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Hilfsorganisationen bereiten sich auf möglichen Irakkrieg vor

Heuer: Nicht nur das Weihnachtsfest 2002 war überschattet von der Furcht vor einem neuen Irak-Krieg. Seit Monaten debattiert die Welt über Sinn und Unsinn, über den Zeitpunkt und die Gründe für einen möglichen militärischen Angriff der USA auf den Staat Saddam Husseins. In den vergangenen Wochen haben sich die Zeichen deutlich verstärkt, dass dieser Angriff kommen wird. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen zum Beispiel reagiert darauf, indem es schon einmal Zelte, Decken und anderes Material für die erwarteten Flüchtlingsströme in die Region bringt. Auch die humanitären Hilfsorganisationen sind in großer Sorge um die Zukunft der irakischen Zivilbevölkerung. Was würde ein neuer Irak-Krieg für die gut 20 Millionen Iraker bedeuten, die nicht Saddam Hussein oder Vertraute von ihm sind? Darüber habe ich vor der Sendung mit Elias Bierdel gesprochen, dem Vorsitzenden der Hilfsorganisation Cap Anamur, und zuerst habe ich ihn gefragt, ob Cap Anamur derzeit im Irak aktiv ist.

    Bierdel: Wir bereiten jetzt gerade im Moment einen Einsatz vor. Wir waren dort schon in den 90er Jahren, sind dann 1995 zurückgegangen, als es Rivalitäten zwischen den verschiedenen Kurdengruppen im Nachgang des ersten Golfkrieges dort gab. Wir wollen dort jetzt unsere Aktivitäten wiederaufnehmen, auch Logistiker bringen, die dann auch mögliche weitere Einsätze von dort aus vorbereiten können.

    Heuer: Sie sagen, Sie waren bis 1995 dort. Ich nehme an, dann gab es zu starke Behinderungen. Wie ist denn die Aussicht darauf, jetzt im Irak ungestört arbeiten zu können?

    Bierdel: Also im Nordirak ist die Aussicht sehr gut. Wir haben natürlich Kontakt zu den entsprechenden kurdischen Vertretern, die beiden großen rivalisierenden Parteien, die Demokratische Partei Kurdistans und die Patriotische Union, haben sich weitgehend darüber geeinigt, wie sie dort diese autonome Region, die sie wie einen Staat Kurdistan behandeln, eben verwalten wollen. Sie tun das erfolgreich zusammen. Den Kurden geht es relativ gut, muss man sagen, besser vielleicht als viele Jahre zuvor, relativ gut, wenn man sich den ganzen Irak anschaut. Im Süden des Landes sieht es wahrhaftig anders aus. Dort leben Zehntausende Menschen unter sehr unwürdigen Bedingungen, die das Regime ihnen sozusagen immer mit dem zynischen Hinweis auf die Sanktionsfolgen zumutet. In Wahrheit aber werden sie bestraft für den Aufstand gegen das Regime sozusagen unter amerikanischer Anleitung von 1995, der ja dann schiefgelaufen ist.

    Heuer: Können Sie nochmals genauer beschreiben, wie die Situation der irakischen Bürger heute ist, nach den Sanktionen, nach dem ersten Irak-Krieg?

    Bierdel: Also in Kurdistan, wie gesagt, geht es den Menschen relativ gut. Das liegt unter anderem daran, dass dieses berühmte UN-Programm Food for Oil dort relativ gut wirkt. Sie bekommen den Anteil, der ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht, etwa 13 bis 15 Prozent, zugeteilt und können damit ganz gut leben. Dort finden Sie alles in den Geschäften. Sie finden Medizin. Sie finden alle Artikel, die man zum täglichen Leben braucht, und die Menschen können es sich dort überwiegend leisten, diese Artikel auch zu erwerben. Ganz anders im Süden des Landes, im Schiitengebiet um Basra herum zum Beispiel; dort haben wir Kontakt zu Ärzten, die uns von einer wirklich dramatischen Lage der normalen Zivilbevölkerung dort berichten. Die Menschen sind ganz schlechter gesundheitlicher Verfassung, oft unterernährt mit den daraus folgenden Mangelerkrankungen, und dazu kommen noch wohl als Folge des letzen Golfkrieges sehr schwerwiegende Erkrankungen speziell bei Kindern, die offensichtlich auf Chemikaliencocktails aus den dort verwendeten Waffen zurückzuführen sind, möglicherweise auch Strahlenschäden sind. Wir wissen das nicht genau, aber Onkologen, also Krebsspezialisten sagen uns, dass sie dort Krankheitsbilder beobachten, die sie aus der Literatur gar nicht kennen, zum Beispiel auch bei kleinen Kindern, bei kleinen Mädchen, nicht einmal zwei Jahre alt, Gebärmutterkrebs. Das sind sehr dramatische gesundheitliche Folgen.

