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Hédi Kaddour: "Die Großmächtigen"
Einträufeln von unsichtbarem Gift

Das nordafrikanische Städtchen Nahbès in den 1920er-Jahren: Das klingt nach nostalgischem Exotismus. Doch "Die Großmächtigen" von Hédi Kaddour ist ein hintergründiger, packend erzählter Roman, der die Wunden aufzeigt, die Frankreich als Kolonialmacht geschlagen hat - und die bis heute kaum verheilt sind.

Von Dina Netz | 15.10.2017
    Buchcover: Hédi Kaddour: Die Großmächtigen
    Buchcover: Hédi Kaddour: Die Großmächtigen (Aufbau Verlag / dpa/ epa/ Etienne Laurent)
    Frankreich ist in diesem Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse, und so erscheinen in diesen Wochen ganze Stapel französischsprachiger Bücher in deutscher Übersetzung. Viele, sehr viele von ihnen arbeiten sich an der aktuellen Situation in Frankreich ab, an den sozialen Spannungen, an der Jugendarbeitslosigkeit, der lahmenden Wirtschaft, am Terror.
    Fouad Laroui und Rachid Benzine zum Beispiel gehen in ihren neuen Romanen der Frage nach, was junge Männer in die Arme des sogenannten "Islamischen Staates" treibt. Aya Cissoko und Leïla Slimani fragen, was der soziale Anpassungsdruck mit Migrantinnen macht. Joseph Andras thematisiert ein bisher weitgehend unbekanntes Kapitel des Algerienkriegs und deckt damit bis heute nicht verarbeitete Traumata auf. Ähnlich Valérie Zenatti: Sie beschäftigt sich mit dem Umgang Frankreichs mit den algerischen Juden, die der Staat im 20. Jahrhundert, kurz gesagt, für seine Zwecke missbraucht habe.
    Das sind viele Namen und Romane, denen man noch Dutzende hinzufügen könnte und die alle auf ihre Weise Analysen liefern und Antworten suchen auf die Frage, warum die große Nation Frankreich heute ist, was sie ist: Ein Land in der Krise, das seine Rolle in Europa und nichts weniger als seine Identität sucht.
    In das Konzert dieser Autoren mit politischem Anspruch fügt sich auch Hédi Kaddour ein. Oder eher: Kaddour spielt in diesem Konzert die erste Geige. Sein Roman "Die Großmächtigen" ist einer der umfassendsten, dabei zugleich subtilsten und literarisch ausgefeiltesten Beiträge zur gegenwärtigen Frankreich- und Weltlage.
    Einer der umfassendsten Beiträge zur Lage in Frankreich
    Dabei beginnt "Die Großmächtigen" ein bisschen wie eine nostalgische Erzählung aus "Tausendundeiner Nacht". Kaddour führt als erste Figur die schöne und kluge Rania ein. Und auch der Schauplatz klingt nach romantischem Exotismus: Der Roman spielt Anfang der 1920er Jahre im nordafrikanischen Städtchen Nahbès, im Süden eines nicht namentlich genannten französischen Protektorats. Nahbès ist durch ein Wadi, ein trockenes Flussbett, in zwei Teile geteilt:
    "Zwei ganz verschiedene Städte, hier die alten Festungswälle, die Moschee und die Souks, dort die Post, der Bahnhof, das Krankenhaus und die Avenue Jules-Ferry, eine Eingeborenenstadt und eine europäische Stadt, die im Fall von Unruhen mithilfe einer Kompanie senegalesischer Tirailleure, die man in der Schlucht auf der einzigen Brücke zwischen beiden Teilen postierte, im Nu voneinander isoliert werden konnten, eine Doppelstadt voller Stolz auf das, was man ihre harmonische Dualität nannte."
