Donnerstag, 18. April 2024

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Hellmut Seemann über Weimar
"Das klassische Weimar hat es nie gegeben"

Nirgendwo liegen zentrale Orte deutscher und europäischer Kulturgeschichte so dicht beieinander wie in Weimar, sagte Hellmut Seemann von der Klassik Stiftung Weimar im Dlf. Umso größer sei aber auch die Gefahr, Historie nachträglich zu konstruieren, egal ob Goethezeit oder Nationalsozialismus.

Hellmut Seemann im Gespräch mit Anja Reinhardt | 24.08.2018
    Weimar , 160216 , Jahrespressekonferenz der Klassik Stiftung Weimar , Rückblick Ausblick Klassikstiftung Im Bild: Hellmut Seemann (62), deutscher Kulturmanager und Präsident der Klassik Stiftung Weimar Weimar 160216 Annual press conference the Classical Foundation Weimar Review Outlook Classical Foundation in Picture Hellmut Seaman 62 German Cultural managers and President the Classical Foundation Weimar
    "Weimar ist mehr als nur Goethe und Schiller". Hellmut Seemann, Präsident der Klassik Stiftung Weimar (imago stock&people)
    Anja Reinhardt: Eigentlich ist Weimar ein beschauliches Städtchen mit seinen pittoresken Häusern, Plätzen, dem schönen Park an der Ilm und dem prächtigen Stadtschloss. Aber so klein die Stadt auch sein mag, sie steht für den Inbegriff der Deutschen Klassik, für eine große Zeit der deutschen Literatur und ist in gewisser Weise ein Mikrokosmos der neueren deutschen Geschichte.
    Weimar zeigt aber auch in die Moderne, mit Henry van de Velde, mit Walter Gropius, der hier das Bauhaus gründete.
    Der ersten deutsche Demokratie wurde hier eine Verfassung gegeben, die Weimarer Republik allerdings sollte weniger ruhmreich in die Geschichte eingehen, der Geist von Weimar, von Goethe und Schiller, den Reichspräsident Friedrich Ebert für die junge Demokratie beschwor verschwand am Ende in der Hölle von Buchenwald - das Konzentrationslager der Nationalsozialisten liegt in Sichtweite auf dem Ettersberg.
    Um den "Kosmos Weimar" kümmert sich seit 2003 die Klassik Stiftung Weimar, die nicht nur die Verantwortung für zum Beispiel das Goethe Nationalmuseum oder die Anna Amalia Bibliothek trägt, sondern die die einzelnen Museen, Häuser oder Archive als Gesamtkonzept präsentieren will.
    Wie geht man mit diesem Spannungsfeld Provinzstadt einerseits und Weltkulturerbe andererseits in Bezug auf das Erinnern um?
    Hellmut Seemann: Das ist in der Tat die eigentliche Qualität von Weimar, dass wir uns in einer geradezu laborartig zu nennenden Situation befinden. Alles ist auf engstem Raum beieinander und kann vollkommen anders als in einer modernen Großstadt hier in authentischen Orten und Liegenschaften beguckt werden. Das ist etwas sehr Besonderes. Ich kenne es eigentlich auch in keiner anderen deutschen oder europäischen Stadt, würde ich sogar sagen, dass man zentrale Epochen der europäischen Kulturgeschichte in dieser Weise an einem kleinen Ort versammelt findet. Reformation, Aufklärung, das Ereignis Weimar/Jena 1800 und die frühe Moderne sind hier beieinander.
    Reinhardt: Weimar ist aber doch wahrscheinlich für die meisten Besucher erst mal die Stadt von Schiller und Goethe. Goethe wird wirklich sehr lebendig auch, man kann sein Wohnhaus am Frauenplan besuchen. Auch das Gartenhaus ist ein Museum. Man kann in seinen Garten schauen oder sein Arbeitszimmer betrachten. Gibt es so etwas wie, sagen wir mal, einfaches Erinnern, weil es doch die Hochzeit der literarischen Klassik in Deutschland ist - etwas, woran man sich gerne erinnert?
