Wesen und ihren Willen zu respektieren und zu verteidigen, auch wenn sie selber dazu schon längst nicht mehr in der Lage ist. Hansjörg Schertenleib hat in seinem Willem de Wit keinen Helden geschaffen, aber einen großen Liebenden.
    Hansjörg Schertenleib: Die Fliegengöttin.
    Gatsby im Kampa Verlag, Zürich 2018. 174 Seiten, 18 Euro.