    Hédi Kaddour bereitet es erkennbar Vergnügen, seine Leser auf falsche Fährten zu führen. Denn was er zunächst inszeniert als ruhige Kleinstadt in den 20er Jahren, entpuppt sich bald als Pulverfass. Der Stolz auf die "harmonische Dualität" in Nahbès liegt wohl eher auf französischer Seite, unter den Einheimischen nehmen gerade die Unabhängigkeitsbestrebungen zu.
    Nahbès ist eine fiktive Stadt, und auch das Protektorat, in dem sie liegt, wird nicht genannt. Marokko oder Tunesien sind denkbar, in beiden Ländern kennt Hédi Kaddour, der selbst Sohn eines Tunesiers und einer Französin ist und auf Französisch schreibt, sich gut aus, er hat lange dort gelebt. Wo genau die Geschichte spielt, ist ohnehin unerheblich – Nahbès ist ein exemplarischer Ort. Ein Protektorat hat Kaddour wohl deshalb gewählt, weil diese etwas seltsame Zwitter-Konstruktion aus "Nicht-ganz-Kolonie", aber eben doch von Frankreich geführt, umso mehr Spannungen erzeugt, als beide Gruppen nach mehr Macht streben: Die französischen Siedler hätten gern eine Kolonie für klare Verhältnisse; die Einheimischen, von den Franzosen despektierlich "Eingeborene" genannt, sehnen sich nach Unabhängigkeit. Sie wollen nicht länger die "Voyeure ihrer Geschichte" sein, wie es im Buch heißt.
    "Amerikaner geben sich viel freizügiger als die Franzosen"
    Als der Roman einsetzt, herrscht relative Ruhe, wenn auch von "harmonischer Dualität" keine Rede sein kann. Doch dann kommt ein US-amerikanisches Filmteam nach Nahbès, das am Originalschauplatz eine Schmonzette mit Scheich drehen will und das sich wenig an die lokalen Gepflogenheiten hält. Die Amerikaner geben sich viel freizügiger als die Franzosen, ihre Frauen lassen viel Haut und Haar sehen, setzen sich ganz selbstverständlich mit den Männern an einen Tisch. Vor allem bleiben sie nicht unter sich, sondern veranstalten Partys, die sehr gut besucht sind – zum Leidwesen der Franzosen nicht nur von Franzosen.
    "Die Amerikaner hatten die Gewohnheit angenommen, "Eingeborene" einzuladen, dies ist das Wort, das die Kolonisten gebrauchten, wenn sie außerhalb des Rahmens offizieller Reden von den Einheimischen sprachen, sie hätten auch "Araber" sagen können, aber das hätte den Nachteil gehabt, die im Land geborenen Juden nicht in ihre Verachtung einzuschließen, kurz: Die Amerikaner behandelten die Eingeborenen mitten in der europäischen Stadt wie ihresgleichen, die gebildeteren natürlich, jene, die auf französische Schulen gegangen waren oder noch gingen, junge Bourgeois, aber eben jene, die auf eine katastrophale Umwälzung der bestehenden Verhältnisse drängten. Und wenn es in der modernen Stadt bereits einige Orte gab, einige Cafés zum Beispiel, wo die beiden Gesellschaften, Europäer und Eingeborene, einander begegneten, traf man dort doch keine Frauen an, und man gruppierte sich in bestimmten Abschnitten des Raums oder der Terrasse, stets getrennt durch eine Reihe staubbedeckter Tische, die im allgemeinen Einvernehmen nie besetzt wurden und die abzuwischen alle Ober geflissentlich vermieden."
    Plötzlich stehen sich in Nahbès also statt der gewohnten zwei drei Welten gegenüber: Die der französischen "Großmächtigen", die sich wie Imperialisten gebärden, die der entmachteten einheimischen Bevölkerung, und schließlich die Traumfabrik Hollywood, die den Franzosen ihre Borniertheit spiegelt und die Einheimischen Morgenluft auf demokratischere, gleichberechtigtere Verhältnisse wittern lässt. Natürlich gibt es auch innerhalb dieser Welten erhebliche Spannungen.
