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Hermenau: Kindstötungen im Osten nicht auf DDR schieben

Die Äußerungen von Sachsen-Anhalts Regierungschef Wolfgang Böhmer zu Kindstötungen stoßen weiter auf Kritik. Die Grünen-Politikerin Antje Hermenau sagte, Böhmer hätte sich besser informieren sollen, statt einfach loszuschwätzen. Es gebe zwar in Ostdeutschland tatsächlich mehr Kindstötungen als im Westen. Es greife aber zu kurz, die Ursachen dafür auf die ehemalige DDR zu schieben, betonte die Fraktionsvorsitzende der Grünen im sächsischen Landtag. Vielmehr müsse man die Gründe im neuen Lebensalltag der Menschen suchen, die oft überfordert seien.

Moderation: Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Liegt Wolfgang Böhmer mit seinen Äußerungen eindeutig falsch?

    Antje Hermenau: Mir kommt das außerordentlich unrealistisch vor. Ich glaube, dass Herr Böhmer sich gar nicht weiter informiert hat, obwohl er einen großen Apparat hat, der ihn informieren könnte, und einfach mal so aus seiner privaten Lebenserfahrung losgeschwätzt hätte. Er war ja Frauenarzt und hat sicherlich auch mal den einen oder anderen dramatischen Fall zu Aug und zu Ohren bekommen. Aber das Ganze sozusagen dann auf die DDR zurückzuführen, greift ja viel zu kurz. Wir haben eine Reihe von Kindstötungen, wo die Eltern so jung gewesen sind, dass sie in der DDR nicht aufgewachsen sein können, zum Beispiel. Wir haben auch eine Studie zum Beispiel zur tödlichen Kindesmisshandlung aus den Jahren 1985 bis 1990, die Ost und West verglichen hat und festgestellt hat, dass im Westen zirka jede zweite Kindestötung unentdeckt bleibt, weil dort weniger Kinder adoptiert worden sind.

    Meurer: Sie glauben, wir haben einfach sozusagen die falsche Brille auf, und im Osten gibt es das nicht häufiger?

    Hermenau: Es gibt das häufiger, und wenn es das häufiger gibt, dann muss man nach den Ursachen fragen. Aber ich würde sie halt nicht so weit zurück in der Geschichte suchen. Ich habe selber auch die DDR nicht lieb, aber das ist kein Grund, alles auf die DDR zu schieben. Ich glaube, dass die Leute heute massiv überfordert sind, gerade im Osten mit ihrem neuen Lebensalltag. Und es geht nicht darum, mal kurzzeitig arbeitslos zu sein, sondern auf Dauer perspektivlos zu sein. Wir haben ja auch einen Anstieg zum Beispiel von Müttern unter 18, das ist ja auch signifikant.

    Meurer: Wie kann man diesen Frauen helfen?

    Hermenau: Man müsste den Frauen übrigens, wie ich finde, in ganz Deutschland helfen, auch den Männern übrigens, die Väter werden, wenn sie mit Überforderung, Alkohol, Drogen, Beziehungsproblemen, Arbeitslosigkeit nicht mehr zurecht kommen. Das heißt für mich, die Fürsorgedichte muss vergrößert werden. Man kann einem alleinerziehenden drogenabhängigen Vater wie dem Vater von Kevin in Bremen eben das Kind nicht zurückgeben, meiner Meinung nach, und man muss eben wie im Fall Zwickau, der Fall Kevin in Zwickau, darauf achten, dass bei überforderten Eltern eben der Staat mehr beratend und unterstützend zur Seite steht und im Zweifel auch die Kinder für eine Weile entzieht. Ich halte das für wichtiger, als so zu tun, als ob da irgendwelche historischen Nachwehen Schuld seien. Ich finde es übrigens von einem Arzt, der Herr Böhmer ja ist, fachlich außerordentlich fraglich, dass er die Kindstötung und den Schwangerschaftsabbruch so eins zu eins zueinanderfügt. Das sind doch zwei sehr verschiedene Sachverhalte.

    Meurer: Gerade er könnte es aber besonders gut wissen, denn er war Chef der Gynäkologie gewesen und hat vielleicht auch einen besonderen Einblick gewonnen damals?

    Hermenau: Ich will gar nicht verhehlen, dass natürlich auch mal bei den Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch haben, auch mal eine dabei ist, wo man den Eindruck gewinnen kann, sie hat es sich aber leicht gemacht mit der Entscheidung. Das ist ja nicht der Punkt. Der Punkt ist ja, warum jetzt diese Kindstötungen kommen. Und der Schwangerschaftsabbruch ist doch in Deutschland erlaubt. Es ist ja nicht so, dass die Frauen keine Möglichkeit hätten, die Schwangerschaft vorher abzubrechen. Es ist so, dass sie nicht mit ihrer Lebenssituation zurecht kommen, wenn die Kinder da sind.

