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Harper Lee
Das neue Gesicht des Atticus Finch

"Gehe hin, stelle einen Wächter" ist der Vorläufer-Roman des Pulitzer-Preis gekrönten Werks "Wer die Nachtigall stört". In beiden Romanen geht es um den Anwalt Atticus Finch, der im rassendiskriminierenden Amerika der 50er-Jahre einen Schwarzen verteidigt. Das zweite Werk Lees trage jedoch keine eindeutige, politisch korrekte Botschaft vor sich her, meint unsere Rezensentin.

Von Tanya Lieske | 26.07.2015
    Exemplare von "Go Set a Watchman", der englische Originaltitel, frd Haper Lee Buches Werk "Gehe hin, stelle einen Wächter". Harper Lee erhielt 1960 den Pulitzer Preis für "Wer die Nachtigall stört". Das neue Buch gilt als Exposé zu ihrem Erstling und einzigen Werk, der "NachtigalL":
    Exemplare von "Go Set a Watchman", der englische Originaltitel, des Haper Lee Buches "Gehe hin, stelle einen Wächter". (imago/UPI Photo)
    Der Roman "Gehe hin, stelle einen Wächter" ist wie eine Flaschenpost. Mehr als ein halbes Jahrhundert war er unterwegs, bis er seine Leser gefunden hat. Viel ist geschehen, seit Harper Lee ihren ersten Roman "To Kill a Mockingbird" (Wer die Nachtigall stört) veröffentlicht hat. Afroamerikaner besitzen längst das Wahlrecht und haben Zugang zu den Universitäten ihres Landes; sie stellen den Präsidenten der stolzen Nation. Knapp 60 Jahre war die Flaschenpost unterwegs. Man tut gut daran, kurz innezuhalten, bevor man sie entkorkt.
    Manuskript im Pappkarton in der Schublade gelegen
    Die Editionsgeschichte von "Gehe hin, stelle einen Wächter ist verzwickt".
    Ist der Text Vorläufer oder Nachfolger von "Wenn die Nachtigall stirbt?"

    Die Antwort ist einfach. Harper Lees bislang unveröffentlichtes Manuskript wurde vor der Nachtigall 1956, geschrieben, es lagerte in einer Schublade, in einem Pappkarton, später in einem Tresor. Harper Lees Lektorin riet der jungen Autorin zu Zeiten, diesen Text gründlich zu verändern: Die Handlung von den 50er-Jahren in die 30er des letzten Jahrhunderts zu verlegen, der 26-jährigen Protagonistin Jean Louise ihr kindliches alter Ego Scout zurückzugeben und aus deren Sicht zu erzählen, was sich zugetragen hat.
    Gute, gar weise Ratschläge waren das. Doch hätten sie nicht gefruchtet, wäre es Harper Lee nicht gelungen, ihren ganz eigenen Ton zu finden für diese Kindheit in einer idyllischen Kleinstadt im Süden. Der ungeheure Erfolg ihres Romans "Wer die Nachtigall stört" liegt in seiner humanen Botschaft begründet. So ernst der Stoff ist, es ist auch ein heiteres Buch. Harper Lee ist es gelungen, ein kollektives Schicksal zu erzählen. Es steht als Sinnbild für die ganze Nation. Die Bewohner in einem fiktiven Städtchen kämpfen im Roman mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise.
    "Niemand beeilte sich, denn man konnte nirgends hingehen, es gab nichts zu kaufen, zumal man kein Geld hatte, und außerhalb von Maycomb war ebenso wenig los. Einige Leute huldigten jedoch einem vagen Optimismus: Kürzlich war den Bewohnern von Maycomb County mitgeteilt worden, dass sie nichts zu fürchten brauchten als die Furcht selbst."
    Scouts Kindheit besteht aus endlosen Sommertagen. Sie spielt mit ihrem Bruder Jem und dem Nachbarsjungen Dill. Die schwarze Haushälterin Calpurnia führt ein strenges, aber liebevolles Regiment. Der Vater geht morgens ins Büro und kommt abends wieder, um seinen Kindern vorzulesen. Die Sonne glüht, auf den Feldern pflücken die Schwarzen Baumwolle. Der Feriengast Dill, in dem Harper Lee ihrem Jugendfreund Truman Capote ein Denkmal setzt, belebt mit seiner überbordenden Fantasie das Spiel der Kinder. Drei Sommer lang kreisen ihre Unternehmungen um den unsichtbaren Nachbarn Boo Radley. Dieser ist ein Gespenst, da sind sich die Freunde sicher.
