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Herr Kalm träumt einen Mord

Dass der renommierte Übersetzer Ernst Kaiser nach dem Krieg an einem Roman arbeitete, ist kaum bekannt. Die Hauptfigur, der reiche Industrielle Herr Kalm, träumt, er habe eine alte Frau ermordet. Er geht zur Polizei, will gestehen. Die Polizei, unwillig sich auf Irrationales einzulassen, weist ihn ab.

Von Agnes Hüfner |
    In einem ihrer Bücher, dem Roman "Die Tarotspieler", erinnert Ingrid Bachér an die erste Begegnung mit Ernst Kaiser und seiner Frau im Jahr 1960 - eine Zufallsbekanntschaft, die zur lebenslangen Freundschaft führte.

    "Ich hatte ein Stipendium an der Villa Massimo, ja ich war am Beginn, und es war unglaublich gut, mit Menschen zusammenzukommen, die auch eine längere Geschichte schon hinter sich hatten. Ernst Kaiser war ja Emigrant, dann nach England gegangen. Und mit denen immer wieder über Sprache zu sprechen und über das, was man mit Sprache ausdrücken kann. Er gab mir zu lesen, was er geschrieben hatte, vorher, unter anderem eben auch dieses eine Buch 'Geschichte eines Mordes', und es hat mich sehr fasziniert."
    In Bachérs Erinnerungen an die Begegnung in Rom heißt es, ich zitiere: "keiner wollte seine Arbeiten. ... Wenn Verleger die Kaisers besuchten, sprachen die Gäste über Musil, höflich den Übersetzern und unwillig diesem alternden Anfänger gegenüber". Immerhin hatten Suhrkamp und Rowohlt Interesse an der "Geschichte eines Mordes" bekundet. Sie schlugen Kürzungen vor, in die der Autor einwilligte. Der Roman müsse, "objektiv brauchbar gemacht" werden, räumte er ein. Später schickten beide Verlage das Manuskript kommentarlos zurück.

    "Er war sicher verletzt, aber auch sehr zurückhaltend. Er hat ja auch nie wieder in einem deutschen Sprachraum gelebt. So hatte er auch immer das Gefühl, noch Emigrant zu sein. Und ich denke mir, dass er, wenn er dann mal nicht an Musil-Schriften arbeitete oder sortierte oder darüber sprach, dann auch wieder eigene Ideen hatte und eigene Ideen entwickeln wollte. Er war ein wirklicher Künstler."
    Ernst Kaiser stirbt 1972, zwei Jahre später stirbt seine Frau. Ein Assistent Eithne Wilkins' kündigt Ingrid Bachér an, eine Sendung mit dem Nachlass Ernst Kaisers sei unterwegs an sie, doch das Paket kommt nie an. Weder der Assistent noch ein Verwandter reagieren auf Nachfragen.

    "Dieses Schweigen nach dem Tod von ihr war unglaublich beunruhigend. Irgendwie verwies es mich wieder darauf, dass er Emigrant gewesen ist, so als ob auch die Werke der Emigranten dann wieder verschwinden in schwarze Löcher, weil niemand sich drum kümmert, niemand nachfragt und auf Nachfragen mir keine Antwort gibt. Sie hatte mir ja noch geschrieben vor ihrem Tod, dass ich diese Manuskripte zugeschickt bekommen sollte. Und ich habe später in den Briefen gelesen, dass sie sich beklagt, dass die Post nach Deutschland so unzuverlässig war, dass sie verloren geht. Aber ich bin ja nicht mal sicher, ob sie abgeschickt worden ist. Nicht mal das weiß ich."
    Die Beunruhigung über den Verlust der Manuskripte hält an. Ingrid Bachér fragt sich, ob sie einem Phantom nachjagt? Ein Zufall verschafft ihr Sicherheit.

    "Die Geschichte geht ganz kontinuierlich weiter. Weil ich diese Manuskripte nie bekam, ist mir das nie aus dem Kopf gegangen, nie aus dem Sinn gegangen. Irgendwann durch Zufall fand ich ein Buch von Hermann Broch, 'Schriften zur Literatur I.', und kaufte mir das und blätterte darin und las darin und sehe zu meinem Erstaunen, da gibt es eine Kritik über ein Manuskript von Ernst Kaiser. Das war für mich natürlich das Große, das ich es fand, dass ein wirklich bedeutender Schriftsteller schon etwas von ihm gelesen hatte, und dieses Manuskript lobte, sagte es wäre großartig, es wäre notwendig. Sonst hätte ich ja immer sagen müssen, ich habe da von einem alten Herrn oder von einem guten Übersetzer was gelesen, und das ist verloren, und das war großartig."
    Wo immer sie auftritt, spricht Ingrid Bachér über die verschollenen Manuskripte. Schließlich, gelingt es einem jungen Germanisten das Romanmanuskript aufspüren. Kurz nach der Jahrtausendwende findet er heraus, dass im Literaturarchiv in Marbach, im Nachlass von Wilhelm Bausinger, einem Freund der Kaisers und selbst Musilforscher, Briefe und Manuskripte des Autors liegen, darunter ein Durchschlag der als verschollenen geltenden "Geschichte eine Mordes". Ingrid Bachér fährt nach Marbach, besorgt sich eine Kopie und beginnt die Suche nach einem Verlag. Dann setzt sie sich daran, das Werk im Sinne des Autors "objektiv brauchbar" zu machen.

