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Hella Haasse: Das indonesische Geheimnis
Der Traum eines Miteinanders

Herma Warner, die Hauptfigur in Hella Haasses Roman "Das indonesische Geheimnis", verbringt ihre privilegierte Jugend im Niederländisch-Indien der 20er- und 30er-Jahre. Während Herma von einer gemeinsam geteilten Heimat der Kolonisten und der Kolonisierten träumt, sucht ihre indonesische Freundin Dee den Weg in den politischen Widerstand.

Von Beatrix Novy | 07.04.2016
    Altstadt von Jakarta
    Das ehemalige Rathaus in der Altstadt von Jakarta. Das heutige Geschichtsmuseum wurde 1710 gebaut, als Indonesien unter niederländischer Kolonialherrschaft stand. (imago/HBLnetwork)
    Batavia. Das Wort trägt den Klang unausrottbarer Sehnsüchte in sich, Tropenromantik, altmodisches Fernweh. In Batavia, heute ein winziger, wenig geliebter Rest kolonialer Architektur am nördlichen Zipfel der Megacity Jakarta, wurde Hella Haasse 1918 geboren. Hier verbrachte sie, bevor sie zum Studium nach Europa ging, die privilegierte Jugend eines holländischen Kindes im "Niederländisch-Indien" der 20er und 30er Jahre. Herma Warner, die Hauptfigur in Haasses Roman "Das indonesische Geheimnis", ist Jahrgang 1920, also ein alter ego ihrer Erfinderin, von dieser sozusagen beauftragt damit, auf ihre Jugend mit dem illusionslosen Blick des Alters zurück zu schauen. Um sie dazu zu bewegen, beginnt der Roman mit einem Brief
    "Sehr geehrte Frau Warner,
    mein Name ist Bert Moorland. Ich bin freiberuflicher Journalist, Soziologe und Politologe."
    Für die Sammlung der schönsten Romananfänge eignen sich diese Sätze nicht unbedingt, sie sind sichtbar Mittel zum Zweck. Bert Moorland also arbeitet an einer Studie über Menschenrechtsaktivisten in Südostasien und ist dabei mehrmals auf Spuren einer rätselhaften Frau gestoßen, die im und nach dem indonesischen Unabhängigkeitskrieg in der ganzen Region an politischen Aktionen beteiligt war; deren echter Name und Biografie aber im Dunkeln liegen. Moorland vermutet in diesem Phantom eine Jugendfreundin Herma Warners, Adèle, genannt Dee. Und Moorland hat Recht.
    Die pensionierte Kunsthistorikerin befragt ihr Gedächtnis
    So beginnt Herma, die längst verwitwete pensionierte Kunsthistorikerin, ihr Gedächtnis zu befragen. Sie findet sich und ihre Freundin Dee wieder im alten Batavia, in den besseren Vierteln, wo die Masse der Bevölkerung nur als Dienstleister sichtbar wird. Wieder geht sie nach der Schule zu Dee nach Hause, zu Dees imposanter Großmutter, der mystisch angehauchten Tante, dem sonnig-playboyhaften Vater, dem sittenstrengen indonesischen Diener-Ehepaar. Und zu den vielen farbigen und geheimnisvollen Geschichten aus der Vergangenheit dieser alteingesessenen Familie. Die Muntinghs haben neben einem französischen Aristokraten und einer schwarzen Sklavin Javaner, Niederländer und Chinesen im Stammbaum. Für ihre gesellschaftliche Position in einer Kolonialgesellschaft ist diese Mischung nicht von Vorteil, und die heranwachsende Dee weiß das:
    "Himmel, wie sie sich über ihre Großmutter ärgert, die meint, sie gehöre immer noch zur batavischen Oberschicht, mit ihren Teekränzchen und Komitees. Sie bemerkt nicht, wie die übertrieben freundlichen totoks hinter ihrem Rücken über die Vermessenheit einer Frau reden, deren Tochter ´so schwarz ist wie mein Stiefel`. Und außer den holländischen Frauen sind da noch die adligen sudanesischen Damen, deren Familien einmal Land besessen haben, das die Muntinghs irgendwann kauften; das verzeihen sie nicht und sehen aus schwindelnder Höhe auf Oma Moes hinab."
    Das alles wirft Dee in einem jähen Zornanfall ihrer Freundin Herma hin. Die, Tochter offener und liberaler Eltern, begreift nicht, dass auch sie gemeint ist. Sie wird erst viel später erfassen, dass ihre Hautfarbe, das Weiß einer lupenreinen Niederländerin, Dees Problem war. Während Herma naiv den Traum einer gemeinsam geteilten Heimat der Kolonisten und der Kolonisierten träumt, sucht ihre Freundin, den sublimen Rassismus der Umwelt früh durchschauend, heimlich Wege in den politischen Widerstand, zur Unabhängigkeitsbewegung. Mit der Hilflosigkeit der wohlmeinenden Privilegierten fragt sich Herma Jahre später
    "Kann es wirklich sein, dass ich mit diesem diskriminierenden ´weißen` Selbstbewusstsein behaftet war, ohne es gemerkt zu haben?"
    Herma, die nie eine totok sein wollte, eine Hereingeschneite aus Europa, muss erfahren: Um den Anspruch, authentischer Bewohner eines Landes zu sein, wird hart konkurriert.

    Nach und nach wird eine verdrängte Vergangenheit enthüllt
    Hella Hasses Roman funktioniert scheinbar nach einem beliebten, vom Geist allgegenwärtiger Krimis inspirierten Muster: Auf der Spurensuche nach der Frau, die einmal Dee war, wird nach und nach eine verdrängte Vergangenheit enthüllt, mit allen retardierend-spannungsfördernden Mitteln. Was dabei über Dee ans Licht kommt, ist Teil des Krimis und soll nicht verraten werden. Denn das eigentliche Ziel der Suche ist ein Indonesien, das Hella Haasse mit jedem Nerv aufgesogen hat: In die Handlung ist ein Panorama indonesischer Geschichte eingewebt, von der schein-idyllischen Vorkriegszeit über die japanische Besatzung im Zweiten Weltkrieg bis über den Unabhängigkeitskrieg hinaus zu den Massakern von 1965. Politische Entwicklungen werden nicht direkt angesprochen, sie leuchten in den Begebenheiten auf: So erzählt die Hinwendung von Dees spiritueller Tante zum Islam auch davon, wie die Religion in der jungen Nation Indonesien als identitäres Mittel eingesetzt wurde.
    Solche Dinge erfährt Herma nur noch als Besucherin. Seit der blutig erkämpften Unabhängigkeit des Landes gehört sie, die Angehörige der Kolonialmacht, nicht mehr dazu. Was bleibt, ist der Traum eines Miteinanders der Farben und Kulturen, das im kolonialen System zum Zerrbild eines breiten Spektrums sozialer Unterschiede verkommen musste – jetzt aber, beschrieben mit nüchterner Wehmut, ohne Selbstmitleid, wieder zu einer Idee werden kann.
    Buchinfos:
    Hella S. Haasse: "Das indonesische Geheimnis", Roman, Transit 2015, 150 Seiten, 19,80 Euro