    "Dill hatte einen großartigen Plan ausgeheckt, um Boo Radley ohne jede Gefahr für uns herauszulocken. (Man nehme Zitronenbonbons, lege sie als Köder auf den Weg zwischen Radleys Hintertür und dem Vorplatz, und schon wird Boo wie eine Ameise der Spur nachgehen)."
    Man denke sich noch Onkel Jack hinzu und Alexandra, die matronenhafte Tante der Geschwister, dann haben alle Hüter dieser vor Glück gleißenden Kindheit ihre Posten bezogen.
    "Tante Alexandra langweilte sich nie, und sie machte bei jeder Gelegenheit von ihrem fürstlichen Privileg Gebrauch: Sie verfügte, riet, mahnte und warnte."
    Der Endvierziger Atticus Finch hat seine viel jüngere Frau überlebt. Der Witwer ist ein angesehener Mann in Maycomb. Das Städtchen steht für Harper Lees Heimatstadt Montgomery. Auch stimmt Scout Finchs Lebensalter mit dem der 1926 geborenen Autorin überein. Atticus Finch wacht streng, aber gerecht über das Wohl seiner Kinder, er ist letzte Instanz, oberstes Gewissen, ein gottesfürchtiger Mann von unangefochtener Autorität. Sein Lebensmotto hat Geschichte geschrieben. Man muss diesen Satz kennen, um die Verstörung zu ermessen, die das literarische Amerika gerade durchlebt:
    "Das einzige, was sich keinem Mehrheitsbeschluss beugen darf, ist das menschliche Gewissen"
    Es ist dieses Gewissen, das Atticus Finch dazu bringt, die Verteidigung eines jungen Schwarzen zu übernehmen, der der Vergewaltigung eines weißen Mädchens angeklagt ist. Dies ist, wir wissen es aus den Romanen von Nadine Gordimer und J.M. Coetzee, das ultimative Verbrechen in einer von Rassentrennung geprägten Gesellschaft. Die Vergewaltigung einer Weißen führt unweigerlich zu Lynchjustiz, der schwarze Angeklagte wird schuldig gesprochen. Beides findet statt, und doch geht Atticus Finch seinen aufrechten Weg. Er ist das geistige Zentrum des familiären Dreigestirns, er trägt christusähnliche Züge.
    "Weißt du, Jack, ich habe immer gehofft, dass ich nie im Leben einen derartigen Fall zu übernehmen brauchte." (...).
    "Der Kelch ist nicht an dir vorüber gegangen, was?"
    "Stimmt. Und wenn ich abgelehnt hätte – glaubst du, ich könnte meinen Kindern dann noch in die Augen sehen? Du weißt ebenso gut wie ich, was geschehen wird, und ich hoffe und bete, dass ich Scout und Jem unbeschadet durch diese Prüfung bringen kann."
    Atticus Finch gehört, auch in seiner Verkörperung durch Gregory Peck in der Verfilmung des Romans 1962, zum kollektiven Gedächtnis der Vereinigten Staaten, zum Traum von der eigenen moralischen Größe. Nach Atticus Finch wurden in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts viele Jungen aus liberalen Elternhäusern benannt. Auf dem Höhepunkt der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sollten sie dazu beitragen, aus Amerika ein gerechtes Land zu machen.
    "Willst du scharenweise Neger in unseren Schulen und Kirchen und Theatern? Willst du sie in unserer Welt?"
    Fragt nun der um zwei Jahrzehnte gealterte Atticus Finch in "Gehe hin, stelle einen Wächter". Um kaum ein anderes Buch wurde in den vergangenen Jahren ein solcher Hype veranstaltet; in Deutschland standen mit Ulrike Wasel und Klaus Timmermann gleich zwei Übersetzer am Start, damit der Text pünktlich zum festgelegten, weltweit einheitlichen Erscheinungstermin vorliegen konnte.
    Autorin schweigt zur Veröffentlichung
    Harper Lee, die seit Jahren krank ein sehr zurückgezogenes Leben in einem Seniorenheim in Montgomery führt, hat zur Veröffentlichung selbst keine Stellung bezogen. Die Frage, warum die 89-Jährige Harper Lee nach jahrzehntelanger Weigerung, das Manuskript zu veröffentlichen, nun doch dem Druck zugestimmt hat, kann für die Öffentlichkeit nicht schlüssig beantwortet werden. Sicher ist, es geht um viel Geld, mehr als 40 Millionen Mal verkaufte sich die Nachtigall, und auch das neue Buch "Gehe hin, stelle einen Wächter" ist drauf und dran ein Bestseller zu werden. Leser auf der ganzen Welt sind brennend daran interessiert, ob die Figur des Atticus Finch wegen seiner nun zum Vorschein kommenden rassistischen Äußerungen einer Umdeutung unterzogen werden muss.
