Sonntag, 12. Mai 2024

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"Hartz IV ist größtes Reformvorhaben der letzten Jahrzehnte"

Meurer: Einer, der die Reform vor Ort umsetzen muss, das ist Stephan Gildemeister, er ist der stellvertretende Leiter der Regionaldirektion Sachsen Anhalt/Thüringen der Bundesagentur für Arbeit. Guten Morgen, Herr Gildemeister, nach Magdeburg.

Moderation: Friedbert Meurer | 03.08.2004
    Gildemeister: Ja, guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Herr Gildemeister, haben Sie Verständnis für die Demonstranten?

    Gildemeister: Ja, ich habe natürlich Verständnis auf der einen Seite, auf der anderen Seite habe ich aber die Sorge, Herr Meurer, dass sich hier in Deutschland zunehmend eine Negativstimmung bezogen auf Hartz IV, also SGB II, aufbaut. Eine solche Negativstimmung mit ihren kontraproduktiven Wirkungen würde eigentlich niemandem nützen. Denn wir müssen uns ja auch vor Augen führen, dass dies das größte Reformvorhaben der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der letzten Jahrzehnte ist. Und auf der einen Seite beklagen wir die defizitäre Situation des Staates, auf der anderen Seite leisten wir uns aber zwei Sozialleistungssysteme, die teilweise im Widerspruch stehen und auch vom Übergang des einen in das andere System natürlich kontraproduktive Wirkungen auslösen.

    Meurer: Aber bestreiten Sie, dass es, wie eine Demonstrantin eben sagte, nur noch Almosen geben wird?

    Gildemeister: Ja, das bestreite ich durchaus. Denn maßgeblich ist ja immer die individuelle Prüfung der persönlichen Situation. Und es ist ganz klar, wenn man Steuermittel einsetzt, müssen natürlich auch, auch im Interesse der Allgemeinheit und einer Gleichbehandlung, müssen natürlich dann auch die individuellen Voraussetzungen im Sinne einer Bedürftigkeitsprüfung hier analysiert werden, völlig klar.

    Meurer: Die Bedürftigkeitsprüfung ist aber schärfer als bei der Arbeitslosenhilfe vorher.

    Gildemeister: Ja, wissen Sie, ich habe den Eindruck, dass hier häufig vielleicht nicht der letzte Kenntnisstand immer vorhanden ist. Denn wenn wir uns mal die einzelnen Elemente anschauen, es wird immer nur reduziert auf die bei uns in den neuen Ländern 331 Euro, die ein Alleinstehender bekommt. Aber wenn wir das jetzt natürlich noch verbinden mit den anderen Elementen, Kosten der Unterkunft, Bezieher für also jetzt auch andere Zuschläge, Erstausstattung für Wohnung, Haushaltsgerät, besondere Bedürftigkeit bei Schwangerschaft und Geburt. Also viele Faktoren, die dort mit hineinspielen und da bin ich eigentlich der Meinung, dass man nicht so pauschal einfach sagen kann, ein Drittel oder ein Viertel bekommt automatisch weniger.

    Meurer: Der DGB, der Deutsche Gewerkschaftsbund, hat eine Statistik veröffentlich, danach würden 36 Prozent aller derzeitigen Arbeitslosenhilfeempfänger ab dem ersten Januar kein Geld mehr bekommen und 44 Prozent weniger, macht zusammen 80 Prozent, die negative Folgen zu vergegenwärtigen hätten. Welche Zahlen haben Sie?

