Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Helgoland
Eine Insel erfindet sich neu

Vor 66 Jahren gab Großbritannien Helgoland an Deutschland zurück - und die Insulaner bauten die vom Krieg zerstörte Felseninsel neu auf. Dank des zollfreien Einkaufens erlebte Helgoland einen Aufschwung, der allerdings 1999 abrupt endete. Inzwischen hat sich die Insel erneut von Grund auf gewandelt.

Von Johannes Kulms | 01.03.2018
    Die Nordsee-Insel Helgoland, im Hintergrund das Wahrzeichen "Lange Anna"
    Das einzige Beständige ist der Wandel: Im Laufe ihrer Zeit hat sich die Insel immer wieder neu erfinden müssen - Helgoland, links im Hintergrund das Wahrzeichen der Brandungspfeiler "Lange Anna" (Imago / Jochen Tack)
    Der Handwagen ist ständiger Begleiter für Michael Bröcher und Herbert Mühlenbeck. Die zwei sind "Hochseemaler". Als solche kommen sie viel rum in den engen Straßen und Gassen auf Helgoland. Und der Handwagen ist immer dabei.
    Seit November heißt es wieder ranklotzen, Ferienwohnungen fertig machen! Die Hochseemaler arbeiten seitdem bis zu 70 Stunden die Woche, der letzte längere Urlaub liegt schon Jahre zurück. An diesem Morgen ist eine chaotisch anmutende Dachwohnung dran. Schon am nächsten Tag sollen die Gäste kommen.
    Der alte zerkratzte, aber immer noch schöne Holzfußboden wird nun sprichwörtlich überrollt. Mit einem billigen Parkett-Imitat aus PVC. So laufe das oft auf der Insel, sagt Michael Bröcher.
    "Dass die dann sagen, 'komm, weg damit, PVC oder normalen Teppichboden drüber! Das sparen die Leute sich dafür."
    "Was ist das für Holz, weißt du das?"
    "Echtholzparkett."
    Mentalitätswandel auf Helgoland
    Viele Eigentümer lasse ihre Wohnungen modernisieren. Das bringt den Hochseemalern jede Menge Aufträge. Andererseits bekommen sie auch die Schattenseiten mit. Es ist die Lust auf's schnelle Geld. Das kleine Dachzimmer hier werde für 420 Euro im Monat vermietet. Dabei sei das Fenster schlecht isoliert, die Maler einer anderen Firma hätten auch nicht gründlich gearbeitet und die Toilette sei auf dem Gang, ärgert sich der 44-Jährige. Als Bröcher vor zehn Jahren von Gelsenkirchen auf die Insel zog, sei die Mentalität noch anders gewesen.
    Die beiden "Hochseemaler" Michael Bröcher und Herbert Mühlenbeck
    Michael Bröcher (l.) und Herbert Mühlenbeck arbeiten für die "Hochseemalerei" und haben seit Jahren kein Zeit mehr für einen längeren Urlaub (Deutschlandradio/Johannes Kulms)
    "Freundlicher. Umgänglicher. Heute driftet das alles irgendwie 'n bisschen auseinander. Ruppiger, anonymer…"
    Sein Kollege Herbert Mühlenbeck stammt aus der Nähe von Bremerhaven. Und kam vor 30 Jahren her. Schon damals war der Wohnraum knapp, sagt der 54-Jährige. Aber irgendwie war es auch gemütlicher.
    "Und jetzt ist das ja, so viel neue zugekommen, damit muss man erstmal auch mal klarkommen. Aber muss nun mal sein - Wandel muss sein. Muss ja weitergehen!"
    Aufschwung durch Butterfahrten
    Helgoland - das ist ein mystischer Ort mitten in der Nordsee, der mit abgeschiedenen Lage und seiner fantastischen Natur schon immer viele Menschen angezogen hat. Lange Zeit hat allerdings auch der billige Alkohol magnetisch gewirkt. Mit den Butterfahrten kamen früher bis zu 10.000 Gäste auf die Insel - pro Tag, sagt Jörg Singer. Seit 2011 ist er Bürgermeister von Helgoland.
    "Also, die Insel hat in der Zeit geboomt. Und eigentlich hätte man in der Zeit anfangen müssen, zu gucken, wo entwickelt sich das alles hin in die Zukunft hin. Aber wie so oft genießt man und lebt. Und die Helgoländer haben sich damals Häuser irgendwo auf den Kanaren oder in Südafrika oder in Florida gekauft."