    "Willst du, dass unsere Kinder auf eine Schule gehen, deren Niveau gesenkt wurde, um es den Negerkindern anzupassen?"
    Aber ist der neue Atticus Finch tatsächlich ein Rassist? Hat sich Harper Lee, ausgezeichnet mit den höchsten Ehrungen ihres Landes, moralisch diskreditiert? Ersteres darf mit ruhiger Hand untersucht werden. Die zweite Frage ist schnell beantwortet. Die persönlichen Ansichten von Figuren sind nicht gleichzusetzen mit denen ihrer Autorin. Das gilt auch für Harper Lee. Ein Shylock macht aus Shakespeare so wenig einen Antisemiten wie ein Professor Humbert Humbert aus Wladimir Nabokov einen Pädophilen. Die, die im folgenden Zitat unterwegs ist, ist nicht Harper Lee, sondern Scout.
    "Seit Atlanta schaute sie mit einer fast körperlichen Freude aus dem Speisewagenfenster. Beim Frühstückskaffee sah sie die letzten Berge Georgias schwinden und die rote Erde auftauchen und mit ihr wellblechgedeckte Häuser und die für den Süden typischen gefegten Vorplätze, auf denen die unvermeidlichen Verbenen in weiß gestrichenen Autoreifen wuchsen. Sie grinste, als sie die erste Fernsehantenne auf einem ungestrichenen Negerhaus entdeckte; je mehr es wurden, desto froher wurde ihr ums Herz."
    Harper Lee, die mit bürgerlichem Namen Nelle heißt, wurde 1926 in Alabama geboren. Sie lebt dort abgeschirmt von der Öffentlichkeit in einem Seniorenheim. Interviews kann sie nicht mehr geben. Sie lehnte es bis zur jetzigen Veröffentlichung ab, einen weiteren Roman zu schreiben.
    Neuer Roman war Exposé für die "Nachtigall"
    Scout ist nun 26 Jahre alt, sie wird meist bei ihrem richtigen Namen Jean Louise genannt. Vergangen sind die Kindertage, die sie im wilden Spiel mit den beiden Jungen verbracht hat, in denen die ihr zugedachte Zukunft einer Südstaaten-Lady kaum mehr als ein lästiges Wölkchen am Horizont war. Das hat sich nun verändert. Scout fährt auch nach Hause, weil große Entscheidungen anstehen. Heimkehren, den erkrankten Vater pflegen, einen Jugendfreund heiraten, sich den gesellschaftlichen Regeln Maycombs beugen, zurückkehren in ihr Singledasein in New York, das sind ihre möglichen Lebensentwürfe. Die Zugfahrt von New York nach Süden setzt ein Signal für eine tiefe seelische Wandlung der Hauptfigur:

    Die erste Begegnung einer jungen Erwachsenen mit einer übermächtigen Vaterfigur. Doch zunächst wartet das Personal der Kindheit, hier gibt es im Vergleich zu "Wer die Nachtigall stört" einige stoffliche Veränderungen. Jem ist gestorben, sein Tod wird kurz abgehandelt. Hinzugekommen ist Henry, Rufname Hank, der Zögling und Juniorpartner ihres Vaters, er würde Jean gerne heiraten. Die schwarze Köchin Calpurnia hat das Haus verlassen. Da Atticus an Rheuma leidet, hat seine Schwester Alexandra die Haushaltsführung übernommen. Ihre Charakterisierung ist eine von zahlreichen Textstellen, die sich fast wortgleich in der Nachtigall wiederfinden, und die belegen, wie sehr dieser erste Text als Exposé für den zweiten, zuerst veröffentlichten Roman gedient hat. Harper Lee hat also nicht wirklich zwei Romane verfasst. Sie hat den einen zwei Mal geschrieben.
    "Das Wort Selbstzweifel war in keinem Schulbuch zu finden, als Alexandra aufs Mädchenpensionat ging, daher kannte sie dessen Bedeutung nicht. Sie langweilte sich nie, und bei jeder sich bietenden Gelegenheit übte sie ihr königliches Vorrecht aus: Sie organisierte, erteilte Rat, mahnte und warnte."
