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Heinz Bude
"Adorno für Ruinenkinder"

Das Protestjahr 1968 gehört zu den Wegmarken in der Geschichte der Bundesrepublik. Wortführer der Revolte waren junge Leute, die den Krieg oder die Nachkriegszeit als Kinder erlebt hatten. Der Soziologe Heinz Bude beschreibt in seinem Buch "Adorno für Ruinenkinder", was diese Generation geprägt hat.

Von Martin Hubert | 05.02.2018
    Der Soziologe Heinz Bude im Mai 2016.
    Der Soziologe Heinz Bude sucht nach den Gemeinsamkeiten der 68er. (dpa / picture alliance / Horst Galuschka)
    Die Achtundsechziger: theoriebesessene Besserwisser, die alles aus der Gesellschaft ableiten wollten. Und eine gescheiterte Generation, wenn man ihren radikalen Anspruch ernst nimmt, die gesellschaftlichen Verhältnisse umstürzen und das Individuum von Herrschaft und Manipulation befreien zu wollen.
    Kann man ein interessantes Buch über die Achtundsechziger schreiben, wenn man ein solches Bild von ihnen hat? Der Kasseler Soziologe Heinz Bude, der der Nachfolgegeneration der Achtundsechziger angehört, zeigt, dass das geht. Man muss dabei nur sein eigenes Bild auf die Probe stellen und reflektieren, warum man dennoch in gewisser Weise von der Rebellion vor fünfzig Jahren fasziniert ist.
    Erlebnisschichtung der 68er-Generation
    Bude hat sich dazu noch einmal Interviews mit fünf Achtundsechzigern angeschaut, die er bereits vor 30 Jahren gemacht hatte. Er erzählt deren Lebensgeschichte, reflektiert im Ich-Stil seine eigenen Einstellungen und macht Deutungsvorschläge:
    "Ich versuche, die Erlebnisschichtung von einer Kindheit im und kurz nach dem Krieg über die Rebellion gegen das Ganze und die Adaption ans Unveränderbare zu verfolgen. Vielleicht gelingt es mir, in möglichst präzisem Spekulieren über das Leben dieser Älteren zu erfassen, welchen Verwundungen sie ausgeliefert waren und welche inneren Widerstandskräfte sie daraus gewonnen haben."
    Bude findet bei den Achtundsechzigern, die zwischen 1938 und 1948 geboren wurden, zwei prägende Nachkriegsverwundungen. Die erste ist die Erfahrung einer völlig zerstörten Welt, wie sie etwa die Feministin Camilla Blisse beschreibt:
    "Ich erinnere mich noch genau, da war gerade ein großer Angriff auf Berlin gewesen, und wir mussten durch diese kaputte Stadt laufen, und ich fand, das waren wirklich Höllenvorstellungen, so sieht die Hölle aus. Es war nachts, das vergesse ich nie."
    Die andere Erfahrung war der fehlende oder - wenn er es als Soldat aus dem Krieg nach Hause geschafft hatte - der schweigende Vater. Bude bezieht das viel beschriebene Schweigen der Eltern über die Nazi-Zeit direkt auf die Sehnsucht der Achtundsechziger nach einer Theorie, die diese zerstörte und verstörende Welt zu begreifen sucht.
    Adornos Einfluss
    Theodor W. Adorno war dafür die geeignete Identifikationsfigur. Er war als jüdischer Intellektueller aus der Emigration nach Deutschland zurückgekehrt, um eine Kritische Theorie zu erneuern, die die Erinnerung an den Holocaust festhält. Bude verdeutlicht Adornos Einfluss etwa am Beispiel des Achtundsechziger-Verlegers Peter Gente.
    "Adorno war für viele der einzige, der die halbbewussten Wahrnehmungen des Völkermords, so wie sie in der Erinnerung der Kriegskinder versiegelt waren, zur Sprache bringen konnte. Er habe das, fügt Peter Gente hinzu, in Halberstadt selbst erlebt, da war ein KZ in der Nähe, Höhlen, in denen Flugzeuge gebaut wurden. Und ich habe Häftlinge im Krieg den Schutt abräumen sehen, ich wusste schon, was für Sachen passiert sind, aus eigener Anschauung, ohne dass ich mit irgendjemand darüber reden konnte. Für Peter Gente steckte das alles in Adorno drin und noch viel mehr."
    Denn Adorno vermittelte den Achtundsechzigern auch den Denkrahmen, mit dem sie die bisherigen Erfahrungen einer belastenden Wirklichkeit bewältigen konnten: die Kategorie "Gesellschaft". Mit ihr wurde die zunächst zerstörte und dann unter dem Verdikt des Verschweigens wiederaufgebaute Welt durchschaubar und veränderbar.
    "Gesellschaft [stellt sich] als eine Realität eigener Art dar, aus der heraus überhaupt erst das individuelle Verhalten und womöglich sogar das subjektive Erleben zu verstehen ist. Man kann nicht bei sich, man muss mit dem Ganzen anfangen, aus dem das, was mir passiert und was ich fühle, einen Sinn erhält. Die Hölle, das sind nicht die anderen, das ist ein Geschehen, in das wir alle einbezogen sind, und das uns die Möglichkeit lässt, die Welt anders einzurichten, wenn möglichst viele es so wollen."
    Das Denken der Nachkriegsgesellschaft
    Budes Buch macht in elementarer Weise verständlich, warum ein Denken im Rahmen der Gesellschaft für die Achtundsechziger so befreiend, ja in gewisser Weise lebensgeschichtlich notwendig war. Nun konnte man die NS-Vergangenheit, die Konsumorientierung und das Autoritäts- und Ordnungsdenken der Wiederaufbaugesellschaft erklären. Und man entdeckte Räume für ein neues "Wir", das sich durch gemeinsame Musik, Diskussionen und Demonstrationen etablierte.
    "Als mit dem Wirtschaftswunder die Ordnung wieder hergestellt werden sollte, die doch nie da war, machte man Schluss mit einer Wirklichkeit, worin alles von den Maschen der Gesellschaft eingefangen wurde. Der Augenblick der Befreiung solle der Augenblick der Wahrheit sein. Nicht drinnen zu Hause, sondern draußen in der Eisdiele in Hildesheim, im Club Voltaire in Frankfurt am Main oder auf der Straße in Berlin, wo man im Einklang mit den Aufständischen in Paris und anderswo unter dem Pflaster den Strand sah."
    Bude skizziert schließlich noch, wie sich die euphorische Bewegung in Dogmatismus verstrickte, an den Realitäten oder den eigenen Ansprüchen scheiterte - bis hin zur rot-grünen Koalition der Achtundsechziger: Gerhard Schröder und Joschka Fischer.
    Sein gerade mal 128 Seiten umfassendes Buch weist naturgemäß Lücken auf. Die fünf Protagonisten bilden eine sehr kleine Auswahl, ein wirklich radikaler und führender Achtundsechziger ist nicht dabei. Auch war es nicht allein Adorno, der den Achtundsechzigern die gesellschaftliche Dimension erschloss, Herbert Marcuse und andere waren wohl genauso einflussreich.
    Doch eine systematische Gesamtdarstellung von Achtundsechzig ist auch gar nicht das Ziel des Autors. Er präsentiert eine Geschichte, mit der sich verstehen lässt, warum die Achtundsechziger so stark auf Theorie und Gesellschaft setzten. Das ist ihm gelungen - kein schlechter Einstieg in das Jubiläumsjahr.
    Heinz Bude: "Adorno für Ruinenkinder. Eine Geschichte von 1968"
    Hanser Verlag 2018, 128 Seiten, 17 Euro.