    Trendwende durch die Energiewende
    Mit dem Ende der Butterfahrten 1999 war dieser Boom erst mal vorbei, die Helgoländer waren zwischendurch auf finanzielle Unterstützung aus dem fernen Kiel angewiesen. Doch in den letzten Jahren habe sich viel getan, sagt der parteilose Bürgermeister. Vor den Toren der Insel sind mehrere Windparks entstanden. Die Offshore-Branche nutzt Helgoland jetzt als Basis für ihre mehr als 100 Techniker, die von hier aus jeden Tag hinaus in die Windparks fahren, um die Anlagen zu warten. Das spült viel Geld in die Kassen der Gemeinde, die inzwischen wieder schwarze Zahlen schreibt.
    Hinzu kommt eine verbesserte Verkehrsanbindung mit einem modernen Schiff nach Cuxhaven. Und: Immer mehr Feriengäste bleiben mehrere Nächte. Also insgesamt mehr Seebad und weniger 'Geiz ist geil'?
    "Ja, definitiv, das bringt's gut auf'n Punkt, ja."
    Auch der starke Bevölkerungsrückgang konnte gestoppt werden. Inzwischen leben wieder rund 1.500 Menschen permanent auf Helgoland. Jörg Singer hofft, dass es in den nächsten Jahren noch ein paar hundert mehr werden. Doch dafür muss dringend neuer Wohnraum her. Immer noch könnten dutzende Jobs deswegen nicht besetzt werden, sagt der 51-Jährige.
    Derzeit werden auf dem Oberland nahe des Leuchtturms 67 neue Wohnungen gebaut. Nicht für die Touristen, sondern die Insulaner. Entworfen in Hamburg und Kopenhagen, gebaut in Polen - Globalisierung at its best.
    Sowieso: In den letzten Jahren ist Helgoland deutlich internationaler geworden. Jeder siebte Helgoländer hat inzwischen einen ausländischen Pass. Viele der neuen Insulaner arbeiten im Tourismus.
    Positive Sicht auf die Veränderungen
    Bettina Köhn ist Meeresbiologin. Vor mehr als 40 Jahren zog sie von Hamburg nach Helgoland. Heute betreibt sie eine kleine Ferienpension und unterrichtet an der Insel-Gemeinschaftsschule Halunder - das vom Aussterben bedrohte helgoländische Friesisch. Die 63-jährige sagt mit Blick auf die Neuankömmlinge:
    Bettina Köhn kam vor 40 Jahren auf die Insel und unterrichtet an der James-Krüss-Gemeinschaftsschule Friesisch
    Bettina Köhn kam vor 40 Jahren auf die Insel und unterrichtet an der James-Krüss-Gemeinschaftsschule Friesisch (Deutschlandradio/Johannes Kulms)
    "Wir gucken uns das in Ruhe an und lassen denjenigen gewähren. Und wenn das okay ist oder so, egal, wie schräg der ist, dann hat er hier 'n gutes Leben. Wir tolerieren viel. Manchmal hätten wir vielleicht 'n P davorsetzen sollen. Aber dann meckern wir hinten rum anstatt es zu ändern. Aber das ist glaube ich allgemein menschlich und nicht nur helgoländisch."
    Auch Köhn sieht den Wandel der Insel positiv, wir müssen uns entwickeln, sagt sie. Andererseits vermisst sie bei den Zugezogenen das Traditionsbewusstsein für die Insel.
    Sehnsucht nach den alten Zeiten
    "Dass wir mehr unsere Eigenheiten auch behalten. Nicht Eigenheiten im schlechten Sinne, sondern unsere speziellen Sachen. Das fehlt mir so 'n bisschen. Oder ich bin traurig, dass es verloren geht so nach und nach, weil's keiner mehr weiß…"
    Robert Klimke ist 24 Jahre alt und stammt aus Brandenburg. Seit fast zwei Jahren lebt er in einem besonderen Rhythmus: Als Windkraft-Servicetechniker verbringt er pro Monat zwei Wochen mitten in der Nordsee. Die anderen zwei Wochen ist er zu Hause in Brandenburg und hat frei.
    "Also, ich find', es ist 'n sehr angenehmer Rhythmus. Ist 'n gutes Mittelmaß. Diese zwei Wochen ist nicht zu lange aber auch nicht so zu kurz."
    Der Hafen von Helgoland
    "Mehr Seebad und weniger 'Geiz ist geil'": Helgoland setzt auf Nachhaltigkeit (Deutschlandradio/Johannes Kulms)
    Ist das Wetter gut, arbeiten er und seine Kollegen manchmal zwei Wochen am Stück durch. 12-Stunden-Tage haben sie dann und pendeln mit dem Schnellboot zwischen Insel und Windrädern.
    "Also, wir nehmen jetzt nicht aktiv am Helgoländer Leben teil. Also, wir sind halt jetzt nicht so die Einwohner. Wir sind halt hier zum Arbeiten."
    Klimke mag die Insel. Doch dauerhaft leben könnte er hier nicht.