Capellan: Herr Avnery, geht Ihre Toleranz so weit, dass ein deutscher Politiker Verständnis äußern darf für die Selbstmordattentate der Palästinenser, wie es Jürgen Möllemann getan hat?
Avnery: Selbstmordattentate sind abscheulich. Es gibt auch abscheuliche Sachen, die von unserer Seite passieren. Ein Deutscher darf doch die gleiche Möglichkeiten haben, seine Meinung zu äußern, wie ein Franzose oder Engländer. Zu sagen, Deutsche dürfen diese Meinung nicht äußern, aber dieselbe Meinung darf von einem Franzosen geäußert werden, ist totaler Unsinn. Entweder soll man eine solche Einstellung verdammen, dann überall, oder nicht.
Capellan: Also Sie halten es nicht für gefährlich, dass ein FDP-Politiker wie Jürgen Möllemann ja wohl ganz bewusst auch versucht, mit solchen Israelfeiendlichen Äußerungen Stimmen am rechten Rand zu fangen?
Avnery: Ich bin nicht genau darüber informiert, was der Mann gesagt hat, und ich möchte mich darüber nicht äußern, weil ich einfach nicht weiß, was in dieser Debatte gesagt worden ist. Ich sage: Israel muss und darf kritisiert werden. Ich möchte, dass Israel kritisiert wird im Rahmen einer Einstellung, die für Israel, für Frieden und für Palästina ist. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in der Welt zwischen Israel und Palästina wählen muss. Ich glaube, Israel und Palästina haben dasselbe Interesse am Frieden. Und wenn man für den Frieden ist und Maßnahmen verdammt, die gegen den Frieden, ganz egal auf welcher Seite, dann ist es meiner Ansicht nach gut für Israel.
Capellan: Lassen Sie mich eine Äußerung von Jürgen Möllemann zitieren, weil Sie sagten, Sie kennen diese Äußerungen nicht. Möllemann hat dem Zentralrat der Juden in Deutschland vorgeworfen, dieser schüre mit seiner Intoleranz gegenüber Israelkritischen Äußerungen selbst den Antisemitismus in Deutschland. Das ist ja eine Argumentationsweise, die aus der deutschen Geschichte leidlich bekannt ist. Halten Sie das für Demagogie?
Avnery: Wie gesagt, ich möchte mich nicht darüber äußern, denn um sich darüber zu äußern, muss man wirklich die Einstellung aller Seiten kennen und wissen, was alle Seiten gesagt haben. Ich habe manchmal den Eindruck, dass unsere jüdischen Freunde in Deutschland sehr übertreiben. Sie stellen sich vollkommen einseitig auf die Seite der israelischen Regierung von Herrn Scharon, das heißt einseitig gegen die israelische Friedensbewegung, gegen den Teil der öffentlichen Meinung in Israel, der gegen die jetzige Politik Scharons ist. Das ist nicht eine Einstellung, die für Israel ist, sondern eine Einstellung, die für Scharon, für die israelische Regierung ist.
Capellan: Das heißt also, wenn ich Sie zusammenfassen darf, der Zentralrat der Juden in Deutschland sollte etwas gelassener mit Kritik an der israelischen Politik umgehen?
Avnery: Absolut. Irgendeine Politik zu bejahen, weil sie von der jetzigen Regierung Israels durchgeführt wird, finde ich unmoralisch. Entweder ist diese Regierung gut oder schlecht; darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Israel ist ein sehr differenziertes Land. Wir haben viele Meinungen dort. Wir haben vor ein paar Tagen eine Riesendemonstration von 70.000 Israelis in Tel Aviv gehabt, gegen die Politik dieser Regierung, gegen die Besatzung der palästinensischen Gebiete, gegen die kriegerischen Ereignisse, gegen die Palästinenser. Das ist auch Israel, und meiner Meinung nach ist es das wirkliche Israel, das richtige Israel.
Capellan: Bestehen eigentlich Kontakte zwischen der Israelischen Friedensbewegung, zwischen Ihnen und dem Zentralrat der Juden in Deutschland? Redet man über die unterschiedlichen Auffassungen, die man da ja offenbar hat?
Avnery: Seit dem Tod von Ignatz Bubis bestehen überhaupt keine Beziehung mit dieser Organisation. Diese Organisation ist heute einseitig und total auf Seiten der rechtsradikalen Regierung in Israel, und darum haben wir mit ihr nichts zu tun, und sie haben mit uns nichts zu tun. Ich kenne überhaupt keine Beziehungen, auch nicht von anderen Friedensbewegungen in Israel.
Capellan: Lassen Sie uns auf die aktuelle Entwicklung zu sprechen kommen, auf die Vermittlungsbemühungen, die ja morgen im Nahen Osten wieder anlaufen sollen. Wie bewerten Sie, dass der Likud-Block einen eigenen Palästinenser-Staat abgelehnt hat? So weit wollte selbst Scharon nicht gehen. Sind damit alle Türen für eine friedliche Regelung geschlossen?
Avnery: Herr Scharon hat andere Ziele als den Frieden, und solange er am Ruder ist, wird es keinen einzigen Schritt in Richtung Frieden geben. Er möchte die palästinensischen Gebiete im Grunde an Israel annektieren, jedenfalls die Besatzung fortführen. Das ist eine klare Politik. Es wird nie zu einem Staat Palästina kommen, solange Herr Scharon am Ruder ist, und ohne einem Staat Palästina wird es nicht zu einem Frieden kommen. Und wenn man nicht klar sagt, dass der Friedensprozess zu einem Staat Palästina und zu einem Frieden zwischen Israel und Palästina führen wird, wird es zu keiner politischen Entwicklung kommen. Es wird einfach ein Teufelskreis der Gewalt weiter bestehen. Die Palästinenser werden uns umbringen, wir werden sie umbringen, wir werden palästinensische Dörfer abschneiden, erdrosseln, sie werden weiter Selbstmordattentate in Israel ausüben, und es wird endlos so weitergehen, wenn nicht eine andere Politik betrieben wird.
Capellan: Vielen Dank für das Gespräch.
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