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Hartz-Reformen: vieles ist gelungen, manches nicht

Insgesamt hätten sich die Hartz-Reformen gelohnt, sagt der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering. Doch wie bei vielen "großen Sachen" seien auch hier Fehler passiert. Nach zehn Jahren sei es endlich notwendig, den flächendeckenden Mindestlohn einzuführen und die Leiharbeit stärker zu kontrollieren.

Sandra Schulz stellt Fragen an Franz Müntefering | 16.08.2012
    Sandra Schulz: Die Hartz-Kommission übergibt ihren Bericht, heute vor zehn Jahren war das, Gerhard Schröder berichtete aus unserem Hauptstadtstudio, und darüber wollen wir in den kommenden Minuten sprechen mit dem Mann, der am 16. August 2002 Generalsekretär der SPD war, kurze Zeit darauf SPD-Fraktionschef im Bundestag, danach SPD-Vorsitzender und Vizekanzler. Guten Morgen, Franz Müntefering!

    Franz Müntefering: Guten Morgen, Frau Schulz!

    Schulz: Der Jahrestag, das Jubiläum – ist das ein Grund zum Feiern?

    Müntefering: Nein, zum Feiern nicht, aber drüber sprechen ist schon in Ordnung.

    Schulz: Das machen wir ja jetzt gerade. Wir haben es noch mal gehört: Die Kritikpunkte, die sind bis heute in der Welt – Ausweitung des Niedriglohnsektors. Stimmt da nicht der Vorwurf, die Agendapolitik habe viele Menschen arm gemacht?

    Müntefering: Es war nötig, etwas zu tun, denn die Arbeitswelt verändert sich, sie verändert sich immer noch weiter und der Prozess ist ja auch nicht zu Ende. Es war damals sehr lahm am deutschen Arbeitsmarkt und deshalb war die Entscheidung des Bundeskanzlers Schröder im Februar 2002, zu sagen, wir setzen diese Kommission ein, richtig. Wir haben dann die Ergebnisse praktikabel gemacht, einiges ist umgesetzt, einiges nicht. Manches, vieles ist gelungen, manches nicht. Das ist aber immer bei großen Sachen so, da werden auch Fehler gemacht, das ist klar. Insgesamt hat es sich gelohnt. Es hat eine neue Stabilität gegeben, neue Impulse am Arbeitsmarkt, und inzwischen natürlich auch günstigere Zahlen bei den Arbeitslosen selbst.

    Schulz: Aber was haben die Menschen von Stabilität oder von der Stabilität, von der Sie sprechen, die in prekären Arbeitsverhältnissen sind?

    Müntefering: Da muss noch einiges verändert werden, das ist aber auch nicht neu. Also wir wollen ja, seit einigen Jahren ist das auch ganz offensichtlich und beschlossen und vielmalig gefordert, dass in der Leiharbeit sich etwas verändert. Das kann so nicht bleiben. Da sind wir betrogen worden von Unternehmen, die nicht den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit zahlen, von solchen, die Leute ausgesourct und die ihre eigenen Leiharbeitsfirmen gegründet haben. Das muss dringend verändert werden. Es muss den gesetzlichen Mindestlohn geben, das ist eine Begleitbedingung für das Gelingen dieser Gesetze, aber dazu braucht man Mehrheiten in der Politik, und die gibt es bisher leider nicht.

    Schulz: Ja, wenn wir aufs Thema Altersarmut schauen, da gibt es ja jetzt einen Vorstoß von der amtierenden Arbeitsministerin, von Ursula von der Leyen. Die Konsequenzen, die werden von ihr für so gravierend gehalten, dass sie jetzt Zuschussrenten einführen will. Muss da eine konservative Politikerin kommen, um die sozialdemokratische Politik sozialdemokratisch zu machen?

    Müntefering: Wo Frau von der Leyen drüber spricht, da geht es ja darum, dass die Löhne zu niedrig sind, die gezahlt werden, dass die Ansprüche, die Rentenansprüche der Menschen zu niedrig sind. Da bin ich ganz schnell wieder beim gesetzlichen Mindestlohn, flächendeckend: Wenn die Löhne ordentlich sind in Deutschland, wird es auch keine Altersarmut geben. In unserem Sozialsystem ist zwingend verbunden miteinander der Bereich der guten Löhne mit den guten Renten. Gute Löhne, gute Renten – das ist der entscheidende Punkt.

    Schulz: Also Schuld sind die anderen, aber keineswegs die Agendapolitik der SPD?

    Müntefering: Na ja, das ist immer so einfach, wissen Sie, das ist ein kompliziertes Feld, in dem man arbeitet, und ich sage noch mal ganz bescheiden: Natürlich, es gibt immer auch Schwächen in einer Umsetzung solcher Dinge. Aber da pauschal zu sagen, der ist Schuld oder jener ist Schuld, das ist Unsinn. Richtig und entscheidend war, dass wir damals gesagt haben: Wir müssen unter dem Gesichtspunkt von Fördern und Fordern dafür sorgen – und das war der entscheidende, große Aspekt dabei –, dass 800.000, 900.000 Menschen, die Sozialhilfeempfänger waren und als solche Sozialhilfe bekamen, aber nicht mehr am Arbeitsmarkt aktiviert wurden, dass die wieder einbezogen werden. Und das ist die große, zentrale Leistung dieser ganzen Vorgänge, dass wir einen Großteil dieser Menschen wieder hineingeholt haben in den Arbeitsmarkt, hat auch was mit Menschenwürde zu tun, dass wir gesagt haben: Wir fördern und fordern. Wir helfen euch, unterstützen euch, aber wir müssen auch anregen und bitten, so weit ihr könnt in den Arbeitsmarkt zurückzukommen. Da muss der Arbeitsmarkt dazu stimmen. Die Hälfte ist zurückgekommen, und das halte ich für einen großen Erfolg dieses ganzen Vorgangs, dass wir nicht die Schwächen aussortieren, beiseiteschieben, sondern dass wir ihnen helfen, in den Arbeitsmarkt hineinzuwachsen, und da hat es spezielle Programme gegeben für die Arbeitgeber, für die, die neue Arbeit suchen, und das war schon richtig.