    Größere Veränderungen liegen in der Erzählstimme, die nun von außen kommt und durchaus schwankt, was ihre Nähe und Haltung zu den Figuren angeht. Sie ist weniger geschmeidig und weniger idiomatisch als Scouts Stimme, auch wenn deren frischer Wortwitz schon anklingt. Diese Erzählstimme ist prägnant, aber sie schafft keine geschlossene Fiktion. Die großen Themen dieses Romans - Emanzipation, Ablösung, Heimkehr - liegen wie Findlinge nebeneinander. Das mag einer der Gründe gewesen sein, warum die Lektorin Therese von Hohoff Torrey, genannt Tay, Harper Lee davor bewahrte, das Manuskript in dieser Form zu veröffentlichen. Ebenso muss es Tays Verdienst gewesen sein, den Klumpen Gold gesichtet zu haben, der in diesem Steinbruch lagerte. Es ist die am Rande erwähnte Verteidigung eines jungen Schwarzen, der in dieser frühen Textfassung übrigens freigesprochen wird.
    "Atticus setzte seine Laufbahn aufs Spiel, machte sich eine schlampige Anklage zunutze, trat vor eine Jury und schaffte etwas, das keinem Anwalt zuvor oder danach in Maycomb County gelungen war: Er erreichte für einen wegen Vergewaltigung angeklagten farbigen Jungen einen Freispruch. Die Hauptzeugin der Anklage war ein weißes Mädchen."
    Jean Louise erinnert sich an diese spektakuläre Verteidigung nun, da sie den Ort des Geschehens, das Versammlungshaus des Bürgerrechtsvereins, erneut aufsucht. Diesmal ist ein Sympathisant des Ku Klux Klans geladen, er hält vor den Männern des Ortes eine vor Hass und Rassismus triefende Hetzpredigt. Atticus hat den Redner vorgestellt, nun hört er wortlos zu. Für die heimliche Beobachterin Jean Louise bricht mit diesem Schweigen des Vaters die behütete Welt ihrer Kindheit und Jugend zusammen. Später stellt sie Atticus zur Rede, dabei spricht Atticus die inkriminierten Sätze. Das mehrere Seiten lange Streitgespräch ist der dramaturgische Mittel- und Höhepunkt des Buchs.
    Väterlich-töchterlicher Disput ist Roman-Höhepunkt
    Es wurde 1956 geschrieben, also in der Zeit, in der Präsident Eisenhower versuchte, das umfassende Wahlrecht für Schwarze gegen den Widerstand der ehemaligen konföderierten Südstaaten einzuführen. Mit dem Busstreik von Montgomery hatte 1955 die Bürgerrechtsbewegung begonnen, doch ebenso wichtig waren in der Debatte föderale und verfassungsrechtliche Fragen. Beide Positionen sind in dem Streitgespräch zwischen Vater und Tochter besetzt.
    Jean Louises unbedingter Humanismus trifft auf die liberalkonservative Staatsräson des Vaters. Wer sich die Mühe macht, die Gerichtsverhandlung in der "Nachtigall" noch einmal parallel zu lesen, wird feststellen, dass sich an dessen Gesinnung nichts geändert hat. Atticus Finch bleibt Realist, er ist ein wertekonservativer Südstaatenpatriot, der schon in dem Weltbestseller von einem tief eingewurzelten Gesetz spricht, das die Verbindung einer Weißen mit einem Schwarzen unmöglich mache. Wer es bricht
    "... wird unbarmherzig aus unserer Gemeinschaft ausgeschlossen."
    Nun also, in dem väterlich-töchterlichen Disput, der fest in der ehrwürdigen abendländischen Tradition des philosophischen Streitgesprächs steht, wird sich der Leser auf beiden Seiten der Argumente wiederfinden. Eine junge Autorin mit scharfem Blick auf gesellschaftliche Verwerfungen hat diesen Text geschrieben. Darin argumentiert der 72-jährige Atticus Finch weit differenzierter, als es isoliert wiedergegebene Textzitate seiner Rede nahelegen. Wie auch in der Gerichtsszene der "Nachtigall" bezieht er sich auf sein Vorbild Thomas Jefferson, den liberalen Staatstheoretiker und ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten.
