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Heidemarie Wieczorek-Zeul: Die starken Frauen sind "in Afrika im Kommen"

Die frühere Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul sieht in der diesjährigen Verleihung des Friedensnobelpreises an drei Bürgerrechtlerinnen aus Liberia und dem Jemen eine Ermutigung für alle Frauen, die sich aus "Bevormundung, Ungerechtigkeit und Armut" befreien wollen.

Heidemarie Wieczorek-Zeul im Gespräch mit Mario Dobovisek | 08.10.2011
    Mario Dobovisek: Sie ist eines der Millenniumsziele der Vereinten Nationen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Bis 2015 sollte die Benachteiligung von Frauen und Mädchen bei Bildung, Berufschancen, Gesundheit und Ernährung ursprünglich überwunden sein – dieses Ziel wird nicht erreicht werden. Doch die Frauen weltweit, vor allem in Afrika und in der arabischen Welt, erhalten Rückenwind mit der Vergabe des Friedensnobelpreises an Liberias Präsidentin Johnson-Sirleaf, der Menschenrechtlerin Gbowee und der jemenitischen Journalistin Karman. Das Nobelpreis-Komitee würdigt damit deren gewaltfreien Kampf für die Sicherheit von Frauen und für die Frauenrechte. Am Telefon begrüße ich die Sozialdemokratin und frühere Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, guten Morgen!

    Heidemarie Wieczorek-Zeul: Guten Morgen!

    Dobovisek: Wie wichtig ist denn dieses Signal für die Rolle der Frau in Afrika und der arabischen Welt?

    Wieczorek-Zeul: Außerordentlich, das ist eine Ermutigung für alle Frauen, die sich aus Bevormundung, aus Ungerechtigkeit, aus Armut, aus Unwissenheit befreien wollen und die das als große Unterstützung betrachten.

    Dobovisek: Das Signal hätte stärker zugunsten des arabischen Frühlings ausfallen können, ist aus Tunesien und Ägypten zu hören, um die ins Stocken geratenen Reformen dort zu beflügeln. Hätte die Bewegung ein solches Signal verdient?

    Wieczorek-Zeul: Ja, ich meine, man kann immer spekulieren, ich denke aber, ein Land wie Liberia, das wirklich auch aus einer sehr schwierigen Situation sich immer noch befreit, hat es auch verdient, durch die beiden Frauen entsprechend gewürdigt zu werden.

    Dobovisek: Präsidentin Ellen Johnson-Sirleaf, sie ist ja die erste Präsidentin Liberias, die erste Frau auch an der Spitze eines afrikanischen Staates, sie wird sich am Dienstag der Wiederwahl stellen müssen. Greift das Nobelpreis-Komitee damit ja sozusagen in einen demokratischen Wahlprozess ein?

    Wieczorek-Zeul: Tja, auch da kann man spekulieren. Aber ich will noch mal sagen, auch in Kenntnis der Situation in dem Land, auch in Kenntnis von Ellen Johnson-Sirleaf, welche schwierige Situation in einem Land zu bewältigen war, das jahrelang Bürgerkrieg hatte und das dann zum Frieden und jedenfalls also zum Waffenstillstand gekommen ist, das aber in einem Land, in dem Gewalt gegen Frauen während des Bürgerkriegs überall existierte. Man kann sagen, dass etwa zwei von drei Frauen in Liberia von Vergewaltigung während des Krieges betroffen waren. Und da Kampagnen gegen die Vergewaltigung zu machen, öffentliche Kampagnen mit Bildern, sichtbaren Bildern, mit dazu beizutragen, dass Polizistinnen ausgebildet werden, mit dazu beizutragen, dass eben auch die UN-Truppen in dieser Frage hilfreich sind und dass Armut bekämpft wird, dass wieder Lebensperspektiven auch für Frauen existieren, das ist doch eben auch eine Aufgabe, die aus dem Blick geraten war in der Zwischenzeit. Und jetzt gerät sie wieder in den Blick.

    Dobovisek: Aus dem Blick geraten, weil vor allem Männer den afrikanischen Kontinent dominieren?

