Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Hildegard von Bingen trifft neue Musik
ISPARIZ - eine Vision

Als Gestalt des 12. Jahrhunderts prägt Hildegard von Bingen auch die Musikgeschichte. Ihre Gesänge haben die Weimarer Cellistin Christina Meißner zu einem Projekt inspiriert, das an die Zeitlosigkeit der Mystikerin gemahnt und gleichzeitig Komponistinnen und Komponisten der Gegenwart zu Stellungnahmen auffordert.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre | 19.07.2020
    Eine grauhaarige Frau schaut hinter einem an ihren Körper angelehnten Cello seitlich nach vorne
    Christina Meißner am Instrument (Constanze Wild und Guido Werner)
    Musik 1: Hildegard von Bingen - "O frondens virga"
    Hildegard von Bingen, 1098 geboren, gilt bis heute als eine von Mythen umrankte Erscheinung in der deutschen Geschichte. Ihr visionäres Charisma und ihre aktive Teilnahme am öffentlichen, politischen und kirchlichen Leben scheint beispielhaft für die Emanzipation der Frau. Als Universalgelehrte überschreitet sie Grenzen, die ihr als Frau von der patriachalen Kultur des christlichen Mittelalters gesetzt wurden. Mensch, Umwelt, Leib und Seele, alles steht laut Hildegard in stetiger Verbindung zueinander und darin wurzelt ihre immerwährende Aktualität. In ihrer spirituellen Gedankenwelt spielt auch die Musik eine maßgebliche Rolle, der sie sich als Autodidaktin zeitlebens intensiv gewidmet hat. Musik begreift sie als Suche des Menschen nach der Stimme des heiligen Geistes.
    Jenseits von Zeitgrenzen
    "Ich verfasste und sang Lieder und Melodien zum Lobe Gottes und der Heiligen ohne die Belehrung eines Menschen, obwohl ich niemals Neumen und Gesang erlernt hatte" - so das Selbstzeugnis der einstigen Äbtissin des von ihr gegründeten Benediktinerinnen-Klosters Rupertsberg. Als vielseitige und weitsichtige Geistliche appellierte sie stets an die Selbstverantwortlichkeit des Menschen.
    Gesang steht für sie in unmittelbarem Kontext der Gottesverehrung und ist immer auch Teil göttlicher Eingebung. Die Cellistin Christina Meißner fühlte sich inspiriert, diesen Geist, also ISPARIZ zu bewahren und auf die aktuelle Zeit zu übertragen. Vor diesem Hintergrund hat sie unter dem gleichnamigen Titel "ISPARIZ - eine Vision" ein Projekt konzipiert, in dem sie Gesänge der Hildegard von Bingen für Violoncello arrangiert und mit Musik gegenwärtiger Komponisten konfrontiert hat. Mit ihrem Rückgriff auf die mittelalterlichen Gesänge möchte Christina Meißner einen Gegenpol zur oft hochkomplexen zeitgenössischen Musik bilden.
    Die Nähe des Cellos zur menschlichen Stimme haben ihr die Arrangements nahegelegt, für deren Konfrontation sie diverse Kompositionen in Auftrag gegeben hat. Alle Werke werden hier als Weltersteinspielung in klangsinnlicher Interpretation und exzellenter Aufnahmequalität vorgestellt. Die CD eröffnet mit dem Gesang "O frondens virga", dessen Text die Ehrfurcht des Menschen vor den Wundern der Schöpfung und Natur thematisiert. Musikalisch dominiert eine schlichte Melodie, die im Arrangement durch Christina Meißner noch intensiviert wird.
    Musik 2: Hildegard von Bingen - "O frondens virga"
    Ein erster Gegenpol zu diesen Raum greifenden Klängen kommt von Sofia Gubaidulina. 1994 und 2019 hat sie aus einer gefühlten Seelenverwandtschaft das Stück "Aus den Visionen der Hildegard von Bingen" für Alt solo komponiert und als einziges Werk dieser CD handelt es sich hier um keine Auftragskomposition. Die mental empfundene Nähe zur Universalgelehrten markiert nach eigenen Aussagen eine grundsätzlich zentrale Antriebsfeder für Gubaidulina’s künstlerisches Schaffen, denn Komponieren ist für sie eine Art Gottesdienst: "Komponieren heißt beten".
    In ihrem Schaffen richtet sich der Blick häufig auf existentielle Fragen, wenn sie ein "Spannungsfeld aus expressiver Kraft und vertonter Stille eröffnet", so Egbert Hiller im umfangreich informierenden Booklet zur Doppel-CD. Hildegard von Bingens kompositorischer Gestus diente Gubaidulina dabei als Ansatzpunkt. Die Vision als zentrales Moment spiritueller Erfahrung gestaltet sie in visionär konzipierten Klängen, die sie ihrem Komponistenkollegen Alfred Schnittke zu dessen 60. Geburtstag widmet.
    Musik 3: Sofia Gubaidulina - "Aus den Visionen der Hildegard von Bingen"
    Klang als Form von Existenz
    Die in Weimar lebende Cellistin Christina Meißner sucht für ihre Programme vorzugsweise nach grenzüberschreitenden Verbindungen zwischen alter und neuer Musik. Mit Ausnahme des sich explizit auf Hildegard von Bingen beziehenden Werks von Sofia Gubaidulina sind alle anderen Kompositionen innerhalb der letzten drei Jahre im Auftrag der Solistin entstanden.