    Das amerikanische Filmteam wirkt also wie ein Katalysator für die ohnehin in Nahbès schwelenden Konflikte. Und wie Hédi Kaddour diese ganz verschiedenen Spannungsfelder beschreibt, das hat die Qualitäten eines packenden Politthrillers. Denn Kaddour erzählt nicht abstrakt. Seine Geschichte transportieren einzelne Figuren, die stellvertretend für die Ideen und Konfliktlagen der 20er Jahre stehen. Und die man – das ist das besonders Erschreckende - behutsam aktualisiert auch heute noch in Frankreich oder Nordafrika antreffen könnte.
    Figuren stehen stellvertretend für die Konflikte der 1920er Jahre
    Auf der Seite der Einheimischen ist da zum Beispiel Raouf, der Sohn des Stammesfürsten, der so gar nicht den Vorstellungen seines Vaters entspricht, allerlei freiheitliche Gedanken hat, aber auch zu belesen und zu klug ist, um sich vor den Karren irgendeiner Ideologie spannen zu lassen. Er kennt die französische Literatur besser als die meisten Franzosen. Und wenn er das gegenüber französischen Gesprächspartnern durchblicken lässt, bringt sein Wissen ihm nicht Respekt, sondern Verachtung ein. Neid ist ein besonders gefährliches Gift. Raouf gibt als Berufswunsch an, "ein Neugieriger" werden zu wollen – darin ist er vielleicht auch ein Alter Ego seines Autors.
    Raoufs Konterpart ist Ganthier, ein französischer Siedler, der größte Grundbesitzer der Region, nicht besonders sympathisch, aber auch er eine zerrissene Seele: Er steht immer etwas am Rande der Franzosen, weil er gut Arabisch spricht, mit Raouf befreundet ist und das rassistische Spiel seiner Landsleute nicht recht mitspielt. Er träumt zum Beispiel davon, die Nordafrikaner zu französischen Bürgern zu machen.
    Die Figuren spiegeln also die gesellschaftlichen Konflikte ihrer Zeit wider, aber sie sind keine Typen. Kaddour zeichnet sie mit viel Präzision und Zuwendung als Individuen. Sein Erzähler wechselt die Perspektiven, versetzt sich in die unterschiedlichsten Figuren hinein, weckt mehr oder weniger Sympathien, aber er stellt niemanden bloß.
    Das Dilemma der arabischen Männer
    Kaddour gelingt außerdem das Kunststück, in einem Roman, in dem auf fast 500 Seiten Männer um die Macht streiten, eigentlich über Frauen zu schreiben, die bei ihm viel klüger und mutiger sind als die Männer. Kathryn zum Beispiel widmet er viel Aufmerksamkeit, der sensiblen und intelligenten amerikanischen Schauspielerin, die sich im von Männern dominierten Hollywood-Betrieb aufreibt. Damit führt Kaddour en passant auch das heutige Filmgeschäft vor, wo Frauen nach wie vor um ihre Plätze vor und besonders hinter der Kamera, als Regisseurinnen und Produzentinnen, kämpfen müssen.
