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Fußball-WM
"Heuchelei, Doppelmoral, Eurozentrismus" - Kritik an der Katar-Kritik

WM-Gastgeber Katar steht unter anderem wegen Menschenrechtsverletzungen und zusammen mit dem Weltfußballverband FIFA wegen Korruption in der Kritik. Vor allem der Westen legt dabei seinen Finger in die Wunde. Doch die Vehemenz, mit der das getan wird, stößt international auf Kritik.

23.11.2022
    Ein Gastarbeiter bringt an einer Straße vor dem Khalifa-Stadion in der katarischen Hauptstadt Doha einen Bordstein an.
    Die Todesfälle bei den Gastarbeitern für die Fußball-WM in Katar stehen im Zentrum der Kritik am Wüstenemirat. Doch es gibt extreme Unterschiede bei der Zahl der toten Arbeiter. Sind es drei, 6500 oder gar 15.000? (dpa / picture alliance / Andreas Gebert )
    Der Chefredakteur der Nachrichtenseite "Arabi 21", Feras Abu Helal, verweist darauf, dass viele der größten Baufirmen bei den WM-Projekten in Katar aus dem Westen stammten. Zudem verdienten westliche Arbeitnehmer in diesen Branchen deutlich höhere Gehälter als Wanderarbeiter aus Asien. Diese Tatsachen würden jedoch von westlichen Kritikern der Menschenrechtslage in Katar selten angesprochen. Die Debatte strotze nur so vor Heuchelei, Orientalismus und Eurozentrismus. Während viele internationale Sportereignisse Diskussionen über die Menschenrechtslage in den Gastgeberländern ausgelöst hätten - wie etwa die Kontroverse über Chinas Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang vor den Olympischen Spielen in Peking sei keines so heftig angegriffen worden wie Katar.
    Auch für Ayman Mohyeldin vom US-Sender MSNBC offenbart das, was sich vor der WM-Premiere zugetragen hat, die Abgründe "westlicher Vorurteile, vorgetäuschter moralischer Empörung und - vielleicht am wichtigsten - grober Doppelmoral." Der Journalist wirft den Europäern vor, sich als traditionellen Torwächter des Weltfußballs zu betrachten, die offenbar den Gedanken nicht ertragen könnten, dass ein arabisches Land Gastgeber eines so ehrwürdigen Ereignisses sei.
    Ähnlich äußerte sich der Politikredakteur der deutschen Wochenzeitung "der freitag", Lutz Herden. Dunja Ramadan von der "Süddeutschen Zeitung" nennt die Kritik oftmals auch sehr „selbstgerecht“. Focus-Korrespondent Ullrich Reitz schrieb: "Wir Deutschen haben uns nach der Aufklärung durch Kant und Co. unser Werteland mühevoll erarbeitet, nachdem wir vorher in aller Welt Ströme von Blut verursacht haben. Vielleicht sollten wir es bei der Belehrung von anderen vorsichtiger angehen lassen."

    Auch aus dem Sport kommt Kritik

    Ghanas Nationaltrainer und Ex-Bundesliga-Profi Otto Addo hält europäische Kritik an der Fußball-WM in Katar für scheinheilig. Es sei zwar extrem wichtig, dass die Missstände in Katar angesprochen würden, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Aber vor der Küste der EU stürben jeden Tag Menschen, weil sie nicht aufgenommen würden. Sie flüchteten aus wirtschaftlichen Gründen, die Europäer mitverursacht hätten.
    Ein Mann schaut von der Seitenlinie auf das Spielfeld.
    Ghanas Nationaltrainer Otto Addo an der Seitenlinie. (AFP / DAMIEN MEYER)
    Der Ex-Werder Bremen Trainer Wolfgang Sidka, der auch in Katar und anderen Staaten der Region gearbeitet hat, hebt ebenfalls die vielen Geschäfte vor, die Deutsche in Katar machten. Es sei klar, dass die Arbeiter dort ausgebeutet würden. Der Umgang mit ihnen sei nicht richtig. Die WM sei aber gerade deshalb auch eine Gelegenheit, Einfluss zu nehmen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Ähnlich hatte sich auch der frühere FC-Bayern-Chef Uli Hoeneß geäußert.