    Seemann: Ich erinnere meinerseits dann immer gerne an die sozialistische Epoche Weimars. Da hieß ja die Einrichtung, die ich heute leiten darf, "Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar". Das wollen wir doch eigentlich gerade nicht, denn wir erkennen in diesen nationalen Forschungs- und Gedenkstätten eine Konstruktion, in diesem Falle eine sozialistisch-humanistische Konstruktion, die wesentliche Teile dieser Gesamttopographie Weimar außen vor lässt. Natürlich war weder von dem Aufbruch in die frühe Neuzeit mit diesem Konzept schon die Rede, noch war mit der übergreifenden Bedeutung, die Weimar für Kunst, Literatur, Philosophie und insbesondere auch Geschichtstheorie hatte, mit einer Reduktion auf die klassische deutsche Literatur das richtige Format schon gefunden.
    Annahmen und Gewissheiten sind historisch vermittelt
    Wir müssen uns einerseits bewusst sein, dass wir natürlich auch eine Konstruktion transportieren, aber ich glaube schon, dass wir ein größeres Spektrum dessen, was hier tatsächlich stattgefunden hat, in den Blick nehmen und dass deswegen auch die Aufgabe, Weimar zu besuchen, wenn Sie so wollen, immer komplexer wird - wenn man nicht einfach sagen will, ich wollte mal gesehen haben, wie Goethes Sterbezimmer aussieht.
    Reinhardt: Wenn ich Sie richtig verstehe, bedeutet das auch, dass die Erinnerung selbst sich eigentlich im stetigen Wandel befindet?
    Seemann: Das ist genau einer der wesentlichen Gesichtspunkte, die man hier aufnehmen kann. Wir reden heute miteinander; das ist der Geburtstag von Herder. Und Herder ist eigentlich der erste gewesen, der erkannt hat, dass man als historisches Wesen zwar natürlich von Annahmen ausgehen muss, aber die Grundannahme immer die sein muss, dass auch unsere Annahmen und unsere Gewissheiten historisch vermittelt sind.
    Das ist um 1800 herum etwas vollkommen Neues. Die Menschen treten ein in ein Bewusstsein davon, dass sie historische Existenzen sind, und zum Historischen gehört zentral die Vorstellung, dass man sich sein eigenes Bild von etwas, was man dann vielleicht vorläufige Identität nennen könnte, nur gewinnen kann, wenn man sich über das Gewordensein dessen, was man als seine Welt wahrnimmt, immer bewusst ist.
    Das Bauhaus als Schändung des klassischen Weimars
    Reinhardt: Wenn wir davon sprechen, dass es so was wie ein historisches Bewusstsein gibt, dann ist vielleicht auch interessant, dass sich Weimar mit dem Bauhaus zum Beispiel doch auch schwergetan hat. Walter Gropius hat im Nachhinein von Weimar als "rückständigem Bierdorf" gesprochen.
    Nächstes Jahr ist das 100jährige Jubiläum der Gründung des Bauhauses durch Walter Gropius. Es ist eine große Jubiläumsfeier geplant, ein neues Bauhaus-Museum wird eröffnet. Man muss aber auch sagen, das Bauhaus wurde aus Weimar vertrieben. Wie erinnert die Klassik Stiftung denn an das Bauhaus?
    Seemann: Ja! Das Bauhaus ist nicht zuletzt daran gescheitert, dass eine Geschichtskonstruktion im 19. Jahrhundert machtvoll konstruiert wurde, die einer Vorstellung, dass Weimar ein Ort neuer Ausrichtung historischen Bewusstseins werden könnte, strikt entgegengesetzt war. Das heißt, das Bauhaus wurde als eine Schändung des klassischen Weimars von Anfang an verstanden. Und was wir mit einem Bauhaus-Museum leisten müssen, ist einerseits, dieses nicht zu verdecken, aber andererseits auch selbst zu verstehen, dass das, was wir jetzt als Moderne bezeichnen oder als frühe Moderne um 1900 bezeichnen, dass das wiederum Konstruktionen sind, die mit der Epoche um 1800 viel zu tun haben. Das heißt, ich warne immer davor zu sagen, es gibt das historisch belastete Weimar, nämlich das im 19. Jahrhundert rekonstruktiv entworfene Bild eines Musenhofes und eines klassischen Weimar. Das hat es nie gegeben. Das ist immer eine Konstruktion gewesen. Und man setzt dagegen dann das Bild Weimars als eines Ortes der frühen Moderne, die hier ihren Opfergang angetreten hat und dann aus Weimar vertrieben worden ist.