    Gildemeister: Also wir haben natürlich hier keine konkreten Zahlen, das verbietet auch die Situation, weil natürlich, das ist ja auch der Grund für den umfangreichen Antrag, weil natürlich die individuelle Situation geprüft werden muss. Ich kann nur sagen, diese Zahlen in dieser negativen Dimension erwarten wir so nicht, weil es eindeutig so ist, wir haben also jetzt hier bei uns im Regionaldirektionsbezirk Sachsen Anhalt und Thüringen einen durchschnittlichen Betrag von 468 Euro, die ein Arbeitslosenhilfeempfänger monatlich bezieht. Und es ist so, dass bei Beziehern niedrigerer Alisätze durchaus auch ein finanzielles Plus herauskommen kann. Wie gesagt, das ist eben abhängig von der individuellen Ermittlung, aber bei diesen Sätzen ist es nicht so, dass man automatisch, auch in diesen Größenordnungen, davon ausgehen kann, dass hier diese Wirkungen so negativ ausfallen. Wir müssen, wissen Sie, wir müssen auch in Deutschland mit mehr Optimismus auch mit Reformen umgehen, denn es ist doch so, diese Negativstimmung mit ihren negativen Wirkungen, die führt doch dazu, dass sagen wir mal, möglicherweise diese negativen Wirkungen sich verstärken. Denken Sie an die Diskussion um die Sicherheit. Natürlich haben wir auch früher schon mit Aggressionen zu tun gehabt aber nur in Einzelfällen. Und natürlich wird jede Agentur hier auch ein Sicherheitskonzept vornehmen, aber wir können doch nicht so tun, dass wenn jetzt eine ganz neue Kundengruppe auf uns zu kommt, dass dann automatisch die Sicherheitsprobleme in eine neue Dimension ausarten.

    Meurer: Gehen Sie davon aus, jedes Arbeitsamt wird jetzt unter Polizeischutz gestellt?

    Gildemeister: Nein, überhaupt nicht, überhaupt nicht. Wir haben, wie gesagt, auch schon vorher Modellversuche in zwei Agenturen hier durchgeführt und wir werden uns auch auf die Situation einstellen, aber wir werden doch auch unseren Kunden nicht gerecht, wenn wir automatisch davon ausgehen, dass sich das Gefährdungspotential drastisch hier erhöht. Und das meine ich, das ist diese Stimmung, die sich hier breit macht, die letzten Endes auch zumindest den Erfolg der Reform gefährden, wenn sich das noch entsprechend verstärken wird.

    Meurer: Es gibt seit gestern Hinweise, Herr Gildemeister, dass es vielleicht doch im Januar zu Auszahlungen des Arbeitslosengeldes II gibt, das könnte man so verstehen, was der SPD-Generalsekretär Benneter gesagt hat, würden Sie das gerecht finden, wenn im Januar bezahlt wird?

    Gildemeister: Das Problem ist hier, dass wir zwei unterschiedliche Systeme mit zwei unterschiedlichen Auszahlmodi haben, nicht, Arbeitslosenhilfe wird immer nachträglich gezahlt, Sozialhilfe im voraus. Diese Frage wird ja demnächst auch das Bundeskabinett entsprechend entscheiden.

    Meurer: Aber so wie es im Moment ist, bekämen die Arbeitslosenhilfeempfänger, die bisherigen, im Januar doch kein Geld.

    Gildemeister: Naja, die Arbeitslosenhilfe, die wird ja Ende des Monats Dezember ausgezahlt, das ist jetzt die Betrachtungsweise, wie man das ansieht. Wir müssen hier natürlich auch, sagen wir mal, die knappen Ressourcen miteinbeziehen und das ist ja auch letzten Endes der Grund, dass wir hier Synergieeffekte der beiden Sozialleistungssysteme praktisch diese nutzen wollen, um sagen wir mal auch, und das wird ja immer vergessen in der Diskussion, wir reden immer nur über die finanziellen Leistungen, die Chancen, die Chancen bei Hartz IV liegen natürlich in einer unheimlichen Ausweitung der Beschäftigungseffekte.

    Meurer: Also Sie bestreiten, dass Hartz IV keine Arbeitsplätze bringt im Osten?

    Gildemeister: Nein, natürlich werden damit eine Vielzahl von neuen Beschäftigungsmöglichkeiten erschlossen, die wir so bisher überhaupt nicht hatten. Also insofern wird das also zu einem neuen Push an zusätzlicher Beschäftigung führen.

    Meurer: Aber die Gewerkschaften sagen, aber die Gewerkschaften sagen, Entschuldigung, dass werden nur Jobs für ein oder zwei Euro die Stunde.

    Gildemeister: Das mag ja sein am Anfang, aber häufig wird dadurch auch der Zugang in den ersten Arbeitsmarkt erschlossen und diese Chancen sehe ich durchaus auch sehr konkret.

    Meurer: Das Stephan Gildemeister, er ist der stellvertretende Leiter der Regionaldirektion Sachsen Anhalt/Thüringen der Bundesagentur für Arbeit nach den Demonstrationen gestern in Magdeburg. Ich bedanke mich Herr Gildemeister, wiederhören nach Magdeburg.

    Gildemeister: Auf Wiederhören.