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Heimisch an einem imaginären Ort

Mit dem Buch "Wohin rollst Du, Äpfelchen", 1928 in der "Berliner Illustrierten Zeitung" vorabgedruckt, wurde Leo Perutz einem Millionenpublikum bekannt. Geboren 1882 in Prag, lebte er seit 1901 in Wien und liebte die dortigen Caféhäuser, die er später, vor den Nationalsozialisten nach Palästina geflohen, sehr vermisste. Perutz war ein Erzähler der alten Tradition, der Spannungen aufbauen konnte im Rahmen historischer und doch fantastischer Szenarien.

Von Christian Linder | 25.08.2007
    Das größte Lob kam von Carl von Ossietzky:

    "Er ist ein Dichter mit der Fähigkeit, ungewöhnlich fesselnde Romane zu schreiben. Ich betone: ein Dichter."

    Gegen Ende seines Lebens konnte Leo Perutz auf seinen Ruhm nur noch zurückblicken wie auf einen Traum. Da lebte er, 1882 als Sohn eines jüdischen Textilunternehmers in Prag geboren, seit der Flucht vor den Nationalsozialisten in Palästina, ohne sich dort wirklich zu Hause zu fühlen; nach Ende des Zweiten Weltkriegs reiste er zwar immer mal wieder auch nach Europa, nach Wien und ins Salzkammergut, seiner Lieblingsstadt und Lieblingslandschaft, aber das Gefühl, nirgendwo mehr heimisch sein zu können, überwog auch hier. Am liebsten, erzählte er, würde er an einem imaginären Ort wohnen, in einem Haus, das nur zwei Fenster habe: eines mit Blick auf den Tempelplatz in Jerusalem, das andere mit Blick auf den Wolfgangsee. Ein zurückgenommener Mann, isoliert und etwas traurig, weil der Glanz seines Werkes sich so sehr verflüchtigt hatte. Früher ein Bestsellerautor, der mit Romanen wie "Die dritte Kugel", "Das Mangobaumwunder", "Der Marques de Bolibar" oder "Der schwedische Reiter" ein großes Publikum erreichte - weil er jede Papiersprache aus seinen Büchern verbannt hatte:

    "Zwischen zwei Dragonern, die Wachslichter trugen, stieg der Dieb mit gebundenen Händen hinter dem Malefizbaron die Treppe hinauf, und nun, da die Sache so weit gediehen war, dass er endlich den Herrn von Krechwitz sehen sollte, plagte ihn die Neugierde noch mehr als zuvor, denn da war ein neues Rätsel: Warum hatte der Malefizbaron, den er als seinen Todfeind und Erzverfolger in die Türkei hinein verwünschte, warum hatte dieser Malefizbaron so wüst gelacht, als er, der Dieb, sagte, er käme von der Herrschaft ihrem Patenkind? Und die Magd, die mit dem Malefizbaron im Bett gelegen war: "Du armer Mann, die Herrschaft hat nirgends in der Welt ein Patenkind!" - Warum? Wie musst' ein Mensch beschaffen sein, der nirgends in der Welt ein Patenkind hatte? Hat doch der ärmste Tagwerker eines. War dieser Herr von Krechwitz so wüst und ungeschaffen, dass keine Mutter ihr Kind von ihm wollt' aus der Tauf heben lassen? ... Oder war er so geizig, dass es ihm leid war um den Tauftaler, oder...?"

    Er habe sich immer bemüht, bekannte Perutz, so zu schreiben, wie seine Großmutter ihm Geschichten erzählt habe. Dabei gaben seine oft historischen Stoffe den Büchern zwar einen realen Hintergrund, aber dann spielte Perutz mit seinem Material auf derart phantastische Weise, dass die Welt zu flimmern begann und alles Leben sich in eine Phantasmagorie verwandelte, wie in "Der Meister des Jüngsten Tages", kurz nach seinem Erscheinen im Jahr 1923 von einem faszinierten Jorge Louis Borges zur Übersetzung ins Spanische vorgeschlagen und noch in den späten 80er Jahren als Hörspiel eingerichtet.