    Eine Figur zum Beispiel wie Friedrich Nietzsche, der ja hier gestorben ist und dessen Nachlass hier in Weimar liegt, ist natürlich genau einer, der sowohl das eine wie das andere historisch-kritisch in Frage stellt. Der stellt die Moderne genauso in Frage wie die lächerliche Geschichtskonstruktion einer deutschen Klassik.
    Alle Aspekte der Stadtgeschichte zusammendenken
    Reinhardt: Wenn wir über historisch-kritische Rezeption sprechen, dann müssen wir natürlich auch über Buchenwald sprechen. Hitler war doch relativ häufig in Weimar, mochte die Stadt. Es gibt ein Gau-Forum, das auch mit dem neuen Bauhaus-Museum verbunden sein wird. Auch da gibt es Bemühungen Ihrerseits, die Geschichte eben nicht auszublenden. Der Journalist Peter Merseburger hat Buchenwald mal als den Zwilling Weimars beschrieben. Inwiefern ist das für Sie als Klassik Stiftung Weimar, die ja jetzt erst mal keine Verantwortung für die Gedenkstätte Buchenwald hat, aber inwiefern ist das für Sie als Klassik Stiftung doch ein wichtiger Teil von Weimar?
    Seemann: Wir bauen das Bauhaus-Museum bewusst in die unmittelbare Umgebung des Gau-Forums und wir nennen das auch gar nicht nur das Bauhaus-Museum, sondern wir sprechen von dem gesamten Komplex, in dem wir uns dort bewegen und in dem ein Jahr nach dem Bauhaus-Museum dann eine große Präsentation der europäischen Zwangsarbeit unter den Nationalsozialisten gezeigt werden wird – denn auch die Zwangsarbeit ist natürlich ein Element der europäischen Moderne. Man muss die Dinge in Gottes Namen einfach zusammendenken und dann hat man ein Bauhaus-Museum, in dem eine wirklich neue Sicht auf die Welt sichtbar wird, und direkt daneben hat man eine Gedenkstätte für die Zwangsarbeiter, und das ist auch eine neue Welt, die dort aufscheint, die es in dieser Form im 19. Jahrhundert noch nicht gegeben hat.
    Aus KZ Ettersberg wurde KZ Buchenwald
    Reinhardt: Wie erleben Sie das eigentlich, Helmut Seemann, in einem Bundesland, in dem die dortige AfD mit dem Vorsitzenden Björn Höcke in Thüringen eine erinnerungspolitische Wende fordert? Gibt es immer noch eine Sehnsucht nach dem Vergessen?
    Seemann: Ja, die gibt es zweifellos. Auch unter Goethe- und Schiller-Freunden gibt es immer noch Menschen, die sich selbst und ihr Weimar-Bild bekümmert anschauen und sagen, wäre doch dieser Schandfleck nicht ausgerechnet in Weimar sichtbar geworden. Das ist im Grunde genommen immer noch derselbe Geist, mit dem der Kampfbund für deutsche Kultur 1937 verhindert hat, dass das zu errichtende KZ "KZ Ettersberg" hieß. Denn die haben eingewandt, diese Kulturbürger, die dort versammelt waren, dass das doch ein Begriff sei, der mit Goethe verbunden sei. Daraufhin hat man gesagt: Ja, das geht ja wirklich nicht, dann müssen wir das Buchenwald nennen. Und dann waren sie zufrieden!
    Das ist hier in Weimar greifbar und zusammen müssen wir es auch sichtbar erhalten, und wir müssen es den heutigen Vergessenheitspropheten, die bis in den Bundestag inzwischen aus Weimar kommen, denen müssen wir es immer wieder entgegenhalten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.