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Hazel Frost: "Last Shot"
Exaltierter Groschenroman mit schmerzhaftem Kern

2012 wurden auf einem Parkplatz in den französischen Alpen vier Leichen gefunden, die Hintergründe sind bis heute ungeklärt. Hazel Frost greift diesen Fall in "Last Shot" auf und entwickelt eine sehr eigene Geschichte daraus, die nichts mit dem realen Fall, aber doch mit der Realität zu tun hat.

Von Kirsten Reimers | 06.08.2019
Die Wendelsteinkirche Patrona Bavariae auf 1.730 Metern Höhe.
In den Bergen in der Nähe von Bayrischzell werden in Hazel Frosts Thriller "Last Shot" drei Menschen in einem Pkw erschossen. (imago - imagebroker)
"Manche Tage sind schicksalhaft. Andere sind verregnet. Wieder andere sind beides zugleich."
Auf einem Parkplatz in den Bergen irgendwo in der Nähe von Bayrischzell werden bei strömenden Regen drei Menschen in einem Pkw erschossen: ein Vater mit seinen beiden erwachsenen Zwillingstöchtern. Dima, der ebenfalls erwachsene Sohn, entkommt durch einen Zufall und kann flüchten. Doch das Paar, das ihn am Fuße des Berges einsammelt und im Auto mitnimmt, entpuppt sich nicht als rettende Hilfe: Slick, ein dürrer Crack-Junkie, hält eine Schusswaffe gegen Dimas Penis, um ihn gefügig zu machen, während Betty, eine voluminöse Prostituierte, sehr eigene Pläne verfolgt.
Am Tatort ist inzwischen Laser eingetroffen, ein Rettungssanitäter, der samt Krankenwagen auf dem Weg zur Berghütte seiner Eltern ist. Laser – er heißt tatsächlich so – hat angehalten aus dem Impuls zu helfen. Für die Opfer kommt jede Hilfe zu spät, Laser jedoch wird als Geisel genommen von der mutmaßlichen Täterin. Diese nennt sich November und reißt den Sanitäter nicht nur aus dem gewohnten Leben, sondern auch aus einer toxischen Beziehung heraus.
Die Ermittlungen übernimmt währenddessen Kamilla Rosenstock vom BKA. Sie erhält ungewollte Unterstützung von einem Kollegen mit dem Namen Horst Horst. Die beiden finden unter einer der Leichen im Auto ein kleines Mädchen, das wie durch ein Wunder überlebt hat.
Ausgefallene Figuren und bizarre Details
"Last Shot" von Hazel Frost beginnt wie ein typischer Thriller – eiskalte Morde und eine noch kältere Killerin mit einem geheimnisvollen Motiv –, doch schon nach wenigen Seiten wird klar, dass hier einiges anders ist. Die Autorin spielt mit Elementen des Pulp – des Groschenromans – und der Graphic Novel, die Handlung ist überzogen und grell, manches verlängert sich ins Surreale.
Die Figuren sind herrlich schräg und ausgefallen. Hazel Frost stellt sie in kleinen, graphisch abgesetzten Exkursen vor. Diese Abschweifungen passen sich trotz der Handlungsunterbrechung gekonnt ein und bereichern die Story um bizarre Details. Die Autorin kümmert sich nicht um Genderzuordnungen. Bei ihr sind Frauen ebenso gewaltbereite Täterinnen, wie Männer sentimentale Typen mit Helferkomplex sein können. Dabei erstarren die Figuren weder in Klischees, noch werden sie zur Karikatur. Sie sind gezeichnet mit Lust am Abgründigen wie Absurden; so zum Beispiel die sogenannten Tarot-Schwestern. Sie sind angelehnt an den Mythos des Sukkubus, eines weiblichen Dämons: Kitty und Cat werden als wunderschönes Zwillingspaar beschrieben, das mithilfe von Tarotkarten unbekannte Telefonnummern herausfinden kann und Männern jegliche Lebensenergie aussaugt.
Ermittlungen zwischen Slapstick und Philosophie
Besonders charmant ist das Ermittlerpaar wider Willen, Kamilla Rosenstock und Horst Horst:
"‚Das ist ein Schwimmbadausweis.‘
Der kleine, dunkle Mann mit den großen Augen und den langen Wimpern drehte das laminierte Stück Papier erstaunt herum, als sehe er es zum ersten Mal. (…)
‚Oh‘, äußerte [er]. Er war kurz vor dreiundzwanzig Uhr noch hier aufgetaucht. (…) Der Parkplatz war völlig zugestellt: Polizei, Feuerwehr, Gerichtsmedizin, das volle Programm. Nur der Notarzt zog unverrichteter Dinge wieder ab. (…) Umständlich holte [der kleine Mann] seinen Geldbeutel hervor, steckte den Ausweis weg, nicht ohne einen anderen aus der sichtlich großen Auswahl an Karten und Dokumenten hervorzuholen.
