Montag, 13. Mai 2024

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Hervé Le Tellier: „Die Anomalie“
Turbulenzen zwischen Paris und New York

Nach schweren Turbulenzen landet im März 2021 ein Air-France-Flugzeug in New York. Im Juni darauf setzt dieselbe Maschine mit denselben Passagieren erneut zum Landeanflug an. Aus dieser Konstellation bastelt Hervé Le Tellier seinen mit dem renommierten Goncourt-Preis ausgezeichneten Roman.

Von Christoph Vormweg | 17.08.2021
Der französische Schriftsteller Hervé le Tellier und das Cover zu seinem Roman "Die Anomalie"
Hervé Le Tellier schreibt im Roman "Die Anomalie" über Doppelgänger auf 8.000 Metern über dem Boden (Francesca Mantovani © Editions Gallimard)
Die literarischen Formzwänge, die sich Hervé Le Tellier in seinen Büchern auferlegt, sind für Leserinnen und Leser unsichtbar. Sie sind ein interner Spaß für die Mitglieder von OuLiPo, der Pariser "Werkstatt für potentielle Literatur". Doch will der studierte Mathematiker trotz all seiner hintergründigen literarischen Spitzfindigkeiten immer auch unterhalten. Und in der Tat: Hervé Le Telliers Roman "Die Anomalie" entpuppt sich von der ersten Seite an als hochspannend, sein Plot als vielstimmig und rasant. Mit jeder seiner Figuren zieht uns der 64-jährige Pariser in eine neue, ganz heutige Lebensrealität hinein: sei es über die sechsjährige Tochter eines französischen Offiziers, der in Afghanistan Dienst tut, über eine hochdotierte schwarze US-Rechtsanwältin, die von ganz unten kommt, oder über einen ergrauten Architekten, der die obsessive Suche nach jungen Geliebten nicht aufgeben kann. Und dann ist da noch der 43-jährige erfolglose Schriftsteller und Übersetzer Victor Miesel:
"Die kleine Welt der Literatur erscheint ihm wie ein burlesker Zug, in dem sich Betrüger ohne Fahrschein und mit unfähigen Kontrolleuren als Komplizen lautstark in der ersten Klasse niederlassen, während bescheidene Genies – eine aussterbende Art, der Miesel sich nicht zugehörig fühlt – auf dem Bahnsteig zurückbleiben."
Übersetzer über Hervé Le Tellier - „Er erhebt sich über den Ernst des Lebens“
Hervé Le Tellier hat mit dem Prix Goncourt den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs erhalten. Philosophisch und leichtfüßig zugleich sei der ausgezeichnete Roman "L'Anomalie", sagt Le Telliers Übersetzer Jürgen Ritte.
Was all diese Figuren verbindet? Sie befinden sich im März 2021 zufällig im selben Flugzeug von Paris nach New York und müssen im Landeanflug extreme Turbulenzen überstehen. Dass Victor Miesel über diese "Erfahrung der Entwirklichung" das Buch "Die Anomalie" schreibt und sich anschließend das Leben nimmt, ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass der Air-France-Flieger mit denselben Passagieren an Bord vier Monate später noch einmal landet.

Ein Flugzeug voller Doppelgänger

Natürlich wollen die US-amerikanischen Politiker und Militärs alles geheim halten und mit fester Hand Ordnung ins Chaos bringen. Strikt befolgen sie die Anweisungen des nach den Angriffen vom 11. September 2001 von zwei Mathematikern erstellten "Protokolls 42". Doch das entpuppt sich - dem Steven-Spielberg-Film "Begegnung der dritten Art" entlehnt - als Scherz. In jedem Fall: der Professor, der dieses Protokoll mitverfasst hat, zieht angesichts der These, dass die Menschen nur Marionetten einer Simulation seien, den Schluss:
"Das Auftauchen der Maschine kann keinem Durcheinander in der Simulation zugeschrieben werden – es wäre so einfach gewesen, sie 'zu löschen', ein paar Sekunden zurückzugehen. Nein, es ist offensichtlich ein Test: Wie werden Milliarden virtueller Wesen reagieren, wenn sie mit der Enthüllung ihrer Virtualität konfrontiert werden?"
Den identischen Doppelgängern fehlen mehr als drei Monate ihres Lebens. Dieses Szenario eröffnet Hervé Le Tellier unendlich viele, oft humorvolle Kombinations-Möglichkeiten: Wenn der gealterte Architekt die vergeigte Bezirzung einer jungen Schönen noch einmal, diesmal aber viel überzeugender rüberbringen will.

Hochgradig ironisches Chaos

In vielen Szenen führt Hervé Le Tellier in seinem Roman "Die Anomalie" ein hochgradig ironisches Chaos vor, das die meisten Entscheider der Lächerlichkeit preisgibt. Andererseits erleben etliche Doppelgänger fundamentale existentielle Krisen: Kann ein Mann mit zwei identischen Frauen zusammenleben, von denen die eine mittlerweile schwanger ist? Warum gibt es für die einen Doppelgänger nur Eifersucht, für die anderen aber - wie den homosexuellen nigerianischen Musiker Slimboy - eine neidlose Zusammenarbeit als Duo? Wieder muss Victor Miesel, der durch den Selbstmord seines Alter Egos reich gewordene Schriftsteller, mit einer Antwort herhalten.
"Es ist die Hoffnung, die uns verbietet zu handeln, es ist die Hoffnung, die das Unglück der Menschen verlängert, denn, nicht wahr, entgegen aller Evidenz 'wird schon alles gutgehen'. Es kann nicht sein, was nicht sein darf … Die eigentliche Frage, die wir uns jedes Mal stellen müssten, lautet: 'Inwiefern kommt mir ein gegebener Standpunkt zupass?' […] Darf ich Ihnen diesen Satz von Nietzsche in Erinnerung rufen? 'Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.' […] Es wird keinen höchsten Retter geben. Wir müssen uns selbst retten."
Romy und Jürgen Ritte haben Hervé Le Telliers Roman "Die Anomalie" in seiner sprachlichen Dynamik und komplexen Verspieltheit hervorragend übersetzt. Hervé Le Tellier präsentiert eine nicht vorstellbare Situation, die man allenfalls aus Science-Fiction- oder Mystery-Romanen kennt. Gleichzeitig aber führt er die Blindheiten und Absurditäten unserer heutigen westlichen Gesellschaften vor und lanciert – ganz nebenbei - eine wunderbare Parodie auf den Pariser Literaturbetrieb. "Die Anomalie" ist ein Ausnahme-Roman, ein intellektuelles Feuerwerk: voller Überraschungen, voller provozierender, kluger Sätze - und mit einem knallharten, verstörenden Finale. Ob der oulipotische Formzwang eine mathematische Formel ist oder ein Scoubidou-Modell, wie in einem Interview angedeutet, bleibt Hervé Le Telliers Geheimnis. In jedem Fall: Man muss kein Literaturexperte sein, um bei diesem doppelbödigen Roman auf seine Kosten zu kommen.
Hervé Le Tellier: "Die Anomalie"
Aus dem Französischen von Romy Ritte und Jürgen Ritte.
Rowohlt Verlag, Hamburg. 368 Seiten, 22 Euro.