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Henkel: OECD-Studie ist niederschmetternd

Durak: Am Telefon habe ich nun den Präsidenten der Leibniz-Wissenschaftsgemeinschaft. Schönen guten Morgen, Herr Henkel. Was halten Sie von dieser Studie? Sind die Zahlen zu alt und treffen nicht zu?

    Henkel: Diese Reaktion, die Sie berichten, ist wieder mal typisch. Man versucht der Realität auszuweichen und nicht den Problemen auf den Grund zu gehen. Für mich ist eigentlich das, was diese neue Studie da belegt, eines der niederschmetterndsten Ergebnisse, die wir je hatten beim Thema, "Vergleicht man Deutschland mit anderen Ländern", denn genau die gleichen Politiker, die sagen, es wäre ja alles nicht so schlimm, das sind die gleichen, die immer wieder sagen, dass ein Land ohne Ressourcen, ohne Bodenschätze nur ein Kapital hat, nämlich das Gold in den Köpfen ihrer jungen Leute und damit ist es nun nicht sehr weit her. Deshalb muss man doch zuerst einmal sagen, o.k., wir sind nicht mehr da, wo wir einmal waren und nun müssen wir etwas ändern, anstatt diesen Zustand einfach zu negieren.

    Durak: Es gab ja genug Zeit, nach PISA etwas auf den Weg zu bringen, das hat man ja wohl auch getan. Aber reicht das aus? Was denken Sie?

    Henkel: Naja, das kann man nicht sagen, genug Zeit. Ich habe 17 Jahre meines Lebens im Ausland gelebt und bin, so wie viele Ihrer Hörer auch herumgekommen und kann eines berichten: Dass eigentlich in allen Ländern das eigene Bildungssystem überall recht kontrovers zur Zeit diskutiert wird, aus unterschiedlichen Gründen. Bei den Japanern sind viele Menschen der Meinung, es sei doch zu anstrengend für die jungen Leute, in Frankreich meint man, man sei zu elitär, man würde nichts für die Masse tun. In Amerika beklagt man, dass sich nur reiche Leute gute Schulen leisten können. Also das Bildungssystem scheint ja von allen Systemen mit das trägste zu sein, also nicht so einfach sich auf die neuen Herausforderungen der neuen Technologien oder der Globalisierung einzustellen. Trotzdem, überlegen Sie sich mal für eine logische Sekunde, wir hätten tatsächlich das Ruder schon seit zwei Jahren an allen deutschen Schulen herumgerissen. Dann würden ja die jungen Leute, die damals PISA getestet waren, demnächst in die Berufe gehen. Die kommen zum Deutschlandfunk, die gehen in die Wissenschaft, die gehen in die Wirtschaft, die gehen in die Politik, und sie sind im internationalen Vergleich nicht so gut ausgebildet wie ihre Konkurrenten in anderen Ländern. Das ist schon dramatisch genug. Das heißt, selbst im besten Fall, im Falle, dass man schon etwas geändert hätte, wären die Folgen dieser relativ schlechten Ausbildung im internationalen Vergleich noch gar nicht absehbar. Die kommen erst auf uns zu.

    Durak: Ich denke mal, Sie sind kein mutloser Mann, obwohl Sie die Lage so desaströs beschreiben. Machen Sie einen Vorschlag, ist zum Beispiel das Föderalismussystem, was den Bildungsbereich betrifft, hinderlich?