‚Hören Sie. Das ist eine Ermittlung, und ich habe jetzt wirklich keine Zeit.‘ (…) Die Augen halb zugekniffen, hielt sie den neuen Ausweis von sich weg, den er ihr reichte. ‚Nein.‘ Sie schüttelte den Kopf. Irgendeine Payback-Karte. Der Typ würde sie noch in den Wahnsinn treiben. (…)
Ein anderer Ausweis, jetzt grün und aus Papier, was sie zwang, sich weit nach vorn zu beugen. ‚Horst Horst?!?‘ (…)
Der gut aussehende kleine Mann nickte. Nur widerstrebend überließ er ihr den Ausweis – für einen Moment zogen sie beide dran –, dann gab sein Besitzer nach. Nun erkannte sie kurzsichtig den offiziellen Stempel der Polizeibehörde."
Die Interaktionen der beiden schwanken zwischen Slapstick und philosophischem Diskurs:
"Kamilla wies darauf hin, dass es sich um ein Menschenleben handelte. Persönliche Befindlichkeiten verböten sich von selbst. Sie führte Karl Jaspers an und dass Subjekt und zu erkennendes Objekt einer Spaltung unterlägen. Horst wendete ein, dass es sich hier wohl eher um eine Subjekt-Subjekt-Spaltung handele. Und er persönlich habe den Eindruck, dass nach dieser Verquickung der Umstände kaum von Spaltung gesprochen werden könne. Kamilla behauptete stur, dass Spaltung nur durch Mystik aufzuheben sei, aber das helfe an dieser Stelle nicht."
Verwobenes Netz aus Querverweisen und Beziehungen
Prostitution, illegaler Waffenhandel, organisiertes Verbrechen, Drogenkriminalität, Ausbeutung von Frauen – der Thriller reißt ein breites Spektrum an Themen an und ist dabei gespickt mit verdeckten und offenen Querverweisen in Kunst, Mythologie, Film und Literatur.
"Dass du ihm das Ohr abgeschnitten hast, erinnert mich an einen Film."
"So. Tut es das?"
"Aber der Titel fällt mir nicht mehr ein."
"Interessiert mich nicht."
"Ist auch egal. Hast du das mit dem Ohr nachgemacht?"
"Was habe ich?" Der Beifahrersitz quietschte (…).
"Kam dir deshalb die Idee?"
"Garantiert nicht", schnappte Betty.
"Betty kennt alle Filme", erklärte Slick stolz.
"Halt doch endlich mal die Klappe, Slick! Warum sollte ich das tun? Ich habe es nicht nötig, jemanden nachzuahmen."
"Dann nenn es eine Hommage."
"Das würde ich, wenn ich, zum Teufel, wüsste was das ist. Was unterstellst du mir? Dass mir nichts Eigenes einfällt?"
Dima schwieg. Keiner sagte mehr etwas.
"Ich könnte mir was Besonderes einfallen lassen, glaub mir. Aber ich hatte nur die blöde Schere dabei. Was hätte ich tun sollen? Ihn mit meinem Lippenstift zu Tode malen, ihn mit ’nem Kondom ersticken?"
Hazel Frost ist ein Pseudonym, dahinter steckt – das ist bekannt – die Autorin Katja Bohnet. Obwohl "Last Shot" deutlich exaltierter ist als Bohnets andere Thriller, lässt sich ihre Handschrift wiedererkennen. So ist zum Beispiel alles mit allem verknüpft. Die Figuren verbindet – das wird nach und nach sichtbar – ein enges Netz aus Beziehungen. Zudem wird jeder Faden wieder aufgenommen und eingebunden – unter anderem, indem nach dem Showdown, dem Ende der eigentlichen Haupthandlung, die Vorgeschichte erzählt wird – und danach das, was auf den Showdown folgt.
Dadurch wird erkennbar, dass dem Thriller trotz aller Überdrehtheit ein wichtiges Thema zugrunde liegt: die Auswirkungen von Gewalt, die Spuren, die sie bei Opfern und Tätern hinterlässt, die inneren und äußeren Narben, die auch nach Jahren nicht verheilen.
"Irgendwann kam alles zurück. Ein Bumerang, ein Dankeschön, Gewalt."
"Last Shot" von Hazel Frost bedient zahlreiche Thriller-Konventionen in einer übererfüllenden und überzogenen Weise, so dass er fast zur Farce wird und das Genre ad absurdum führt. Das ist kunstvoll und klug konstruiert.
Hazel Frost: "Last Shot". Droemer Knaur, München. 363 Seiten, 14,99 Euro.