Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv


Helmut Roewer/Stefan Schäfer/Matthias Uhl (Hg.): Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert

Spionage während des Kalten Krieges im geteilten Deutschland – warum eigentlich war der Osten erfolgreicher als der Westen?

Karl Wilhelm Fricke | 01.09.2003
    Zunächst ist zutreffend: Wir wussten weniger über die Gegenseite als die Gegenseite über uns. Punkt 1. Warum ist das so? Sind das nun im Verfassungsschutz Schlafmützen gewesen oder hängt das nun mit objektiven Strukturen zusammen? Da muss man nun natürlich sehr deutlich sagen: Es wird immer wieder übersehen: Die Nachrichtendienste der Bundesrepublik, der alten Bundesrepublik; waren Instrumente und Institutionen der Demokratie...

    Heribert Hellenbroich zur Dialektik von politischem System und nachrichtendienstlicher Effizienz. Er weiß, wovon er spricht – der ehemalige Abwehrchef und spätere Präsident des Bundesverfassungsschutzes - kurzfristig auch des Bundesnachrichtendienstes. Markus Wolf, der Ex-Spionage-Chef der DDR-Staatssicherheit, denkt da anders, wenn er zur Effizienz vom Spionage meint:

    Das hat an sich natürlich auch mit den Zielsetzungen, mit dem Hintergrund der nachrichtendienstlichen Tätigkeit schon zu tun, welchem System ein Nachrichtendienst dient, aber mit der Effizienz und der erfolgreichen Anwerbung und dem Einsatz von Agenten nur sehr wenig...

    Hellenbroich und Wolf waren langjährige Gegenspieler im Kalten Krieg. Wer sich kurz und bündig über sie informieren will, über die Apparate auch, die sie gesteuert haben, wer wissen will, warum der Geheimdienst einer Diktatur in der offenen Gesellschaft eines demokratischen Rechtsstaates erfolgreicher operiert als umgekehrt, der wird in dem "Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert", das hier in Rede steht, fündig und kann die Ursachen ergründen.

    Spionage hat die Phantasie der Zeitgenossen schon immer gereizt. Im Wissen darum können die Verfasser des Geheimdienst-Lexikons der Nachfrage nach ihrem Kompendium ziemlich sicher sein, zumal die drei Autoren, Helmut Roewer, Stefan Schäfer und Matthias Uhl, ausgewiesene Kenner der Materie sind, zwei sogar mit eigenen nachrichtendienstlichen Erfahrungen. Ungeachtet zahlreicher Bagatell-Mängel bietet das Nachschlagewerk allen, die Geschichte und Gegenwart der Geheimdienste faszinieren, reichlich Lesefutter.

    Phantasie und Lüge bestimmen das Geheimdienstgeschäft. Null-Null-Sieben, der berühmte James Bond, hastete gekonnt und gut pomadiert über unsre Leinwände; doch der Agent seiner Majestät mit der Lizenz zum Töten ist eine kleine Leuchte gegen Typen, die das wirkliche Leben für uns bereit hält, zum Beispiel einen Nikolaj Jeshow, genannt der ‚Zwerg’, oder einen Otto Ohlendorf, der vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal ungerührt die Ermordung zehntausender unschuldiger Menschen zum Besten gab.

    So die Autoren im Vorwort des Lexikons. In den Erläuterungen zu Jeshow und Ohlendorf steht außer ihren Daten auch das Wesentliche über die Verbrechen zu lesen, die einst der Geheimpolizei-Chef Stalins und der hohe SS-Offizier im Reichssicherheitshauptamt zu ihrer Zeit verübt haben. Beide Stichwort-Artikel machen damit exemplarisch, wie das Handbuch unter dem Gesichtspunkt der Geheimdienstgeschichte einen Beitrag zur historischen Aufarbeitung der beiden Diktaturen leistet, die Europa im 20. Jahrhundert heimgesucht haben.

    In rund viertausend lexikalischen Artikeln wird viel Material ausgebreitet, übersichtlich und reich illustriert. Sie beinhalten je zur Hälfte biographische Daten geheimdienstlicher Schlüsselfiguren, prominenter Stasi-IM, klandestiner Einfluss-Agenten und berühmt-berüchtigter Spione zum einen, Erläuterungen zur Geschichte der Geheimdienste und Begriffserklärungen aus dem Metier zum anderen. Quellenbasis ist zumeist nachgewiesene Fach- und Sachliteratur. Die selbstgestellte Aufgabe, die Organisationen der Geheimdienste, die Menschen, ihr Denken, ihre Vorstellungswelt sowie ihre Handlungen über ein gutes Jahrhundert hinweg möglichst nüchtern darzustellen, haben die Autoren im Großen und Ganzen gelöst. Indes sind manche Einwände zu machen, ihre Auswahlkriterien sind zu hinterfragen, ihr zuweilen allzu salopper Stil ist einem Lexikon nicht angemessen. Zu vermissen sind häufig auch Akribie und Systematik. Schwerer als dieser Vorhalt wiegt die Kritik, nicht immer gesicherte Erkenntnisse, sondern manchmal nur Gerüchte und Spekulationen wiederzugeben.