    Was die Arbeitsmarktexperten sagen

    Arbeitsmarktexperten für Katar bestätigten dies zuletzt. Die Bedingungen auf den Baustellen in Katar haben sich nach Einschätzung des Gewerkschafters Dietmar Schäfers deutlich verbessert. Dank der Maßnahmen der vergangenen Jahre entsprachen sie zuletzt den deutschen oder amerikanischen Standards, sagte der Vizepräsident der internationalen Gewerkschaftsförderation BHI der "Frankfurter Allgemeinen". Die Verbesserungen gälten allerdings nicht für die Masse der über zwei Millionen Wanderarbeiter in Katar, sondern nur für die in der Spitze rund 40.000 Arbeiter auf den WM-Baustellen. Schäfers, der in der Vergangenheit nach eigenen Angaben mit hunderten Wanderarbeitern persönlich gesprochen hat, fügte hinzu, autokratische Staaten könnten die Situation nicht von jetzt auf gleich verändern. Man müsse den Katarern Zeit lassen. Es bringe wenig, jeden Tag auf sie "draufzuhauen". Die "teilweise etwas undifferenzierte Kritik" könne dazu führen, dass konservative Kräfte Oberwasser bekämen. Im "Manager Magazin" führte Schäfers aus, man habe in den vergangenen Jahren gelernt, dass man mit Diplomatie in Katar mehr erreichen könne.
    Der Chef des Büros der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in Katar, Max Tuñón, sieht seit 2018 ebenfalls „einen gewaltigen Fortschritt“. Neue Gesetze seien verabschiedet worden, sagte er in einem Beitrag des DLF. Mit Hilfe neuer Systeme seien die Stimmen der Arbeiter gestärkt worden und ihre Vertretung. Das sei eine ganz andere Dynamik als das, was hier noch vor ein paar Jahren stattgefunden habe.

    Menschenrechtler fordern Klarheit über Opferzahlen

    Klar ist unterdessen, dass bei den Arbeiten für die WM Menschen ums Leben gekommen sind. Aber auch noch kurz vor der WM kritisierte "Amnesty international" erneut das Fehlen verlässlicher Zahlen. Seit einem Bericht der britischen Zeitung "Guardian" im vergangenen Jahr sei zumeist von 6.500 gestorbenen Arbeitsmigranten die Rede, sagte Amnesty-Sprecherin Wesemüller dem Sender MDR. Die Zahl besage aber nicht, dass diese Menschen bei oder wegen der WM gestorben seien. Die Zahl sei weder nach Berufen noch nach Todesursachen aufgeschlüsselt. Auch die offizielle Angabe von nur drei Toten während des Stadionbaus sei nicht verlässlich, da nicht alle Arbeitsunfälle als solche gewertet würden. Katar habe es versäumt, die Toten zu obduzieren, führte die Amnesty-Sprecherin aus.
    Auch Tuñón forderte im "Spiegel", Daten nach Verletzungsursache, Arbeitsbereich, Alter und Geschlecht aufzuschlüsseln. Das sei auch entscheidend, um Entschädigungszahlungen sicherzustellen. DLF-Sportredakteur Maximilian Rieger ist der Frage: "Wie viele Gastarbeiter starben in Katar?" genauer nachgegangen.
    Die Menschenrechtsanwältin Sylvia Schenk mahnte eine "differenzierte Diskussion" an. Die existierende sei inzwischen "völlig verkorkst" und helfe niemandem, sagte die frühere Sportfunktionärin der Deutschen Presse-Agentur. Man müsse die Fakten und die eigene Position mit dem Ziel benennen, etwas zum Besseren zu bewegen. Dies gelte auch für den Deutschen Fußball-Bund und andere deutsche Sportverbände. "Wenn wir nur draufhauen, vermindert sich auch die Möglichkeit der Einflussnahme." Schenk kritisierte aber auch das "Losbollern" von Kritikern der Katar-Kritiker wie Hoeneß, FIFA-Präsident Infantino oder Ex-Bundesaußenminister Gabriel. Das gehe ihr "gehörig auf die Nerven, weil es völlig kontraproduktiv ist."

    Mahnungen von früheren Ministern Gabriel und Fischer

    Gabriel hatte betont, dass er sich schon seit geraumer Zeit über die Überheblichkeit gegenüber Katar ärgere. Dem "Stern" sagte der SPD-Politiker, die Verbesserungen in Katar würden speziell in Deutschland komplett ausgeblendet. Stattdessen überziehe man das Land mit maßloser Kritik. Das helfe ungewollt denen, die in Katar Gegner von Reformen seien. Zuvor hatte er via Twitter eine "deutsche Arroganz" kritisiert.

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    Schon vor sieben Jahren hatte er als Bundeswirtschaftsminister bei einem Besuch in Katar für einen "fairen" Umgang mit dem Land geworben.
    Der frühere Bundesaußenminister Fischer beklagt in der Debatte um WM-Gastgeber Katar in Deutschland  "eine gewisse Von-oben-herab-Kritik". Durchsetzung von Menschenrechten erfordere "Ausdauer", so der 74-Jährige frühere Grünen-Politiker im "Stern". Es sei jede Mühe wert, dafür zu sorgen, dass Katar auf dem Weg, den es gehe, vorankomme.