    Das besondere Augenmerk Kaddours liegt auf Rania, Raoufs Cousine. Rania ist Witwe, deshalb darf sie am gesellschaftlichen Leben in Nahbès nicht teilnehmen. Dabei ist sie belesen, bewirtschaftet das Familien-Gut ganz allein. Die Versuche ihres Bruders, sie wieder zu verheiraten, scheitern daran, dass Rania von einer Liebesheirat träumt – ein ziemlich ungewöhnliches Konzept für eine arabische Frau der 20er Jahre. Kaddour macht Rania zu einer seiner Hauptfiguren in "Die Großmächtigen", denn sie ist nicht nur physisch größer als die meisten Männer. Eine Zeit lang hilft sie im Haus ihres Onkels Abdesslam aus, weil dessen Frau, Ranias Tante, krank ist. Und Abdesslam weicht ihr nicht von der Seite:
    "Er hatte sie beim Lesen einer Zeitung überrascht, keiner französischen Zeitung mit schönen Fotos und Reklame, sondern einer nationalistischen in arabischer Sprache, die Frankreich angriff, für das eigene Land eine Verfassung forderte und niemandem ein Loblied sang, weder dem Souverän noch dessen Ministern. Er hatte geschrien, sie hatte geschwiegen, hatte ihre runde Schildpattbrille abgesetzt, die Zeitung beiseitegelegt, ehe er sie wegnehmen konnte, und sich in aller Bescheidenheit entschuldigt. Der Onkel stellte ihr Fragen, über die Zeitung, über die Welt, sie antwortete mit stockender Stimme, die Hände auf den Knien, Floskeln, abgehackte Worte, konfuse Ideen, genau das, was er im Kopf einer Frau zu finden erwartete, aber wenn man das alles in die richtige Reihenfolge brachte, wurden es brisante Sätze, gefährliche Ideen. Sie wusste viel und wusste es zu überspielen. Sie schwieg nach ein paar Worten, und er war genötigt, eine Frage um die andere zu stellen, er widerlegte, was sie sagte, und sie gab zu, er habe recht, so habe sie die Dinge nicht gesehen, Frankreich sei stärker, nein, sie wisse nicht genau, was das Wort Nation bedeute, Abdesslam war sicher, dass sie log, doch schon kam sie mit einer anderen Idee, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ... Und Abdesslams Stimme wurde immer schneidender, je deutlicher er merkte, dass die von ihr angeführten Gründe große Ähnlichkeit mit den Gewissensbissen hatten, die ihn selbst plagen mochten."
    Das ist sie, die hohe Kunst des Hédi Kaddour: In einem Nebensatz nur spießt er gnadenlos das ganze Dilemma der arabischen Männer bis heute auf, die das Wasser, das sie ihren Frauen und Kindern predigen, selbst nicht mehr trinken mögen. Und so hält es Kaddour überhaupt mit den Ausdeutungen: Er beschränkt seine präzisen Analysen auf Halbsätze; der Löwenanteil seines Romans gehört seiner ausschweifend erzählten Geschichte und den Figuren, die für sich selbst sprechen.
    Die "Großmächtigen" treten am Rhein auf wie in Afrika
    Im Mittelteil lässt Kaddour, etwas überraschend, vier seiner wichtigsten Figuren nach Europa reisen, wo die Wunden des Ersten Weltkriegs geleckt werden und der Zweite sich bereits abzeichnet. In der Metropole Paris streifen sie die Fesseln von Rassismus und Sexismus ab. Später reisen sie weiter nach Berlin – über das von den Franzosen besetzte Rheinland. Am Rhein gebärden sich die Franzosen interessanterweise ganz ähnlich wie in Nahbès: Französische Offiziere zwingen deutsche Passanten, den Bürgersteig frei zu machen. Hätte ein weniger großmächtiges Auftreten der Kriegsgewinner nach den Versailler Verträgen vielleicht Hitler verhindern können? Auch diese Frage streift Hédi Kaddour, für den das Europa des 20. Jahrhunderts nicht aus unterschiedlichen Kriegsparteien besteht, sondern ein kompliziertes Gefüge ist, in dem alles mit allem eng zusammenhängt.
    Dabei handelt es sich auch noch um eine Ironie der Geschichte: Nicht wenige Soldaten am Rhein stammten aus dem Maghreb. Wie ja auch die französische Armee unter dem Kommando von General de Lattre de Tassigny am Ende des Zweiten Weltkriegs nicht Frankreich von den Deutschen hätte zurückerobern können ohne marokkanische und algerische Truppen. Solche späteren historischen Grotesken erwähnt Hédi Kaddour gar nicht. Aber "Die Großmächtigen" eröffnet einen Assoziationsraum, in dem einem diese und andere Absurditäten der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert sofort einfallen.