    "Meine Arbeit ist beendet. Ich habe die Ereignisse des Sommers 1914 niedergeschrieben. Jene Folge tragischer Begebenheiten, mit denen ich auf so sonderbare Art verknüpft gewesen bin."

    Natürlich, denkt man heute rückblickend, konnten diese Bücher nur im Wien der vorletzten Jahrhundertwende geschrieben werden. Auf diese alte Zeit und dann auch auf die Geburtstadt Prag blickte Perutz Anfang der 50er Jahre zurück und schrieb die Geschichten des Bandes "Nachts unter der steinernen Brücke". Prag: das war die Erinnerung an eine schwierige Zeit, denn wegen schlechter Schulleistungen und eines manchmal sehr aufsässigen Benehmens konnte Perutz kein Abitur machen; er studierte, ohne wegen des fehlenden Abiturs ordentlich immatrikuliert zu sein, Mathematik und wurde 1907 Versicherungsmathematiker bei der Assicurazioni Generali, für die zur selben Zeit auch Franz Kafka arbeitete. Ein Jahr später, inzwischen nach Wien gezogen, arbeitete er für die Versicherungsgesellschaft Anker und schrieb nebenbei seine ersten Texte. Es war eine gute Zeit, mit einer glücklichen Ehe und einem ständig wachsenden literarischen Werk, bis eine erste, private Katastrophe Perutz aus der Bahn warf: Seine Frau starb 1928 nach der Geburt eines Sohnes. In schwärzester Verzweiflung verkehrte Perutz eine Weile in okkultistischen Kreisen, um mit seiner verstorbenen Frau Kontakt aufzunehmen. 1938 die zweite, private wie politische Katastrophe: der Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich. Perutz, inzwischen wieder verheiratet, flüchtete mit seiner Familie zunächst nach Venedig und schließlich nach Palästina, wohin der Bruder die väterliche Firma verlegt hatte. Anders als dieser Bruder war Leo Perutz überhaupt kein überzeugter Zionist und Nationalist, sondern schätzte vielmehr den arabischen Anteil an der orientalischen Atmosphäre in Palästina, und so saß Perutz bald politisch zwischen allen Stühlen. Was blieb ihm, mit seiner einst strahlenden literarischen Vergangenheit, anderes übrig, als trotzig weiterzuschreiben und in seinen Büchern sein eigentliches, geheimes Leben zu führen. Er tauchte in die Renaissance-Welt ein, porträtierte Leonardo da Vinci, und wieder gelang ihm ein Stück phantastischer Prosa, in der alle sinnlichen Gewissheiten und jedes Gefühl für Identität und Einklang mit dem Leben brüchig wurden. In einer Kneipe in Mailand trägt ein fahrender Sänger, der Züge Francois Villons trägt, ein Gedicht vor:

    "Ihr guten Leut', ich kenn' der Dinge Lauf, ich kenn den Tod, den wilden Wüterich. Ich kenne des ganzen Lebens Ab und Auf. Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich."

    Leo Perutz' israelischer Freund Schalom Ben-Chorin hat diese Zeilen als eines der wenigen autobiographischen Zeugnisse gelesen und, vor allem mit Blick auf das Buch "Nachts unter der steinernen Brücke" ein "tiefes jüdisches Empfinden" in Perutz' Schreiben gelobt. Doch da intervenierte Perutz, wieder einmal in Österreich zu Besuch, in einem Brief aus St. Wolfgang:

    "Sie rühmen mir tief jüdisches Empfinden nach - leider nicht ganz mit Recht ... Die Wahrheit ist, dass ich bei jedem Eintritt in eine mir fremde Welt in die Haut eines mir fremden Menschen krieche und mir's dort wohl sein lasse. Einmal war es ein deutscher Landsknecht, einmal ein sizilianischer Schuster, einmal ein Dieb, einmal ein spanischer Aristokrat, und diesmal war es eben ein Prager Bänkeljud, in den ich mich einfühlte."

    Gestorben ist Leo Perutz am 25. August 1957 während eines Besuchs in Bad Ischl.