    Henkel: Ich bin persönlich der Meinung, es ist nicht hinderlich, vielleicht sogar eher im Gegenteil. Wir haben ja gesehen - und das ist das Interessante, wenn Sie die PISA-Studie innerhalb Deutschlands aufschlüsseln -, dass es doch Unterschiede gibt. Da gibt es durchaus Schulen, die wirklich sehr gut sind, und es gibt Schulen, die schlecht sind. Es gibt eigentlich - und das ist eigentlich typisch für uns - sozusagen ein unbefriedigendes Mittelmaß. Aber soweit ich mich an die Ergebnisse erinnere - ich bin Hamburger, man hört es wahrscheinlich -, sind die Gymnasiasten in München den Hamburgern eineinhalb Jahre in Mathematik und Physik voraus, und ich glaube nicht, dass es an den Genen liegt. Es kann also tatsächlich auch in Deutschland unterschiedliche Schulsysteme geben. Man müsste nur dafür sorgen, dass jeder vom Besten lernt. Hier sehe ich tatsächlich eine Hoffnung. Die zweite Aussage, die diese neue OECD-Studie hier macht - und das habe ich immer schon gesagt -, wir geben zu wenig Geld aus. Die deutsche Gesellschaft hat sich dazu entschlossen - das liegt an der Politik der letzten 30 Jahre - viel für Soziales auszugeben. Das Äquivalent zu 34 Prozent des Bruttosozialproduktes wird für Soziales ausgegeben. Dieser Prozentsatz ist Jahr für Jahr gestiegen. Wir geben auf Grund unserer hohen Schulden zu viel für Zinsen aus. Das heißt, die deutsche Politik verschreibt Rezepte zu Gunsten heutiger Wähler und zu Lasten zukünftiger Generationen, und das muss aufhören. Also hier sieht man einen Ansatzpunkt. Es geht nicht nur um Geld. Es geht auch um andere Rezepte. Nehmen Sie mal Wettbewerb. Es gibt ja jetzt Gott sei Dank einige Bundesländer, wo das möglich ist, wo also die Zensuren in einer Klasse nicht nur nach der Gauschen Normalverteilung vergeben werden, also die Anzahl der Einsen, Zweien, Dreien, Vieren und Fünfen ist überall gleich, sondern nach einem einheitlichen Standard. Das muss kein Bundesstandard sein, das kann auch ein Länderstandard sein. Mir gefällt hier die Aussicht, dass das eine oder andere Land sich mehr zutraut und mutiger ist. Das ist eigentlich besser als dass wir wieder mal alle warten auf einen Konsens der Kultusministerkonferenz, die ja, wie wir alle wissen, nur einstimmig entscheidet. Wissen Sie, überall, wo Gremien sitzen, wo einstimmig entschieden werden muss, besteht grundsätzlich der Langsamste immer das Tempo. Deshalb bin ich eigentlich beim Thema Schule eher für mehr Föderalismus. Ich will mal sagen, in der letzten Konsequenz - zumindest beim Thema Schule - bin ich der Meinung, dass die Kultusministerkonferenz hier nichts mehr zu sagen haben sollte. Auch die kleinen Länder in Europa, zum Beispiel Finnland und Schweden, die ja in der Größenordnung kleiner sind als einige Bundesländer, haben gezeigt, dass sie wesentlich besser abgeschnitten haben bei PISA. Also wir müssen keinen bundeseinheitlichen Einheitsbrei machen. Wir müssen den Schulen und den Ländern viel mehr Freiheit geben.

    Durak: Und wir müssen vielleicht auch noch die Bildungspolitik im wahrsten Sinne des Wortes auf breitere Schultern verteilen. Ich meine auch die Wirtschaft, ich meine auch Eliten in der Wirtschaft. Nun gibt es nach dieser neuen Studie aus den Bereichen BDA, BDI und anderen Wirtschaftskreisen ja die bekannten, muss ich schon mal sagen, Vorschläge, ein Pakt für Bildung, man müsse mehr investieren, man müsse eine Bildungsoffensive starten. Das hat man alles schon gehört und es nutzt sich irgendwie ab. Tut die Wirtschaft zu wenig?

    Henkel: Das kann man doch nicht sagen. Die Wirtschaft wird zur Zeit für alles verantwortlich gemacht. Man kann ja von der Wirtschaft nicht verlangen, dass sie auch noch Verantwortung für die Schulen übernimmt. Natürlich finde ich es ganz gut, wenn sich Leute aus der Wirtschaft auch mal in den Schulen sehen lassen. Aber zunächst einmal ist es auch eine Verantwortung der Eltern. Nehmen Sie mal diesen Schnellschuss der Bundesregierung beim Thema Ganztagsschulen. Ich bin persönlich sehr für Ganztagsschulen, aber aus ganz anderen Gründen. Es gibt Frauen, die gerne berufstätig sein wollen, und es gibt sicherlich auch Haushalte, in denen die Betreuung von Kindern nachmittags nicht möglich ist. Das ist alles sehr gut, aber das ist kein Patentrezept nun für die Verbesserung der Schulen. Im Übrigen muss ich eins sagen, Sie haben ja in der Anmoderation auch auf die Hochschulen hingewiesen. Ich weiß nicht, ob sie Hörerinnen und Hörer wissen, dass die durchschnittliche Studiendauer an den deutschen Universitäten 1970 noch genau 10 Semester war. Die ist heute über 14. Das kann man auch ändern. Aber Deutschland hat immer noch einen großen Standortvorteil beim Thema Bildung, und das ist das duale System. Wir haben einfach eine Arbeiterschaft, die besser ausgebildet ist, als in vielen besser benoteten PISA-Ländern. Diesen Standortvorteil müssen wir behalten.