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Deutsche Kultur
"Gerade das Abgründige zieht viele so an"

Das Bild Deutschlands als Kulturnation werde im Ausland stark geprägt "von zweimal Weimar", sagte der Direktor des Literaturarchivs Marbach, Ulrich Raulff, im DLF. Da sei die literarische Kultur von Goethe bis Thomas Mann, aber auch die Tradition des Bauhauses, des Expressionismus.

Ulrich Raulff im Gespräch mit Michael Köhler | 03.10.2016
    Ulrich Raulff, aufgenommen im Oktober 2015, auf der 67. Frankfurter Buchmesse, in Frankfurt/Main (Hessen).
    Ulrich Raulff, Leiter des Literaturarchivs Marbach. (picture alliance/dpa - Jens Kalaene)
    Michael Köhler: Die deutsche Frage ist gelöst, die Einheit geglückt. Nicht wenig an Deutschlands Ruf in der Welt ist auf dessen Kultur zurückzuführen, gründet darauf. Während manch Westdeutscher vielleicht immer noch nicht auf Händels oder Bachs Spuren in Halle oder Eisenach unterwegs war, da stehen Schlangen von Japanern und Koreanern vor der Wartburg oder dem Bonner Beethoven-Haus. Mit Ulrich Raulff, dem Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, habe ich darüber gesprochen. Diese Einrichtung wurde 1955 als eine Art Pendant zu Weimar gegründet, ist eine Einrichtung der Deutschen Schillergesellschaft. Ulrich Raulff war Feuilletonchef überregionaler Zeitungen, Verfasser kulturhistorischer Bücher. Ihn habe ich gefragt: Ist das eigentlich immer noch so, wenn Sie im Ausland sind und gefragt werden, sagen wir nach "Zauberflöte" und "Zauberberg", dass man ein großes Interesse an den Heroen der deutschen Kultur im Ausland hat?
    Ulrich Raulff: Ja, absolut, also daran hat sich nach meinem Eindruck nichts geändert. Ich finde das sehr sympathisch, ich meine, das sind auch meine Heroen. Also ich denke, der Eindruck, dass Deutschland eine bedeutende Kulturnation war und ist, das verdanken wir in erster Linie zweimal Weimar: einmal der literarischen Kultur, also von Goethe bis Thomas Mann, und zum anderen natürlich der Tradition des Bauhauses, des Expressionismus, also Weimar Culture im Sinn von Kultur der Weimarer Republik. Dieses "zweimal Weimar" hat bis heute sehr stark in Europa und darüber hinaus in der Welt das Bild von Deutschland geprägt.
    Köhler: Inklusiv seiner Abgründe, wer Weimar sagt, muss immer auch Buchenwald sagen, ne?
    "Nietzsche und Wagner faszinieren noch immer"
    Raulff: Ja, natürlich, inklusive seiner Abgründe. Und teilweise, muss man sagen, ist es ja gerade das Abgründige in der deutschen Kultur, namentlich in der romantischen und spätromantischen, nachromantischen Kultur, was viele so anzieht. Schauen Sie mal die Faszination, die immer noch jemand wie Nietzsche, wie Wagner ausüben, auch wenn man weiß, dass da auch schon vieles an verhängnisvollen Motiven schlummert. Das ist ja gar nicht anders zu erklären als eben über auch ein großes Interesse an den Abgründen.
    Köhler: Deutsche Kultur, darüber hat der Soziologe und Philosoph Helmuth Plessner mal gesagt, das sei immer so ein bisschen wie Gottesdienst ohne Gott. Er meint damit einen emphatisch aufgeladenen Kulturbegriff, vielleicht auch politikferne Innerlichkeit. Es gibt eine berühmte Anekdote: Als Richard Strauss am Ende des Zweiten Weltkriegs verhaftet werden soll in Berchtesgaden, sagt er, "you cannot imprison me" – "Sie dürfen mich nicht verhaften, ich bin doch der Komponist des 'Rosenkavaliers'" –, und benutzt das quasi als Entschuldigung. Ist das auch so ein Kennzeichen deutscher Kultur, dieses Tiefgründige, Selige, von dem man glaubt, es hätte mit dem übrigen Leben nichts zu tun?
    Raulff: Ja, natürlich, und das ist so spezifisch für die deutsche Kultur, ein bisschen stereotyp vielleicht auch in manchem, auch etwas, worum uns viele andere bedeutende Kulturnationen beneiden. Und es gibt natürlich Autoren, europäische Autoren, deutsche Autoren, die gleichzeitig europäische Autoren sind, die sich da leichtfüßig drüber hinweggesetzt haben – denken Sie an Hans Magnus Enzensberger –, und es gibt andere, die tief darin gründen und die sozusagen auch den Ruf der deutschen Literatur daraus, aus diesen Gründen erneuert haben, wie W. G. Sebald.
    Köhler: Worauf gründet dieser Ruf Deutschland als einer europäischen Kulturnation, an diesem reichhaltigen Erbe?
    "Gerade die deutsche Romantik hat beeindruckt"
    Raulff: Ja, und dass dieses Erbe auch eben die anderen europäischen Kulturen so tief gehend beeinflusst hat und beeindruckt hat. Gerade die deutsche Romantik, deren verführerischen Zauber haben ja fast alle europäischen Kulturen gespürt und spüren den bis heute.
    Köhler: Wagners Einfluss auf das französische 19. Jahrhundert ist gar nicht zu unterschätzen.
    Raulff: Ja, so ist es, und das geht bis weit ins 20. Jahrhundert. Nietzsche und später Heidegger, das hat das europäische Denken sehr, sehr tief geprägt, und das hält auch an bis heute.