    Wieczorek-Zeul: Na ja, einerseits ja, andererseits sind die starken Frauen in Afrika im Kommen, und es ist vielleicht auch ein Blick auf uns selbst. Meist wird ja aus Afrika auch nur berichtet, wenn Katastrophen oder entsprechende Situationen oder auch Bürgerkriege existieren, aber der eigentliche Ernstfall ist der Aufbau, und da müssen die Blicke auch drauf gerichtet sind.

    Dobovisek: Welchen Stellenwert haben denn dabei die Frauen im Kampf gegen Armut, Aids und Unterdrückung in Afrika?

    Wieczorek-Zeul: Sie haben vorhin die Millenniumsentwicklungsziele erwähnt, und man muss sagen, die Bildung von Mädchen, und die ist auch in Afrika vorangekommen, der Zugang zu Grundbildung ist so extrem wichtig, weil er mit dazu führt, dass eben anschließend die Frauen später heiraten, die Zahl der Kinder geringer wird, die Frauen eine eigenständige Existenz sich aufbauen können, unterstützt – so haben wir es jedenfalls auch praktiziert – durch Mikrokredite und dergleichen. Es macht sie insgesamt unabhängiger und weniger von Gewalt angreifbar, und es ist nach wie vor wichtig, den Kampf zu führen gegen Aids. Da hat es Fortschritte gegeben. Wo es ganz katastrophal aussieht, ist immer noch in Bezug auf die hohe Müttersterblichkeit. Weltweit – und das ist ein Großteil durch die afrikanische Situation – stirbt jede Minute eine Frau bei der Geburt eines Kindes oder an den Komplikationen während oder nach der Geburt. Und mit dazu beizutragen, auch das ist eine Verpflichtung, die alle haben und die natürlich aber besonders auch wir unterstützen müssen, ist dazu beizutragen, dass Frauen Zugang zu Gesundheitsstationen haben, dass Hebammen in der Nähe für sie erreichbar sind, also dass diese einfachsten Gesundheitsdienste ausgebaut werden. Das ist extrem wichtig.

    Dobovisek: Ist das eine Verpflichtung, um das mit Ihren Worten zu sagen, Frau Wieczorek-Zeul, der die aktuelle Bundesregierung, der Schwarz-Gelb mit Dirk Niebel als Entwicklungsminister gerecht wird?

    Wieczorek-Zeul: Mein Eindruck ist, dass gerade diese Frage der sozialen Grunddienste insgesamt nicht ausreichend im Blickfeld sind. Natürlich sind wirtschaftliche Beziehungen wichtig, natürlich ist es wichtig, auch eigenständige Wirtschaft in Afrika zu stärken, aber die Frauen zu stärken und dazu beizutragen, dass sie eben nicht Opfer von Gewalt und von der Situation, die ich eben beschrieben habe, werden, ist eine zentrale Aufgabe von Entwicklungspolitik, und da würde ich mir schon mehr wünschen.

    Dobovisek: Bei der Übergabe von Herero-Schädeln an eine namibische Delegation vergangene Woche fehlte Schwarz-Gelb jedes Wort der Entschuldigung für das Massaker während der Kolonialzeit. Ist das ein Zeugnis einer gescheiterten Afrikapolitik oder zumindest einer nicht ausreichend bedachten?

    Wieczorek-Zeul: Also, ich hab selbst an dem Trauergottesdienst für die Herero-Opfer teilgenommen, und ich muss sagen, ich hab mich geschämt, auch geschämt für diese Bundesregierung.

    Dobovisek: Was hätten Sie erwartet?

    Wieczorek-Zeul: Man muss einfach die katastrophale Situation, das Versagen, die Gräuel aussprechen, und ich hab es selbst im Jahr 2004 getan, nachdem 100 Jahre der Genozid damals erinnert worden ist, man muss um Verzeihung, man muss um Vergebung bitten und man muss ein Wort sagen, welche Bedeutung das für die Menschen in Namibia und für die Hereros, die Dama und die Nama haben – das sind die anderen Gruppen neben den Hereros, die betroffen sind.

    Dobovisek: Heidemarie Wieczorek-Zeul, für die SPD war sie elf Jahre lang Bundesentwicklungsministerin. Vielen Dank für das Gespräch!

    Wieczorek-Zeul: Bitte sehr!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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