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Heinrich Heine vor 175 Jahren
"Nachtgedanken" erscheint erstmals in einer Zeitung

Heinrich Heine gilt immer noch als der deutsche Dichter. Seine ambivalente Sehnsucht nach seinem Heimatland spiegelt sich in seinem Gedicht "Nachtgedanken", das er 1843 aus dem Pariser Exil schrieb. Die einen lesen es als bittere Vaterlandsklage, die anderen als Liebeserklärung an die Mutter.

Von Hildegard Wenner | 09.08.2018
    Heinrich Heine
    Undatiertes Portrait des Dichters und Schriftstellers Heinrich Heine (1797-1856) (imago/United Archives International)
    "Liebster Freund! Wir müssen unsere politischen Sympathien und sozialen Antipathien nirgends verhehlen, wir müssen das Schlechte beim rechten Namen nennen und das Gute ohne Weltrücksicht verteidigen. Jedenfalls werde ich die 'Elegante', weil Ihr Blatt, mit treuester Liebe unterstützen und fördern."
    Ein bisschen Sorge klingt schon mit in Heinrich Heines Brief an den "liebsten Freund" Heinrich Laube, der nun, nach Jahren der Verfolgung und Festungshaft, wieder seine frühere Redakteursstelle bei der Leipziger "Zeitung für die elegante Welt" antreten kann. War Laube, Dichter-Kollege und Mitstreiter, Gefährte in der Bewegung "Junges Deutschland", womöglich etwas revolutionsmüde geworden? Heine jedenfalls lieferte:

    "Denk' ich an Deutschland in der Nacht,
    Dann bin ich um den Schlaf gebracht"
    Ein Gedicht macht eine fulminante Karriere
    Am 9. August 1843 erschienen Heines "Nachtgedanken" in der "Eleganten": Zehn Strophen mit jeweils vier Versen in konsequentem Paarreim. Ein "Sehnsuchtslied", das, ähnlich wie die "Loreley", eine fulminante Karriere hinlegen wird, millionenfach zitiert, vertont, vermarktet, Vorlage für Buch-, Funk- und Fernsehreihen. Zugegeben: hauptsächlich wegen der ersten Zeilen – aber dieses Schicksal teilt es ja mit vielen Gedichten.

    "Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
    Und meine heißen Tränen fließen."
    Seit zwölf Jahren lebte Heine im Pariser Exil, als politischer Autor vertrieben von der Metternich-Restauration, als – getaufter - Jude vom Antisemitismus in Deutschland. Seine Schriften waren längst berühmt - und verboten. Heine feuerte aus Frankreich zurück, von Anfang an, unermüdlich, unerbittlich.
    "Widerwärtig war mir dieses Preußen"
    "Widerwärtig, tief widerwärtig war mir dieses Preußen, dieses steife, heuchlerische, scheinheilige Preußen, dieser Tartüff unter den Staaten."
    Der Lyriker Heine aber offenbart in den "Nachtgedanken" die andere Seite des - wie er sich selbst gern nannte – "entlaufenen Romantikers". Den "heißen Tränen" folgen nämlich nicht neuerliche Salven gegen das ebenso verfluchte wie vermisste "Vaterland", das er "an den Schuhsohlen mit sich schleppte". Stattdessen biegt der schlaflose Dichter unvermittelt ins Private ab.

    "Die Jahre kommen und vergehn!
    Seit ich die Mutter nicht gesehn"
    Betty Heine, die Mutter im fernen Hamburg, bekommt ziemlich viel Platz in den folgenden Strophen, weshalb spitzfindige Köpfe später behaupten werden, es sei der größte Irrtum der Literaturgeschichte, die "Nachtgedanken" als bittere Vaterlands-Klage zu lesen. In Wahrheit handele es sich um eine Heimweh-getränkte Liebeserklärung an die Mutter. Tatsächlich schrieb Heine ja ganz zauberhafte Briefe nach Hause:

    "Liebe, gute, liebe Mutter!
    Du alte süße Katze, wie geht es Dir? Wenn Du stirbst, ehe ich Dich wiedersehe, schieße ich mich tot."
    Verdruss über Deutschland
    Heine, mindestens ebenso leidenschaftlicher Spötter wie gequälte "Dichterseele", liebte es, falsche Fährten zu legen. Die Sorge um die leibliche Mutter - die er übrigens, stets die Polizei im Nacken, gleich im Herbst 1843 und ein Jahr später noch einmal besuchte – ist natürlich real, aber ebenso der Verdruss über die "Rabenmutter" Deutschland: Stur reaktionär, scheint sie Heine - fünf Jahre vor der 48er Revolution – unverwüstlich und nur mit galligem Unterton in den Griff zu kriegen.

    "Deutschland hat ewigen Bestand,
    Es ist ein kerngesundes Land,
    Mit seinen Eichen, seinen Linden
    Werd ich es immer wieder finden."
    Ein Happy End
    Im Paris der frühen 1840er Jahre gingen die Revolutionäre - auch Karl Marx – bei Heine ein uns aus. Der indes wollte nie ein "Tendenzpoet" sein, kein Flugblattschreiber; die agitatorischen Dichter des Vormärz fand er zu pathetisch, zu wenig ästhetisch. Und dass das Private nicht erst seit 1968 politisch ist, beweist der Schluss, das Happy End der "Nachtgedanken" virtuos:

    "Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
    Und lächelt fort die deutschen Sorgen."
    Im September 1844 erscheinen die "Nachtgedanken" als letztes von 24 "Zeitgedichten" in der Lyriksammlung "Neue Gedichte", zunächst zusammen mit dem Versepos "Deutschland. Ein Wintermärchen". Obwohl Heines Verleger Julius Campe allerhand Tricks beherrschte, um die Zensoren abzuhängen, wurde das Buch in Preußen und den meisten Bundesstaaten sofort beschlagnahmt. Der Literaturbetrieb in Deutschland hielt sich in seinen Kritiken feige bedeckt. Getraut hat sich ausgerechnet Heinrich Laube. Gar nicht revolutionsmüde, preist er das neue Werk seines Freundes Heinrich Heine in der "Zeitung für die elegante Welt":

    "Er kommt, der ach so oft todtgesagte! Gepfiffen und gesungen gellend und verführerisch wie er nur je gesungen hat."