    Heuer: Inwieweit kann man denn diese schlimme Situation auf die Spätfolgen des ersten Irak-Krieges noch zurückführen? Hat es zum Beispiel etwas zu tun mit der zerstörten Infrastruktur im Irak?

    Bierdel: Ja, ganz bestimmt. Ein ganz wichtiger Punkt der Infrastruktur ist das Wasser. Die Wasserversorgung, die Abwassersituation ist katastrophal. Wenn Sie sich eine Millionenstadt wie Basra ansehen, sie ist quasi ohne Frischwasserversorgung und ohne geordnete Abwassersysteme. Es gibt dort kleine Organisation, die versuchen, etwas daran zu ändern, aber das ist weitgehend vergebens, und das Zentralregime - so muss man schon sagen - lässt eben die Schiiten dort im Süden einfach hängen und überlässt sie ihrem Schicksal, und das ist im Moment ein sehr trauriges Schicksal.

    Heuer: Die Regierung tut nicht genug für die Bevölkerung. Nun droht aber auch schon wieder ein neuer Irak-Krieg. Würde ein solcher neuer Krieg eine humanitäre Katastrophe auf jeden Fall bedeuten?

    Bierdel: Wir alle hoffen natürlich noch, dass es möglicherweise ohne diesen angesagten Krieg abgehen könnte. Man muss sehen, die Zeichen sprechen dafür, aber vielleicht gibt es noch eine Hoffnung, dass diesmal doch die Vernunft in der einen oder anderen Weise siegen könnte, denn es geht ja nicht nur darum, abzuwägen, was sich unmittelbar im Irak mit den Menschen dort abspielen wird - das ist schlimm genug -, sondern es geht auch darum, abzuwägen, was sich anschließend in der ganzen Region dort tun würde, und das ist nun nach allem, was wir sehen können, vollkommen unabsehbar, und deshalb kann man vielleicht hoffen, dass es nicht zu diesem Krieg kommt. Die Menschen jedenfalls sind dort, vor allen Dingen im Zentralirak und im Süden des Irak, jetzt schon am Ende ihrer Kräfte. Wenn sie betroffen wären von hunderttausendfacher Vertreibung - es leben ja gerade jetzt im Moment noch etwa 700.000 Binnenflüchtlinge aus den Folgen des letzten Krieges -, dann muss man das Schlimmste für diese Menschen befürchten, vor allen Dingen weil es sehr schwierig wird, ihnen dann schnell und effektiv beizustehen.

    Heuer: Sie sagen, die mittelbaren Folgen eines neuen Irak-Krieges seien unabsehbar. Was droht den Menschen denn im Irak konkret absehbar, wenn der Krieg tatsächlich geführt werden sollte?

    Bierdel: Das wissen wir deshalb nicht, weil wir ja das Szenario eines solchen möglichen Krieges nicht genau kennen. Wahrscheinlich werden es zunächst wieder großflächige Luftangriffe. Die Bevölkerung wird dann möglicherweise versuchen, aus den Städten, aus den Zentren herauszugehen, wohin, das ist schon die Frage, die Nachbarstaaten würden überwiegend ihre Grenzen schließen. Es gibt aber im Irak im Moment keinerlei Möglichkeit, vielleicht Zehn- oder Hunderttausende Flüchtlinge angemessen zu versorgen. Das ist ein großes Problem. Und wenn es dann noch eine große Landoffensive geben würde - und die würde wahrscheinlich vom Süden aus kommen, also von Kuwait aus -, dann ist völlig unklar, in welche Richtung sich die Menschen bewegen würden. Manche nehmen an, es würde ein schnelles Zusammenbrechen der Front geben, und viele Zehntausende irakische Soldaten würden ganz schnell überlaufen. Wenn das aber nicht der Fall ist und sich dieser Krieg länger hinzieht, dann ist vollkommen offen, was mit den Menschen wird.

    Heuer: Sie sprechen von Zehn- bis Hunderttausende von Flüchtlingen, das heißt eine Zahl der möglicherweise betroffenen Menschen ist zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar, abschätzbar?

    Bierdel: Nein, natürlich nicht. Der Irak hat etwa 23 Millionen Einwohner. Von denen sind 4,5 Millionen ungefähr in der Hauptstadt und in der unmittelbaren Umgebung, dann noch einmal ein paar Millionen in den größeren Städten, und der Rest ist Landbevölkerung, die vollkommen jeder Kriegsbewegung schutzlos ausgeliefert ist, und von der man nicht weiß, was aus ihr werden soll, und auch nicht weiß, ob das Regime vielleicht auf die Idee kommen könnte, diese Bevölkerung in einem möglichen Konflikt zu instrumentalisieren.

    Heuer: Der UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, bereitet sich ja auf einen Irak-Krieg mit vielen Flüchtlingen bereits vor. Wenn wir mal zurückgucken auf das Beispiel Afghanistan, damals hat Cap Anamur auch dem UNHCR einen Vorwurf gemacht, nämlich den, Lager zu bauen statt in erster Linie dafür zu sorgen, dass diese Flüchtlinge zurückkehren können. Befürchten Sie eine solche Folge, einen solchen Automatismus auch im Irak?