    Das Lexikon will ein populärwissenschaftliches Nachschlagewerk sein, das sowohl historisch als auch aktuell angelegt ist. Thematischer Schwerpunkt sind die in Deutschland zur Zeit des Kalten Krieges agierenden Geheimdienste in Ost und West. Auch zum Beispiel die Ostbüros der Parteien, die KgU und den UFJ – die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit und den Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen – werden berücksichtigt. Instruktive Stichwort-Artikel behandeln zudem die deutschen sowohl wie die wichtigsten ausländischen Geheimdienste der Gegenwart – wozu häufig Organigramme und Personalia geboten werden.

    Das Bemühen um Aktualität belegt, als Beispiel genommen, der Stichwort-Artikel zu den so genannten Rosenholz-Materialien, jenen einst vom MfS mikroverfilmten Karteikarten der Personenkartei F 16 mit den Klarnamen und Registriernummern der Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi-Spionage und den Karteikarten der Vorgangskartei F 22, die im Zuge des Umbruchs in der DDR in die Hände der CIA gelangten. Nachdem der Verfassungsschutz, aus welchen Gründen auch immer, den amerikanischen Coup mit dem Decknamen "Rosenholz" bedacht hatte, bürgerte sich dafür das Codewort "Rosewood" ein – eine unsinnige Bezeichnung, die die CIA nie gebraucht hat. Leider kolportiert sie auch das Lexikon. Immerhin wollen die Autoren wissen, dass die Rosenholz-Materialien der CIA durch den einst in Ost-Berlin eingesetzten KGB-Offizier Alexander Prinzipalow zugespielt wurden. Prinzipalow erlag 1995 – Zitat: "während einer Autofahrt in Moskau einem ominösen Herzleiden." Ein Racheakt? Im Lexikon bleibt die Frage offen.

    Einen besonderen Vorzug machen zweifellos die Personalia in dem Lexikon aus, die biographischen Stichwort-Artikel, aber im Detail zeigt sich auch hier manches Defizit. So werden die einstigen Chefs der KGB-Vertretung in Berlin-Karlshorst, Nikolai Kowaltschuk, Jewgenij Pitowranow und Iwan Fadejkin, verzeichnet, aber warum Michail Kawerznew unerwähnt bleibt, auch er hatte diese Funktion in der DDR inne, ist unerfindlich. Emmi Stenzer, ein anderes Beispiel, wird als sowjetische Einflussagentin vorgestellt, aber dass sie die erste geschiedene Ehefrau von Markus Wolf ist, bleibt unerwähnt. Die fehlenden Todesdaten des langjährigen KgU-Chefs Ernst Tillich, der 1985 verstarb, oder des letzten Leiters des UFJ, Walter Rosenthal, der seit 1987 nicht mehr lebt, wären unschwer zu recherchieren gewesen. Entsprechendes gilt für den an einer Reihe von Menschenraubaktionen beteiligten Stasi-Agenten Kurt Rittwagen, der 1993 einen tödlichen Herzinfarkt erlitt. Dem Lexikon zufolge scheinen sie noch am Leben.

    Es ist auch sonst schludrig redigiert. Alexander Scheljepin beispielsweise, KGB-Chef von 1959 bis 61, wird einmal mit richtigem Namen vorgestellt, ein anderes Mal erscheint sein Nachname als Schaljapin. Einmal wird die russische Exil-Organisation NTS deutsch als "Nationaler Bund der Schaffenden" übersetzt, ein anderes Mal als "Volksarbeitsbund". Mal wird die russische Abkürzung KGB für "Komitee für Staatssicherheit" richtig mit dem Artikel "das" versehen, mal heißt es im Text "der KGB". Solche Mängel wären bei mehr Sorgfalt ebenso vermeidbar gewesen wie Querverweise auf Stichwortartikel, die hernach unauffindbar sind. Dessen ungeachtet stellt das Lexikon – wahrscheinlich das einzige seiner Art – ein nützliches Nachschlagewerk dar, auch durch seine Literaturangaben, dem eine zweite Auflage zu wünschen ist – freilich nach gründlicher Überarbeitung. Zum Anliegen des Lexikons führen die drei Autoren pointiert aus:

    Der Schwerpunkt der Abhandlung liegt in Deutschland und in seinen Bezügen zur Weltpolitik. Ein frommer Wunsch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lautete, dass deutsche Politik nie wieder eine solche weltpolitische Perspektive haben dürfe. Diese Idylle ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts gründlich zerstört worden. Politik wird auch wieder zum Gegenstand der Durchsetzung eigener nationaler Interessen. Als Mittel zum Zweck dienen hierbei die Geheimdienste. Es steht zu hoffen, dass dies auch den deutschen Geheimdiensten in absehbarer Zeit auffällt.

    Vielleicht. Vielleicht nicht. Vor Überschätzung der Geheimdienste ist allemal zu warnen. Über ihre Unzulänglichkeit und Unfähigkeit bringt das "Lexikon der Geheimdienste" mehr Beispiele, als den "Schlapphüten" lieb sein kann.