    Meurer: Glauben Sie, dass es in den neuen Ländern eine andere Einstellung zum Thema Abtreibung gibt als in den alten Bundesländern?

    Hermenau: Das glaube ich nicht wirklich. Ich habe mir mal die Statistiken angeguckt, wie sich das entwickelt hat. Im Westen war die Abtreibung ja lange nicht erlaubt. Und erst als sie erlaubt wurde, gingen die Fallzahlen dann hoch, und zwar ziemlich heftig. Im Osten ist sie ja schon seit 1974 erlaubt gewesen. Da gab es dann sehr hohe Fallzahlen, die dann aber wirklich in Schritten immer weiter runtergegangen sind. Es gab noch mal einen Anstieg nach der Wende. Die Menschen waren maßlos verunsichert, da gab es also mehr Schwangerschaftsabbrüche. Und dann war es gut. Dann gingen die Zahlen wieder weiter zurück. Die Leute wollen gerne Kinder. Und die meisten wissen auch, wie sie verhüten, wenn sie keine wollen. Die Frage ist, wie man den Menschen hilft, die auf Dauer in materieller Not sind und ihre Lebenssituation nicht mehr bewältigen. Das scheint mir eher die Wahrheit zu sein als die Frage, ob der zynische Staat DDR jemandem die Seele malträtiert hat, was sicherlich auch vorgekommen ist. Ich habe die DDR für zynisch gehalten immer.

    Meurer: Im Westen haben wir den Einfluss der Kirchen, die natürlich Mentalitäten prägt, Einstellungen prägt. Der Einfluss der Kirche ist in den neuen Ländern bei Weitem nicht so stark. Die Gesetzeslage ist seit Langem, also ist natürlich jetzt einheitlich, längst, aber seit 1972 war es drei Monate lang erlaubt abzutreiben, ohne Beratung. Bleibt da etwas zurück von diesen Regeln und Gesetzen?

    Hermenau: Also man kann sicherlich mal eine gute Betrachtung darüber anstellen, inwiefern die Kirche und die aktive Zugehörigkeit zu einer Kirche nicht auch eine Art internes Beratungssystem in Lebenslagen darstellt und damit Leuten mehr Sicherheit gibt, Entscheidungen zu treffen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Während Leute, die völlig vereinzelt sind und in keine Gruppe mehr gehören, weder auf Arbeit, in irgendein Arbeitskollegium, noch eben zum Beispiel eine Religionsgemeinschaft eigentlich völlig beratungslos durch die Gegend trudeln, wenn der Staat versagt. Da muss man sicherlich mal drüber nachdenken. Und ich glaube, dass da im Osten auch aktiver Handlungsbedarf ist. Ich glaube nicht, dass man alle Menschen zurück in die Kirche holen soll und kann, aber ich bin der Auffassung, dass der Staat dieses Fürsorgeloch abdecken muss.

    Meurer: Frau Hermenau, noch kurz, wie wirkt sich das aus, wenn gesagt wird, die Ostdeutschen sind weniger demokratisch, sie sind eher rechtsradikal, sie bringen häufiger ihre Kinder um, wie kommen solche Vorwürfe an?

    Hermenau: Na ja, die Menschen werden ja immer weiter verunsichert. Sie haben auf der einen Seite schwierigere Startbedingungen, sie spielen ja auf einem Spielfeld mit dem Kapitalismus, in dem sie nicht aufgewachsen sind, zumindest die Leute über 40, und sich nicht auskennen und müssen irgendwie trotzdem maximale Leistungen bringen. Und auf der anderen Seite gibt es viele junge nachgewachsene Leute hier im Osten, die eben in diese schwierige Perspektive hineinwachsen. Und das verunsichert die Leute immer mehr. Es äußert sich sehr oft in zunehmender Aggressivität, das ist aber vor allen Dingen bei Männern der Fall, und eben auch in Hilflosigkeit auf weiblicher Seite. Und das ist außerordentlich bedauerlich. Es gibt ja auch eine sehr hohe Abwanderungsquote zum Beispiel von jungen Frauen zwischen 15 und 25, die bevorzugt die Gegend verlassen.

    Meurer: Antje Hermenau, die Fraktionsvorsitzende der Grünen in Sachsen heute Morgen im Deutschlandfunk. Frau Hermenau, schönen Dank und auf Wiederhören!