    Bierdel: Also diese Kritik betraf die Post-war-Situation, also den Augenblick, wo eigentlich der Krieg vorbei ist, die Kampfhandlungen in einer bestimmten Region nicht mehr sind, und dann beobachten wir immer wieder - das war im Kosovo, im Afghanistan so, eigentlich überall auf der Welt -, die Menschen wollen ganz schnell nach Hause zurück, sie wollen schauen, was ist daraus geworden, aus meinen Verwandten, aus meinem Dorf, aus meinem Haus. Sie wollen zurück, und dann geht es ganz oft so, dass das UNHCR sie zunächst einmal zurückhält und sagt, nein, bleibt jetzt hier, weil die Sicherheitslage noch nicht klar ist usw., und da ist der Appell von Cap Anamur immer wieder gewesen - und das wird er auch weiterhin sein -, statt die Leute aufzuhalten, begleitet sie lieber und helft ihnen, denn dass sie zurückwollen, ist ein ganz normales menschliches Bedürfnis, dem sollte sich niemand entgegenstellen.

    Heuer: Cap Anamur ist gegen einen Angriff auf den Irak. Gibt es denn Alternativen, um die Gefahr durch Saddam bangen?

    Bierdel: Das ist ein furchtbar schwieriges, vermintes Gelände, in das Sie mich jetzt hier hineinlocken wollen, und ich kann nur sagen, natürlich sind wir gegen den Krieg, und ich kenne auch niemanden, der für diesen Krieg wäre. Andrerseits muss man schon auch sehen, was haben die Sanktionen, die wir ja nach dem letzten Golfkrieg als quasi zivile Alternative zum Krieg gesehen haben, letztlich bewirkt. Und da muss man schon festhalten, sie sind insofern gescheitert als dass die Leidtragenden ganz überwiegend eben jene arme Zivilbevölkerung sind, von der wir ja hier die ganze Zeit sprechen, wohingegen sich eine kleine, reiche Oberschicht wunderbar gehalten hat und dieses Regime, ob einem das nun gefällt oder nicht, gestärkt hervorgeht aus dieser Zeit der extremen Sanktionen. Schärfere Sanktionen kann man nicht mehr verhängen, also muss man schon sehen, möglicherweise sind sie gescheitert, und was ist dann die Alternative? Die vermögen wir uns nicht vorzustellen. Wir hoffen, vielleicht gerade in diesen Weihnachtstagen, auf ein kleines Wunder.

    Heuer: Aber wäre es nicht gerade nach dem, was Sie sagen, notwendig, dieses Regime Saddam Husseins zu ersetzen, oder jedenfalls dafür zu sorgen, dass Saddam Hussein dieses Regime nicht weiterführen kann?

    Bierdel: Das ist ein furchtbarer Menschenschlächter und ein Schinder. Insofern sollte er weg, und wie er verschwinden kann, das ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu urteilen. Natürlich machen wir uns unsere Gedanken - ich mache mir die auch -, aber wem hilft es. Wir versuchen, uns an die Seite der Menschen zu stellen, die von diesem schrecklichen, menschenverachtenden Regime betroffen sind, die dem schutzlos ausgeliefert sind, und versuchen, ihnen so schnell wie möglich zu Hilfe zu kommen, und das werden wir im Januar auch in Angriff nehmen, und hoffentlich sind wir dabei erfolgreich.

    Heuer: Wissen Sie etwas über die Stimmung in der irakischen Bevölkerung? Ich möchte in dem Zusammenhang nochmals kurz auf Afghanistan zu sprechen kommen. Dort hat ein UN-Mitarbeiter mit Menschen gesprochen, die gesagt haben, nichts war schlimmer als die Taliban, auch die Bombenangriffen nicht. Ist für die Iraker vielleicht nichts schlimmer als Saddam?

    Bierdel: Das mag für einen Teil der Bevölkerung zutreffen, wobei man hier natürlich immer sehen muss, wer hat eigentlich Zugang zu Informationen, oder wer ist vollkommen, ausschließlich der staatlichen Propaganda ausgesetzt. Diese Menschen haben nicht den leisesten Schimmer, was sich wirklich draußen in der Welt vollzieht, welche Gründe bestehen zum Beispiel für diese Sanktionen, oder welche Gründe für einen Angriff bestehen würden. Und wenn sie die Folgen mit zu spüren bekommen, dann werden sie alles andere als begeistert sein. Man darf sich nicht erwarten, dass dann in der Breite der Bevölkerung ganz schnell ein riesiger Aufstand gegen das Regime erfolgt. Es könnte auch genauso gut, zumindest in vielen Regionen, das Gegenteil der Fall sein. Man scharrt sich dann tatsächlich auch noch hinter dem Diktator, unter dem man selbst zu leiden hat, weil die Gefahr von außen die größere zu sein scheint.

    Heuer: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio