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Archiv

Herbert Kapfer: "1919"
Atemlos durch das Jahr

Deutschnationale neben Revolutionären, Romane neben Zeitungsartikeln: In "1919" greift Herbert Kapfer auf die Collage als historiografisches Instrument zurück. Um dieses eine Jahr in all seinen Facetten zu beleuchten, gestaltet er ein beeindruckendes Panorama der Stimmen und Stile.

Von Samuel Hamen | 20.05.2019
Zu sehen ist der Autor Herbert Kapfer und das Cover seines Romans "1919".
Herbert Kapfer: "1919" (Autorenfoto: Privat/ Cover: Kunstmann Verlag)
Am 7. Juli 1987 besuchte der Herausgeber und Autor Fritz J. Raddatz seinen Schriftstellerkollegen Walter Kempowski. Nach dem Treffen notierte Raddatz in seinem Tagebuch:
"Dann zeigte er mir sein vollkommen absurdes, tickhaft überbordendes Archiv mit 1000en von Fotos, Laienbiographien, grotesken handschriftlichen Lebensläufen im Sinne des ewigen Taxifahrergesprächs 'Mein Leben, wenn ich das aufschreiben täte, es wäre ein Roman' – das geht vom Arbeiter 1920 über die Hausfrau im Kriege und die Familie auf dem Flüchtlingstreck bis heute. Einmalig und verrückt."
Was Raddatz gesehen hatte, speist zehn Jahre später das berüchtigte "Echolot"-Projekt: In insgesamt zehn Büchern, auf mehr als 7.500 Seiten, versammelt Kempowski historische Quellen unterschiedlichster Formate. Es ist ein bemerkenswertes Kabinett der Archivalien, zusammengetragen mit dem Ziel, ausgewählte Monate des Zweiten Weltkriegs als erlebte Zeitgeschichte zu vermitteln.
Volk in Gefahr
Diese Tradition der collagierten Chronik führt nun Herbert Kapfer mit seinem bei Kunstmann erschienenen Buch "1919" fort. Mehr Arrangeur denn Erzähler versammelt auch er Ausschnitte aus zahlreichen Quellen, die er kommentarlos zusammenmontiert. Erst das Quellenverzeichnis am Ende informiert über Autorschaft, Titel und Publikationsjahr.
Nathanael Jüngers deutsch-nationalistischer Roman "Volk in Gefahr" von 1921 reiht sich etwa an den utopischen Militaria-Roman "Die Stadt unter dem Meere", den Joseph Delmont 1925 veröffentlichte. Dazwischen stehen Absätze aus Memoiren wie Ernst Tollers "Eine Jugend in Deutschland" von 1933 sowie aus Geschichtsstudien wie Gustav Noskes 1921 erschienenem "Von Kiel bis Kapp. Zur Geschichte der deutschen Revolution". Alle Materialien, egal ob sie fiktionaler oder nicht-fiktionaler Art sind, nehmen Bezug auf das Jahr 1919:
"Um sie herum saßen, hockten, standen, preßten sich Soldaten, Zivilisten, Männer, Frauen, türmten und klemmten sich große und kleine, runde und eckige Säcke, Beutel, Kisten, Kasten, Tornister. Hitzige Gespräche über Politik, heftiges Gerede über die Fragen des Streiks, der Putsche, Drohungen mit Totschlag, Bombenwurf, Brand, Vernichtung der Eisenbahnen, Giftworte über einen neuen Krieg, den die Revolutionsregierung heimlich vorbereite, Entrüstungsstürme über die zurückkehrenden Frontsoldaten, die noch nicht genügend revolutioniert wären, Verwünschungen über die schlechte Ernährung, Flüche gegen die Kapitalisten, gegen die Gebildeten, gegen jeden, der einen besseren Anzug trug, Prophezeiungen von Plünderungen der Villenviertel in den Städten, der Höfe in den Bauerndörfern; das platzte, schwirrte, bohrte durcheinander, und ihm, dem Fräulein, das seinen vom Tod bedrohten Geliebten gesucht hatte, war es, als ob es unter einem Geschwirre von Säbeln, Messern, Granaten stände."
Nebeneinander, gegeneinander, ineinander
Dieser Auszug aus Hans Roseliebs Roman "Die Fackelträger" illustriert eindrücklich, welchem Unterfangen sich der 1954 geborene Kapfer stellt. Die Gemengelage des Revolutionsjahres soll in all seinen Bewegungen und Gegenbewegungen veranschaulicht werden. Das Jahr ist auch der Beginn der sogenannten Kampfzeit, jener Phase, die gemäß der NSDAP-Ideologie das Fundament für die spätere Machtentfaltung legte. Der Jubel der Revolutionäre vermengt sich auf den vierhundert Seiten mit der Scham der Deutschnationalen; der Furor jener, die sich vom Versailler Vertrag gedemütigt fühlen, steht neben dem Eifer hoffnungsfroher Pazifisten. Dabei ist die Feinmechanik, mit der Kapfer die einzelnen Text-Segmente aufeinander abstimmt, außerordentlich. Auf das antisemitische Gebrabbel einer Romanfigur und die späten Mutmach-Parolen Wilhelms II. folgt Hugo Balls Erläuterung des Begriffs Propaganda:
"Heute ist es nicht mehr die Kirche, sondern der Staat, der es für wichtig hält, Prinzipien durch eine organisierte Verbreitung zur Geltung zu bringen. Und nicht Gottes und der Völker, sondern abkommandierter Skribenten Stimme ist es, die den Begriff der Propaganda in Verruf gebracht hat. Moral oder Unmoral der Propaganda hängen von den moralischen oder unmoralischen Absichten des Staates ab."
