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"Haus der Räte" in Kaliningrad
Die brutalistische Moderne fällt

Zu Sowjetzeiten wurde am "Haus der Räte" in Kaliningrad über 20 Jahre lang gebaut. Fertig wurde es nie. Nun soll das wuchtige Gebäude abgerissen werden. Allerdings hat der Koloss in der Stadt inzwischen auch echte Fans.

Von Thielko Grieß | 01.01.2021
Mauerreste vom Königsberger Schloss, hinten das Haus der Räte in Kaliningrad, Russland
Das "Haus der Räte" wird abgerissen. Kommt das Schloss zurück oder ein Shopping-Center? (imago images / imagebroker / Gabriele Thielmann)
Steht man lange genug vor dem sehr stabilen grünen Bauzaun rund um das Haus der Räte, dann kommen irgendwann die Wachhunde. Und ein Wachmann. Der Koloss ist nicht zugänglich.
Dabei war er ohnehin nie richtig geöffnet: Von 1970 bis zu ihrem Untergang 1991 baute die Sowjetunion an dem mehr als 70 Meter hohen Beton- und Stahlkasten. An diesem Gebäude mit seinen 21 Stockwerken ist praktisch alles eckig: die beiden großen Türme, die ihm den Spitznamen Roboterkopf eintrugen, die Querverbindungen in großer Höhe, das Flachdach. Der Bau ging manchmal nur schleppend voran, mal fehlte Material, mal das Geld, mal taten sich statische Überraschungen auf.
Als nach 1991 keiner mehr etwas von einer Räteregierung wissen wollte, wusste auch niemand mehr so recht, was mit dem Haus zu tun sei. Die Eigentümer wechselten, viele Nutzungskonzepte scheiterten, fast 30 Jahre lang ging das so. Bevor nun die Bagger kommen, lohnt sich jedoch ein genauerer Blick auf die Fassade, gemeinsam mit Jewgenij Mossijenko, der die Baugeschichte des Gebiets Kaliningrad erforscht.

Russische Architektur ihrer Zeit

"Auf den ersten Blick mag das Gebäude unansehnlich und uninteressant erscheinen, aber wenn wir genau hinschauen, dann ist zu bemerken: Jede Fensterleibung besitzt eine Akzentuierung. Jedes Fenster wirkt wie eine einzelne Zelle. Und wenn wir hinaufschauen, dann verleihen diese Zellen dem Antlitz einen bestimmten Rhythmus. Das macht es anziehender. Es ist Architektur ihrer Zeit, man kann sogar sagen: Sie ist modisch. Alles nach den Gesetzmäßigkeiten und dem Stil jener Periode."
Der sowjetische Modernismus, der Brutalismus. Menschen wie Mossijenko sind in Kaliningrad mit dem Rätehaus aufgewachsen. Für sie gehört es zur Identität der Stadt, zu ihrer Heimat. Mossijenko, heute 34 Jahre alt, kennt noch die wilden Partys, die in dem leerstehenden Bau gefeiert wurden. Und er kennt Extremsportler, die von hoch oben ihre Sprünge machten.

Plan für ein neues Stadtzentrum

Nun aber will Gouverneur Anton Alichanow ein neues Stadtzentrum, das in der Tat bisher unter seinen Möglichkeiten bleibt. Der Gouverneur will die Bagger im Februar oder März anrücken lassen. Er stützt sich auf ein Gutachten, das dem Rätehaus durch die lange Nichtnutzung Schäden zuschreibt, die nur sehr teuer zu beheben seien. Abriss und Neubau seien da billiger.
Nur: Was dann gebaut werden soll an dieser prominenten Stelle, ist völlig unbekannt. Manch einem in Kaliningrad schwant daher bereits, das werde kein gutes Ende nehmen. Wie zum Beispiel Pjotr Tschernenko, Vorsitzender der regionalen Architektenkammer.
Eine Lange Nacht über Ostpreußen - Zwischen Königsberg und Kaliningrad
Ostpreußen war bis zum 9. April 1945 die östlichste Provinz des Deutschen Reiches: 700 Jahre deutscher Geschichte gingen mit dem Fall von Königsberg zu Ende – die Stadt wurde zu Kaliningrad. Doch das versunkene Königsberg führte immer ein Eigenleben und drängt allmählich nach oben.

"Architektur und Städtebau sind komplizierte Dinge. Um zu entscheiden, welchen Weg ein solches Gelände nimmt, dieser komplizierte Ort, sind die Meinungen zweier Architekten, die den Gouverneur beraten, katastrophal wenig – wenn man weiß, dass beide keine Städtebauer sind."
Tschernenko verweist auf Projekte der vergangenen Jahre in Kaliningrad: der Fischmarkt in unmittelbarer Nähe des Doms und der Siegesplatz. Architektonische Beliebigkeit und wenig Expertise, so die Kritik.

Schloss oder Shopping-Center

Dabei gibt es für die bauliche Zukunft des Zentrums dieser Stadt wohl keinen wichtigeren Ort. Fast an der Stelle des Rätehauses stand früher, als Kaliningrad noch Königsberg hieß, das berühmte preußische Schloss der Stadt. Bei Kriegsende war es eine ausgebombte Ruine, die Sowjetunion ließ die Reste schließlich sprengen. Ein Wiederaufbau ist eine immer wieder vorgetragene Vision – aber ein breiter Wille dazu ist in der Stadt nicht zu erkennen.
Was dann? Ein Shopping-Center? Eine Kulturmeile? Eine Fußgängerzone? Der Gouverneur will innerhalb weniger Monate entscheiden; eine breite öffentliche Beteiligung wird es wohl nicht geben.
Wenn das stilbildende Dom Sowjetow, das Haus der Räte, schon abgerissen werde, dann wenigstens mit Anstand, so sagt es Historiker Mossijenko.
"Man sollte versuchen, Leuten den Zugang zu ermöglichen, die dort noch nicht waren. Damit sie sich verabschieden können, damit sie Tschüss sagen können. Damit sie hochgehen und auf die Stadt schauen können."
Denn das Rätehaus ist mit seiner ganzen kastenhaften Unfertigkeit eben auch dies – ein Symbol seiner Stadt Kaliningrad.