    Schulz: Ja, geben Sie mir die Gelegenheit, vielleicht auch mal eine Frage einzuflechten. Wenn das alles so gut und richtig war, warum verstehen die meisten Sozialdemokraten das bis heute nicht. Wie erklären Sie sich das?
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    Müntefering: Ich habe nicht gesagt, dass alles gut und richtig war, sondern dass dieser entscheidende große Punkt ganz wichtig war. Ja, gut, es hat natürlich, als wir das zum 1. Januar 2005 wirksam machten, eine Konsequenz gegeben: Die Zahl der Arbeitslosen stieg schlagartig durch das, was ich gerade beschrieben habe, um 800.000, 900.000. Dann kam die große Zahl fünf Millionen, dann kam die Wahl in Nordrhein-Westfalen, die für uns verhängnisvoll ausging, und diesen Zusammenhang hat man schon gesehen. Man kann schon sagen, dass wir als Partei bezahlt haben für das, was da zunächst mal geschah. Aber wir haben recht behalten auf der langen Strecke, und ich hoffe, wir bekommen das auch noch wieder gutgeschrieben bei den nächsten Wahlen.

    Schulz: Ja, aber Sie haben es uns immer noch nicht oder vielleicht sich selbst noch nicht erklärt, Gerhard Schröder hat es in der letzten Woche in der "Zeit" noch mal zugespitzt, er sagt: Die Agendapolitik werde weltweit bewundert, nur in der eigenen Partei, in der SPD, nicht. Woran liegt das?

    Müntefering: Ja, an den Dingen, die ich gerade beschrieben habe, und weil damit natürlich einige Maßnahmen verbunden waren, die ganz schwierig zu vermitteln waren – stimmt die Höhe der Sätze, die bezahlt werden, ist das mit der Bedarfsgemeinschaft in Ordnung, wie macht man das eigentlich vor Ort mit der Vermittlung der Langzeitarbeitslosen? Da war sicher eine Schwäche des ganzen Konzepts, da haben wir die vor Ort sehr viel alleine gelassen. Aber man muss so etwas lernen. Und ich sage Ihnen: Die Arbeitswelt ist so weit in Veränderung, dass wir nach wie vor darauf achten müssen, dass Dinge getan werden, die auch in einer so veränderten Welt denen, die jung sind, eine Chance gibt. Das größte Problem heute für mich ist, dass zu viele junge Leute keine Sicherheit im Beruf und im Einkommen haben, und dass deshalb auch zum Beispiel Kinderwünsche nicht realisiert werden. Und daraus ergeben sich wieder alle möglichen Konsequenzen. Also das Thema ist nicht zu Ende, das darf man nicht als eine statische Größe ansehen, die Arbeitswelt, da verändert sich viel, und da werden wir dranbleiben müssen.

    Schulz: Franz Müntefering, das Stichwort muss ich aufnehmen mit den jungen Leuten, vielleicht auch mit den jungen Eltern: Wer soll denn jetzt kandidieren für die SPD im kommenden Jahr?

    Müntefering: Ich habe, als ich mal Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der Partei war und Fraktionsvorsitzender, Generalsekretär, dafür plädiert: 30 unter 40. Man braucht auch immer wieder junge Leute dabei, denn da kommt die Innovation und da können die Alten und die Jungen gut miteinander arbeiten.

    Schulz: Ja, die SPD tritt oder positioniert sich im Moment mit einer Troika: Steinbrück, Steinmeier und Gabriel. Wer soll kandidieren im kommenden Jahr?

    Müntefering: Das hat mit Arbeitslosengeld und Hartz IV wenig zu tun.

    Schulz: Ach so, wir dachten, das sei eine Konsequenz, der Streit und die Positionierung. Haben wir das falsch verstanden?

    Müntefering: Ich habe verstanden, dass alle Journalisten zum Schluss diese Frage stellen wollen, aber es ist vergeblich, Sie wissen es ja.

    Schulz: Wenn die Frage vergeblich ist, dann ist die vielleicht nicht vergeblich, ob die Diskussion, die ja unter der Decke gehalten werden soll bis nach der Niedersachsen-Wahl, ob die Diskussion, so wie sie geführt wird, eben so mit den tröpfelnden Stimmen, ob die der Partei nicht auch schadet?

    Müntefering: Ach, da werden wir … nach einem halben Jahr wird da keiner mehr dran denken. Es gibt einen Fahrplan, der wird eingehalten, und dann, wenn die Musik anfängt, dann geht es in den Wahlkampf und dann werden wir sehen.

    Schulz: Franz Müntefering, früherer Vorsitzender der SPD, heute hier in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Haben Sie herzlichen Dank für das Interview!

    Müntefering: Ja, bitte schön, Frau Schulz!

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