    Die Exkursion von vier Protagonisten nach Europa erweitert den Roman also um einige Dimensionen, was vielleicht gar nicht nötig gewesen wäre. Denn Kaddours Hauptthema ist bereits groß genug: Im ersten und dritten Teil des Buches ergründet er Frankreichs bis heute schwieriges Verhältnis zu den Maghreb-Ländern. Viele Probleme Frankreichs rühren daher, dass man die Einwanderer aus den früheren besetzten Gebieten heute kaum respektvoller behandelt als die damaligen "Eingeborenen". Die Verbrechen der Kolonialzeit sind längst nicht aufgearbeitet. Der neue französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat sehr zu recht betont, wie wichtig die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit für Frankreich sei. Hédi Kaddour hat mit "Die Großmächtigen" den Roman zum Thema vorgelegt. Er schreibt mit geradezu altmeisterlicher Gelassenheit und Weisheit über die Wunden, die Frankreich als Kolonialmacht geschlagen hat und die bis heute nur notdürftig verheilt sind.
    "Heute kaum weiter bei Rassismus und Nationalismus"
    Kaddour weist auf diese Zusammenhänge jedoch nicht hin, sein Roman ist alles andere als ein Lehrbuch in französischer Kolonialgeschichte. Nahbès ist ein Städtchen ganz und gar der 20er Jahre. Doch die Datierung ist völlig irrelevant, denn die Aktualität des Buches liegt leider auf der Hand: Die spannungsgeladene Zeit zwischen den zwei Weltkriegen wird nicht zufällig oft mit den heutigen unruhigen Zeiten verglichen. Und das Buch entlarvt, wie wenig weiter wir fast 100 Jahre später in Fragen von Rassismus, Nationalismus und Gleichberechtigung sind. Wobei Kaddour uns diese schockierende Erkenntnis nicht um die Ohren haut, sondern eher wie ein unsichtbares Gift einträufelt. Und das wirkt bekanntlich viel stärker.
    "Die Großmächtigen" ist durch und durch und bis in die unbedeutendste Nebenfigur hinein ein politischer Roman, littérature engagée. Kaddour hat ohne Zweifel das Buch zum herrschenden Zeitgeist geschrieben, indem er in Vergangenem die drängendsten Probleme der Gegenwart spiegelt. Aber "Die Großmächtigen" biedert sich dem Zeitgeist nicht an, läuft ihm nicht hinterher. Politik und Gesellschaft sind die beherrschenden Themen, sie drängen sich aber nie in den Vordergrund der eigentlichen Geschichte. Der Roman ist auch keine schwere oder gar pamphletartige Lektüre, und darin zeigt sich die literarische Meisterschaft Hédi Kaddours: Er hat zugleich einen opulenten und fesselnden Roman über universelle und zeitlose Themen geschrieben, über Liebe und Eifersucht, über Verrat und Mord, über Literatur und Film. Beeindruckend, wie Kaddour all seine Figuren und Handlungsstränge mühelos zusammenhält. Und diese Mühelosigkeit ist das Verblüffendste an "Die Großmächtigen". Kaddour schreibt in zum Teil seitenlangen, sich immer weiter verschachtelnden Sätzen – er hat sich viel mit Thomas Mann beschäftigt. Und seine Geschichte, die doch so voll ist von Figuren, Handlungssträngen und Informationen, fließt wie ein langer ruhiger Fluss dahin.
