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Harald Jähner
"Wolfszeit"

In "Wolfszeit" beschäftigt sich der ehemalige Feuilleton-Chef der Berliner Zeitung mit Deutschland und den Deutschen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Mitte der 1950er Jahre − mit überraschenden Ergebnissen. Dafür erhielt Harald Jähner den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse.

Von Melanie Longerich | 08.04.2019
Im Vordergrund das Cover von Harald Jähners "Wolfszeit", im Hintergrund eine undatierte Aufnahme der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Innenstadt von Köln
Harald Jähner zeichnet in "Wolfszeit" ein vielfältiges Stimmungsbild von Nachkriegsdeutschland (Rowohlt Verlag/ dpa picture alliance/ Royal Air Force)
"So viel Anfang war nie, soviel Ende auch nicht" überschreibt Harald Jähner das erste Kapitel seines Buches über die "Wolfszeit in Deutschland, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann - und sich bis tief in die 1950er Jahre zog:
"Wolfszeit nannte man damals diese Zeit, um diese Anarchie zu charakterisieren und das Egoistische der Leute. Also: 'Da, wo die Ordnung aufhört, fängt das Reich des Wolfes an', hieß es, der für die gesamte Gesellschaft kein Interesse aufbrachte, keine Leidenschaft aufbrachte, sondern nur für sich und sein Rudel."
Als der Krieg zu Ende war, standen die Deutschen vor dem Nichts. Die selbstverschuldete Katastrophe war beispiellos. Über die Hälfte der Menschen waren nicht mehr da, wo sie hingehörten, darunter Millionen Ausgebombte, Flüchtlinge und Vertriebene, entlassene Zwangsarbeiter und zurückkehrende Kriegsgefangene. Wie sich dieses Gemenge von Versprengten, Verschleppten, Entkommenen und Übriggebliebenen entflocht und neu zusammenfand, beschreibt der ehemalige Feuilletonchef der Berliner Zeitung in seiner Mentalitätsgeschichte:
"Mich hat immer interessiert, wie die Deutschen damit klarkamen nach 1945, dass ihr geliebtes Reich nicht mehr existierte, wie sie an Zucht, Ordnung und Obrigkeit gewöhnt mit der Anarchie klarkamen, wie sie mit den neuen Herren, den Besatzern, klarkamen. Die Beamten, die arbeiteten ja so treu und redlich weiter wie zuvor. Ich habe viele Bücher dazu gelesen, vieles war mir klar, aber ich hatte das Gefühl, so richtig anschaulich, so richtig versenkt hat sich darin eigentlich noch niemand."
Paradoxien der Zeit
Wie es den Deutschen gelang, mit dieser Ausnahmesituation klar zu kommen, erzählt "Wolfszeit" anhand unzähliger Alltagsbegebenheiten: Da war der Argwohn vor den befreiten Zwangsarbeitern, Häftlingen, vor Vertriebenen. Aber auch eine unbändige Lust vieler aufs Leben, auf Tanzen, auf Wohlstand – und aufs Vergessen. Jähner beschreibt jede Begebenheit dicht und anschaulich. Drei Jahre arbeitete er an seinem Buch: Er vergrub sich in Lokalgeschichte, wertete Tagebücher aus, Tageszeitungen und Illustrierte der Nachkriegszeit:
"Und da kommt man auch zu den Paradoxien der Zeit."
Davon finden sich viele bei Jähner. Eine ist, dass diese Zeit keineswegs nur von Hoffnungslosigkeit geprägt war, wie es viele Fotos und Erinnerungen vermitteln. Jähner zeigt andere: Das Foto eines Mannequins etwa, das in einem ausgebombten Café die neue Sommerkollektion präsentiert. Und er zitiert Erinnerungen, wie die des ehemaligen Ost-Berliner BDM-Mädels Brigitte Eicke, die Strafarbeit bei der Entrümpelung leisten musste. Nachdem die sowjetischen Besatzer aber alle Jugendlichen zu Verführten erklärt und amnestiert hatten, zog sie - als inzwischen neugebackenes Mitglied des Antifaschistischen Jugendausschusses - abends von einer Tanzfläche zur nächsten.