    "Jefferson vertrat die Überzeugung, dass die vollen Staatsbürgerrechte ein Privileg sind, das sich jeder Mann verdienen muss, dass sie weder leichtfertig vergeben noch leichtfertig genommen werden dürfen. Ein Mann sollte laut Jefferson nicht allein deshalb wählen dürfen, weil er ein Mann war. Er musste ein verantwortungsvoller Mann sein. Eine Wahlstimme war für Jefferson ein kostbares Privileg, das ein Mann in einer Wirtschaftsordnung des Leben-und-leben-Lassens für sich erwarb."
    Im Kern läuft Atticus' Argumentation auf das Modell der attischen Demokratie im 5. Jahrhundert vor Christus hinaus. Es gilt als der verfassungsrechtliche Vorfahre unserer modernen Volkssouveränität. Jeder mündige Mann konnte damals partizipieren, doch Frauen, Fremde und Sklaven waren von der Teilhabe ausgeschlossen.
    Spuren dieser elitären Auffassung finden sich in westlichen Demokratien noch heute, etwa in dem Oberhausmodell der angelsächsischen Verfassungen oder in der Vergabe des Wahlrechts an einen Fremden erst nach dessen Einbürgerung. Bis auf eine ausdrücklich erwähnte Ausnahme - es ist der Satz von Schulen, Kirchen und Theatern - lässt die Autorin den Protagonisten das Wort "Neger" gleichsam soziologisch anwenden: Der "Neger" ist der Fremde ohne Bildung. Atticus beschreibt den Zustand der Rassentrennung. Was nicht heißt, dass er ihn auch befürwortet.
    "Betrachten wir es doch mal so", sagte ihr Vater. "Dir ist klar, dass unsere Negerbevölkerung rückständig ist, nicht wahr? Das räumst du doch ein? Dir ist klar, was das Wort 'rückständig' in vollem Umfang bedeutet, nicht wahr?"
    "Ja doch."
    "Dir ist klar, dass die große Mehrheit von ihnen hier im Süden unfähig ist, sich vollverantwortlich an der Bürgerschaft zu beteiligen, und ist dir auch klar warum?"
    "Ja doch."
    "Aber du willst, dass sie die vollen Staatsbürgerrechte besitzen?"
    "Verdammt noch mal, du drehst mir das Wort im Mund um!"
    Und weiter heißt es:
    "Willst du, dass unsere Kinder auf eine Schule gehen, deren Niveau gesenkt wurde, um es den Negerkindern anzupassen?"
    Eine Frage, die provoziert. Der Roman "Gehe hin, stelle einen Wächter" trägt keine eindeutige, politisch korrekte Botschaft vor sich her, wie es noch in Wer die Nachtigall stört durchaus der Fall war. Der Vorläufer-Roman stellt komplexe Fragen an eine vielschichtige, widersprüchliche, moderne Wirklichkeit. Entsprechend schillernd ist diesmal der zentrale Aphorismus, er stammt von Onkel Jack:
    "Vorurteile, ein schmutziges Wort, und Glaube, ein sauberes, haben etwas gemein: Sie fangen beide da an, wo die Vernunft endet."
    So erklärt sich auch der Titel dieses Romans, der sich auf eine Prophezeiung des Jesaja bezieht. Vorausgesagt wird mit dem Fall Babels der Kollaps einer dekadenten Gesellschaft. Mit diesen Anspielungen und Schattierungen hätte das Manuskript zu "Gehe hin, stelle einen Wächter" zur Zeit seiner Fertigstellung auf dem Buchmarkt keine Chancen gehabt. Heute aber bietet seine Veröffentlichung Einsichten in Harper Lees kreative Prozesse, ehe sie ihr Lebensbuch schreiben konnte. Gehe hin, stelle einen Wächter berichtet aus der Warte von Scout alias Jean Louise von der Entzauberung, die mit dem Erwachsenwerden einhergeht. Der Roman rückt Atticus als literarische Figur, die seit einem halben Jahrhundert einen Heiligenschein trägt, schmerzhaft nahe heran an die Niederungen unserer sterblichen Existenz. Insofern ist Gehe hin, stelle einen Wächter durchaus eine literarische Sensation.
    Harper Lee:
    Wer die Nachtigall stört
    Aus dem amerikanischen Englisch von Claire Malignon, überarbeitet von Nikolaus Stingl. Mit einem Nachwort von Felicitas von Lovenberg. Rowohlt Verlag, 464 S. gebunden, 19,95 Euro

    Harper Lee:
    Gehe hin, stelle einen Wächter
    Aus dem Englischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann. DVA, 320 S. geb., 19,99 Euro.