    Politische Relevanz, unterschnittener Witz
    Das hat sicher auch damit zu tun, dass "Die Großmächtigen" bei aller politischen Relevanz auch ein witziges Buch ist, natürlich mit einem unterschnittenen, gelehrten Witz. Der Roman ist grundiert von einer feinen Ironie, die dem Erzähler, aber auch seinen Hauptfiguren zu eigen ist: Sie nehmen sich selbst nicht so ganz ernst, und daraus entstehen einige sehr komische Situationen. Ein Beispiel für Kaddours Humor ist der Titel, der sich in der deutschen Übersetzung allerdings nicht recht niedergeschlagen hat und vielleicht auch nicht niederschlagen konnte. "Les Prépondérants" heißt der Roman im Original, ein langes, hochtrabendes Wort, das man ohne zu stolpern kaum aussprechen kann und dass das Affektierte der französischen Kolonialherren wunderbar wiedergibt. "Die Maßgeblichen" oder "Die Vorherrschenden" hätte man das Buch auch nennen können. Wie das amerikanische Filmteam in den Kreis der "Großmächtigen" aufgenommen wird, beschreibt Kaddour mit einiger Süffisanz so:
    "Im Cercle benahmen sich die Vögelchen sehr gut. Sie waren als Gruppe gekommen, mit mehr Stoff bekleidet als gewöhnlich. Sie zeigten, dass sie einen Tee in guter Gesellschaft einnehmen, ein Gespräche in fehlerfreiem Französisch führen und auf ihrer Stuhlkante sitzenbleiben konnten, währen Madame Doly ihnen erklärte, was das Wort Großmächtige bedeute, nichts einfacher als das, wir sind einfach viel zivilisierter als all die Eingeborenen, wir haben viel mehr Gewicht, deshalb haben wir die Pflicht, sie zu führen, auf sehr lange Zeit, denn sie sind sehr langsam, und wir schließen uns zusammen, um es so gut zu machen wie nur möglich, wir sind die größte Vereinigung, die mächtigste Organisation des Landes! Die Amerikanerinnen sprachen auch über Balzac und über Ravel, derart, dass sie ihre Gesprächspartnerinnen in Verlegenheit brachten, aber dann verstanden sie es genauso gut, in helles Entzücken auszubrechen über die gestärkten Kleider und die Strohhüte mit angenähten roten Holzkirschen an der Krempe, dem letzten Schrei der Kolonialmode. Die ganze Spannung war verflogen, sogar Eintragungen als Ehrenmitglieder wurden in Erwägung gezogen, wie man zum Abschied bei Küsschen und Umarmungen zu verstehen gab. Die Amerikanerinnen hatten die Begegnung 'marvelous' und 'fantastic' gefunden, aber sie kamen nicht wieder."
    Auch hier bindet Kaddour seine Szenenbeschreibung mit einer lakonischen Schlussbemerkung ab – bissiger hätte er das Gebaren der "Großmächtigen" nicht kommentieren können. Der Übersetzerin Grete Osterwald ist in Kaddours suada-artigen Sätzen das eine oder andere Wort verrutscht, aber im Großen und Ganzen hält sie die vielen Bälle, die Kaddour spielt, elegant in der Luft.
    Hintergründige Hommage an Sprache und Literatur
    Noch über alles andere hinaus ist Kaddours hintergründiger Roman eine Hommage an das Schreiben, an Sprache und Literatur. Denn nur eines eint all seine Figuren verschiedener Herkünfte und taugt als Mittel zur Verständigung: die Literatur. Kaddours Sprache spiegelt diese Hoffnung: Er lässt sein Personal immer wieder Klassiker der arabischen und französischen Literatur zitieren, flicht arabische oder französische Ausdrücke der Umgangssprache ein, die sich nicht ohne Weiteres übersetzen lassen und die im Buch im Original abgedruckt sind. Die Sprache ist in Kaddours Roman – und wohl nicht nur dort - also schon weiter als die, die sie sprechen: In ihr verbinden sich unterschiedliche Kulturen zu etwas Neuem, Aufregenden.
    Hédi Kaddour: "Die Großmächtigen"
    Aus dem Französischen von Grete Osterwald
    Aufbau Verlag, 478 Seiten, 24 Euro