    Ein Spiel mit unterschiedlichen Gegensätzen reflektiert der schwedische Komponist Esaias Järnegard, Jahrgang 1983 in seinem Cellostück "à Sybil - Mōnë". Im Zentrum stehen Konfrontationen von existierenden Zuständen, die er zu verbinden sucht. Hoffnung und Trostlosigkeit oder Resignation und schreiendes Aufbegehren begegnen hier dynamisch variantenreich. Acht kurze Sätze fügen sich zu einem Ganzen. Klänge, die Järnegard als Zustand des Seins begreift, erkundet er hier in geheimnisvollen Räumen, in denen "Vergangenheit und Gegenwart durch die Hände und den Cellokörper der Interpretin ins Schwingen geraten sollen". Der Komponist will so eine mystischere und ursprünglichere Sphäre betreten. Neben dem Cello kommt hier auch Christina Meißners eigene Stimme zum Einsatz.
    Musik 4: Esaias Järnegard - "á Sybil - Mōnë"
    Die Dramaturgie der klangintensiven Einspielung, die trotz hochkontemplativer Momente auch mit dynamisch exzessiven Ausbrüchen konfrontiert, integriert erneut ein Lied der Hildegard von Bingen, das sich dem Lob Gottes verschreibt. "Aer enim volat" überträgt Christina Meißner mit großer auratischer und klanglich dichter Intensität auf das Cello, um den Atem als Lebensspender hörbar zu machen.
    Musik 5: Hildegard von Bingen - "Aer enim volat"
    Nach diesem atmosphärischen Moment greift die Cellistin auf eine Komposition des Norwegers Martin Rane Bauck, Jahrgang 1988 zurück. Sein Interesse gilt neben Texten von Franz Kafka der elektronischen Klangerzeugung, die er auf akustische Instrumente überträgt. The air from afar, so der Titel, arbeitet mit fixen Tonhöhen sowie Geräuschen, wobei das Cello husten, atmen und singen soll. Hildegard von Bingens Überlegungen zum Wesen der Musik lieferten ihm für das Stück einen wichtigen Impuls. Im Geräusch der Klänge möchte er für sich die Möglichkeit entdecken, mit fernen Liedern, fernen Stimmen, ferner Luft und einem mythischen Ursprung in Kontakt zu treten.
    Musik 6: Martin Rane Bauck - "The air from afar"
    Zwischen Kreuzigung und Erlösung
    Die schwedische Komponistin Lisa Streich, 1985 geboren, versucht ihrer tief empfundenen Spiritualität auf klanglicher Ebene Gestalt zu geben. Für das Projekt "ISPARIZ - eine Vision", an dem sie auch hinsichtlich der beteiligten Komponisten beratend mitgewirkt hat, präsentiert sie zwei Kompositionen, die Stellung beziehen. Unter dem Titel "Fleisch" fasst sie Aspekte der Kreuzigung mit äußerst eindringlich pochender Intensität und lässt den Schmerz geradezu physisch erlebbar werden. Nach eigenen Aussagen versucht Streich "sich auf die Schnittstelle zwischen menschgewordenem Fleisch und metallenem Nagel zu konzentrieren". Gegen Ende lässt ihre zunehmend zarter werdende Musik aber auch Kontemplation und Raum für eine Art Trost erkennen.
    Musik 7: Lisa Streich - "Fleisch"
    Im Mittelpunkt der zweiten CD dieses Doppelalbums steht das knapp 30 minütige Werk "I am a clock" des 1979 in Amerika geborenen Joseph Andrew Lake. Seine Kompositonssprache fokussiert vor allem den innermusikalischen Prozess einzelner Klänge zwischen Er- und Verklingen. Bookletautor Egbert Hiller verweist auf Lake’s unbeirrbare Geduld, mit der er "in Gefilde beständigen Suchens eintrete, um an jedem Punkt der Entstehung eines Stückes durch genaue Kontrolle und geistige Reflexion aus der Vielfalt der Möglichkeiten die einzig richtige herauszufiltern". Seine Komposition beschreibt Christina Meißner als Zeitlupenakrobatik. Alles wirkt beinahe statisch und entwickelt in metrischen Rastern einen meditativen, fast sogartigen Gestus.
    Musik 8: Joseph Andrew Lake - "I am a clock"
    Vorgestellt wurde Ihnen heute das Projekt "ISPARIZ - eine Vision" von und mit der Cellistin Christina Meißner. Liturgische Gesänge und Melodien zum Lobe Gottes aus der Feder von Hildegard von Bingen werden auf dieser Doppel-CD mit zeitgenössischen Auftragswerken kombiniert. Alle Werke sind als Weltersteinspielung beim Label Querstand (Verlagsgruppe Kamprad) erschienen.
    ISPARIZ – eine Vision
    Christina Meißner, Violoncello und Arrangements
    2 CD Edition Querstand, VKIK 1909, LC 03722
    EAN: 4025796019094