    Köhler: Wir sprechen über Deutschland als Kulturnation im Rahmen der Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit. Wie hat sich das unter dem Einfluss von Flüchtlingskrise, Migration verändert oder wird sich das verändern, wird sich das in Zukunft verändern oder verschärft sich das vielleicht sogar? Herr Singhammer und einige Unionsabgeordnete sprechen schon wieder von einer Leitkultur in Deutschland, nicht von einer deutschen Leitkultur, also Kulturnation wieder als Kampfbegriff?
    "Ausländische Autoren, die viel wiederentdeckt haben an deutscher Kultur"
    Raulff: Ach, wissen Sie, also das lassen wir mal den Zeitgenossen des Ersten Weltkriegs. Die haben immer die Kulturnationen ins Spiel gebracht gegen die angeblichen Zivilisationsmächte des Westens. Die haben immer gesagt, na ja, die haben halt eine Zivilisation, wir haben eine Kultur. Die essen vielleicht auch schon mit Messer und Gabel wie wir, aber nach dem Essen, da gehen die schlafen, während wir Schiller und Goethe lesen. Ich finde, das sind ziemlich alte, abgestandene oder abgehangene Hüte. Wir vom Deutschen Literaturarchiv gehen in eine ganz andere Richtung, wir fangen jetzt an, verstärkt die Autoren zu sammeln, die aus der Türkei, aus Nordafrika, aus dem Iran oder so zu uns gekommen sind und hier deutsche Literatur geschrieben haben. Man sagt ja die Chamisso-Autoren wie Emine Özdamar, Feridun Zaimoglu, Navid Kermani, Said, Rafik Schami, auch Wladimir Kaminer und so, das sind ja alles Autoren, die für die deutsche Literatur ganz enorm wichtig geworden sind.
    Köhler: Also Chamisso, ein berühmter Romantiker hugenottischen Ursprungs, französischen Ursprungs, muss man dazusagen.
    Raulff: Genau, der Deutsch geschrieben haben. Fast noch interessanter finde ich, dass es gerade in den letzten Jahren auch eine Reihe von ausländischen Autoren gegeben hat aus Amerika wie Jonathan Franzen oder aus der Türkei wie Orhan Pamuk, aus Ungarn wie der verstorbene Péter Esterházy oder aus Holland wie Cees Nooteboom, die so sehr sich in der deutschen Kultur umgetan haben und so viel auch wiederentdeckt haben, für uns wiederentdeckt haben an deutscher Kultur, dass sie fast als die unsrigen wahrgenommen werden. Wir machen jetzt eine Ausstellung zusammen mit Kollegen in Moskau und in der Schweiz über Rilke und Russland und haben festgestellt, dass Rilke bis heute in Russland sozusagen als einer der ihren gilt, als russischer Dichter.
    Köhler: Ich kann das bestätigen, ich hab vor Kurzem noch den englischen Bildhauer Richard Deacon getroffen, der sagt, eine der wichtigsten Lektüreerfahrungen sei Rilke gewesen. Das ist kein zweitrangiger, das ist ein Turner-Preisträger.
    Raulff: Ja, aber das ist so fabelhaft.
    Köhler: Professor Raulff, Sie sind Chef des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, waren auch Feuilletonchef, haben zahlreiche wichtige Bücher geschrieben über die deutsche Kultur. Es gibt einen merkwürdigen Widerspruch, helfen Sie mir mal: Die Rolle der deutschen Sprache hat in der Wissenschaft keine wichtige Bedeutung mehr. Es gab mal eine Zeit, da kam man nach Deutschland, um Goethe oder Kant auf Deutsch lesen zu können, also ein Rückgang der Wissenschaftssprache. Andererseits höre ich, dass beispielsweise prominente Zweitsprache in Israel das Deutsche ist.
    "In Osteuropa spielt das Deutsche eine ganz große Rolle"
    Raulff: Ja, das Deutsche spielt eine große Rolle in Südeuropa jetzt wieder. Das hat zu tun mit wirtschaftlichen Entwicklungen …
    Köhler: Die rumänischen Goethe-Institute kommen, glaube ich, mit den Deutschkursen gar nicht hinterher.
    Raulff: Ja, vor allen Dingen in Osteuropa, Sie sagen es, also in Osteuropa spielt das Deutsche eine ganz, ganz große Rolle, und da ist es wirklich die erste Fremdsprache.
    Köhler: Wird sich die deutsche Kultur eher als so eine historische Kultur halten, eine, die man so im Glaskasten und in der Vitrine anguckt, oder hat die die Kraft, auch weiterhin wirksam zu sein?
    Raulff: Ich glaube, die hat auch die Kraft, weiterhin wirksam zu sein, wenn man den Kulturbegriff vor allen Dingen nicht so eng fasst. Also wenn man zum Beispiel so was wie Rechtskultur auch darunter fasst oder historische und politische Kultur. Es hat ja kaum eine andere Kultur geschafft, sich so sehr ihre schwierigen, ihre verhängnisvollen, ihrer verbrecherischen Vergangenheit zu stellen.
    Köhler: Geschichtskultur und demokratische Kultur, das sind zwei wichtige Stichworte, ne?
    Raulff: Ja, und auch die kritische Kultur. Ich glaube, wir haben uns doch noch eine ziemlich gute Medien- und Pressekritik und damit eben auch ein Ferment der politischen Demokratie und der Freiheit erhalten in Deutschland, und das sehen auch andere und empfinden es als vorbildlich.
    Köhler: Kritische, demokratische Kultur, Kultur weit gefasst – der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Ulrich Raulff.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.