Ein Kabinett der Stile und Stimmen
So entfaltet sich nach und nach ein fraktales Panorama, ein diskursives Wimmelbild, in dem die Leserschaft, so sie denn über ausreichend historisches Vorwissen verfügt, allem nachspüren kann: den autoritären Phantasmagorien, in denen sich die Sehnsucht nach einem starken Führer artikuliert, ebenso wie Verrisse zum "Lehrbuch des deutschen Bürgerkrieges", in denen Militarisierung und Brutalisierung angekreidet werden:
"Wir hoffen, daß die anständige Welt ihre Verachtung, ihren Abscheu jenen Bankrotteuren in Uniform bekundet, die da neben anderen Perfidien als Lehrsätze aufstellen, im bevorstehenden Bürgerkrieg 'Forderungen ohne lange Verhandlungen mit Gewalt durchzusetzen', 'Handgranaten und Minen oder auch nur Leuchtpatronen auf die weiter hinten stehenden Hetzer und Antreiber abzugeben', weil das 'oft besonders wirkungsvoll' ist."
Die Öffentlichkeit ist in "1919" in Wallung geraten. Sie wird schier greifbar in ihrem Hin und Her, in ihrem Verdrängungsprozess, wer sich denn nun raffinierter erinnern kann, wer klüger argumentieren und wer eindringlicher erfinden kann. Allen Genres wird Gehör geschenkt, der Satire in Form einer entblößenden Hitler-Biographie ebenso wie einem Soldatenroman, in dem Figuren namens Rolf mit heißen Wangen "rien ne va plus! " murmeln, bevor sie in den Kampf ziehen.
Himmlers Hirn heißt Heydrich
Kapfers Archiv ist alles zugleich, Irrenanstalt der Ideologien, Wunderkammer des Fabulierens und Treibhaus für Stilblüten. Einen Kommentarteil mit zeitlichen Einordnungen und Zusatzinformationen versagt sich das Buch indes. Es geht hier vielmehr um die rohe Evidenz der Texte: Ihrer muss die Leserschaft selbständig Herr werden.
Kapfer scheut sich nicht vor den Implikationen, die sein geschichtsversessenes Projekt zeitigt. Ähnlich wie Laurent Binet in seinem furiosen Roman "HHhH" ("Himmlers Hirn heißt Heydrich") weiß er, dass das Schreiben von und über Geschichte eine delikate Angelegenheit ist, gleichermaßen Konstruktion, Erklärung, Fehleinschätzung, Interpretation, Brechung und Wunschdenken. Nicht umsonst ist dem Titel die Gattungsbestimmung "Fiktion" beigegeben.
Im Mix der Stile wird eben dies offensichtlich: dass sich Geschichte nicht so leicht als die eine damalige Realität dingfest machen lässt. Auf seine Weise stellt "1919" denn auch einen Beitrag zur Storytelling-Debatte dar, die nach den gefälschten "Spiegel"-Reportagen von Claas Relotius und der Kontroverse um Takis Würgers Roman "Stella" geführt wurde. Dieses Buch gibt eine klare Antwort: Sie ist ein Trug, diese eine wohlfeile Erzählung, in der sich alle Fäden hübsch zusammenschnüren lassen, um dem Publikum ein kompaktes Story-Paket vor die Füße zu schmeißen.
Konzeptuelle Freiheiten
Wie jede literarische Arbeit ist auch "1919" ein ästhetisches Produkt, hergestellt unter bestimmten Bedingungen und in Bezug auf bestimmte Erwartungen. Weder spricht auf diesen Seiten der Zeitgeist rundheraus noch offenbart sich die geschichtliche Wahrheit leichterhand. Vielmehr werden hier Quellen selektiert, dann von einer nahezu unsichtbaren Hand mit dezidiertem Gestaltungswillen arrangiert und mathematisch präzise aufeinander abgestimmt.
Allerdings kommen auf 25 Einzelpublikationen von Autoren dabei gerade einmal zwei Werke von Autorinnen. Sicherlich hätte es neben den Romanen von Agnes Harder und Sophie Hoechstetter weiteres Quellenmaterial gegeben, das sich der Chronik hätte beigeben lassen, etwa von den Schriftstellerinnen Gabriele Tergit, Anna Seghers, Agnes Miegel, Annette Kolb oder Emma Hennings.
Abgesehen davon gelingt es Herbert Kapfer mit diesem großen Wurf über ein Jahrhundert hinweg viele und vieles ins Recht zu setzen: Seinem Publikum mutet er einen multiperspektivischen Blick auf die Vergangenheit zu. Damit wird er auch seinem Erzählgegenstand in all seiner Komplexität gerecht. Überdies offeriert er der gegenwärtigen Öffentlichkeit mit seiner collagierten Chronik nicht noch weitere narrative und ideologische Pauschalitäten, derer hat sie weiß Gott mehr denn genug. Nein, "1919" degradiert Literatur glücklicherweise nicht zur historiographischen Schießbuden- und Likörpralinen-Prosa, sondern führt sie mit all ihren konzeptuellen Freiheiten ins Feld. Es ist ein großer Gewinn, Kapfer auf diesem Weg zu folgen.
Herbert Kapfer: "1919", Verlag Antje Kunstmann, München, 424 Seiten, 25 Euro