Wie konnte aber dieses Glück der Freiheit, das gerade viele Frauen in dieser Zeit empfanden, in den Jahren des Aufschwungs so schnell wieder verschwinden? Und warum spielte der Holocaust im Bewusstsein der meisten Deutschen eine so schockierend geringe Rolle? Fragen, die Jähner durch sein Buch begleiten:
"Vom Standpunkt der historischen Gerechtigkeit aus ist die Geschwindigkeit, mit der Deutschland sich wirtschaftlich wieder sanierte, nicht weniger als gespenstisch. Und dieses schlechte Gewissen, dass man so subkutan spürte, verführte sie dazu, auch im Nachhinein, die eigene Situation viel schwärzer zu malen, als sie tatsächlich war. Also dieses unisono, diese immer gleichen Bilder des Elends, die sollten die Deutschen als Opfer zeigen, in Konkurrenz zu den tatsächlichen Opfern."
Veritable Staatsbürgerkunde
Doch die Deutschen lernten. Weniger an den politischen Diskursen, die ihnen die Alliierten verordnen wollten. Staatsbürgerkunde lernten sie – so Jähners These – vor allem im Umgang mit sich selbst, zum Beispiel auf dem Schwarzmarkt:
"Man musste auch erleben, wie ein SS-Dolch, ein Ehrendolch der SS, plötzlich nur noch 20 Zigaretten wert war oder immerhin 20 Zigaretten, je nachdem. Und da ging der ganze Ehrenkodex, die ganze Leidenschaft für das NS-Reich ging in dem Moment buchstäblich in Rauch auf. In Zigarettenrauch."
Ebenso löste sich der Begriff der emphatischen Volksgemeinschaft auf, den die Nazis geprägt hatten. Das zeigte sich etwa im hartherzigen Umgang mit den Vertriebenen:
"Diese Fremdheitserfahrung, die die Deutschen mit sich selbst machten, ist ungeheuer wichtig. Also Nationalismus kann man auf dieser Feindschaft, dieses verfeindeten Deutschtums unterschiedlicher Stämme natürlich gar nicht erst aufbauen."
Prägende Erfahrungen bis heute
Doch die Umerziehung der Deutschen geschah auch in ihrem Kontakt zu den Alliierten: Jähner berichtet von der hohen Anziehungskraft amerikanischer Soldaten auf die sexuell ausgehungerten deutschen Frauen. Auch die Erfahrungen der Frauen im Osten Deutschlands, die in wesentlich höherem Maße von brutalsten Vergewaltigungen russischer Soldaten betroffen waren, lässt Harald Jähner nicht aus.
"Nun haben die GI`s der US-Arme und die Briten auch vergewaltigt, aber bei weitem nicht in diesem Maße. So dass da schon eine fundamental andere Fremdheitserfahrung vorliegt zwischen Ost und West. Und ich bin fest davon überzeugt, dass das größere Misstrauen, was die Ostdeutschen nun mal Fremden gegenüber hegen, also diese größere Verschlossenheit, die man ihnen nachsagt – ohne ihnen irgendwas Böses zu wollen, das ist ja nicht gleich Rechtsradikalismus - hat natürlich auch etwas mit den Erfahrungen von `45 zu tun insbesondere dann, wenn man über die Erlebnisse offiziell nicht reden durfte."
Auch viele Erkenntnisse nicht neu sind: "Wolfszeit" ist eine höchst lesenswerte, fesselnde und vielfältig bebilderte Mentalitätsgeschichte der Nachkriegszeit. Lediglich das anklingende Versprechen des Untertitels, nämlich den unterschiedlichen Entwicklungen in beiden Teilen Deutschlands gleichgewichtig nachzugehen, ist nicht ganz aufgegangen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf dem Westen. Und trotzdem: Wolfszeit ist ein Buch, das den Leser beschäftigt. Auch dann noch, wenn die letzte Seite längst gelesen ist.
Harald Jähner: "Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955",
Rowohlt Verlag, 480 Seiten, 26 Euro.