    "Ich hab dann auch das Gefühl gehabt, ich darf das, weil es einen Brief auch von Ernst Kaiser gibt, wo er beschreibt, wie er mich kennengelernt hat und dass ich ihm einige Striche vorgeschlagen habe, die ganz gut wären. Also, ich glaube, es ist jetzt so in seinem Sinne. Hoffe ich wenigstens. Man kann die Toten nicht fragen, ich denk schon."
    "Die Geschichte eines Mordes" spielt in einer namenlosen, von Tieffliegern bombardierten Stadt. Die Hauptfigur, der reiche Industrielle Herr Kalm, träumt, er habe eine alte Frau ermordet. Er geht zur Polizei, will gestehen. Die Polizei, unwillig sich auf Irrationales einzulassen, weist ihn ab. Kalm glaubt, er sei dem Wahnsinn nahe, doch was, fragt er sich, "ist der Normalsinn"?

    Eine Kritik des Romans sieht hier den Einfluß von Sigmund Freud.

    "Bei Freud ist es dann alles erklärt, wissenschaftlich. Aber das wäre ja noch nichts, wenn man nicht die Sprache dazu hätte, der er damals mächtig war, das so zu beschreiben, dass man plötzlich ja das Ausgesetztsein von einem selber oder das Gefährdete des einzelnen Menschen so sehr zu spüren bekommt in einer Welt, die aus den Fugen ist. Und das kommt in diesem Roman, der Ende des Krieges geschrieben wurde, auch in der Verzweiflung des Krieges, (der Bombenkrieg ist ja da) vor. Diese Verzweiflung und dieses Schuldgefühl, dass man sich schuldig fühlt an dem Morden ringsherum, ohne selber gemordet zu haben, dafür hat er eine Sprache gefunden. Und das hat mich damals fasziniert und hat mich auch beflügelt, dieses Buch zu machen. Man macht es nicht nur aus Freundespflicht, sondern weil man denkt, weil ich dachte, das Buch ist auch heute genau passend in der Zeit und notwendig."
    Nachdem die Polizei Kalm abgewiesen hat, irrt er, gepeinigt von seinen Wahnvorstellungen, bis zum nächsten Morgen durch die ihm fremde Stadt. Unbeteiligt beobachtet er das nächtliche Treiben der Menschen. Wieder zu Hause, beschließt er, sein Leben radikal zu ändern. Er legt fest, welche Möbel an karikative Einrichtungen verschenkt, welche an die Familiengeschichte erinnernden Zimmerfluchten und Säle zugemauert, wie viele Diener, Köche, Stubenmädchen entlassen und großzügig abgefunden werden sollen. Dann ordnet er ein Abschiedsfest für alle an.

    "Es gab ja auch bei uns nach dem Krieg die Zero-Gruppe bei der Malerei, in der Literatur den Kahlschlag, Gruppe 47 - Zurückkommen auf wesentliche Dinge. Und das führt also Herr Kalm vor in dem Buch, in dem er alles verschenkt und sagt, das ist alles ganz unnötig. Und dann macht er ein großes Fest. Das ist die Öffnung zu allen anderen Menschen. Dann ist es fast ein Fellini-Schluss, finde ich, wo er dann mit der Narrenkappe mit den anderen feiert und auf das Wichtige kommt."
    Mit der Verwandlung des Helden vom Herrn Kalm zum Narren beendet der Autor unvermutet heiter das düstere Geschehen. Leichthin entlässt er den Leser aus dem Bann dieser Geschichte eines Mannes, der sich selbst abhandengekommen ist und der in seiner Person zugleich die Wahnsinn gebärende Wirkung des Krieges verkörpert. Kaisers Sprache ist suggestiv. In ständigen Wiederholungen und stark rhythmisierten Sätzen umkreist er seine dem Irrsinn ausgelieferte Hauptfigur. Dramatische Bilder und Vergleiche, wie die Expressionisten sie gebrauchten, suggerieren einen Endzustand. "Die Geschichte eines Mordes" ist ein Buch seiner Zeit, verfaßt im Jahr 1947. Der fremde Blick, mit dem Herr Kalm das nächtliche Treiben der Menschen beobachtet, erinnert an Kafka.

    Ernst Kaiser: "Die Geschichte eines Mordes". Roman. Verlag Ralf Liebe, Edition Die Tausend, Weilerswist 2010, 415 Seiten, 20 Euro.