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Hilmar Klute: "Was dann nachher so schön fliegt"
Proust-Momente im Altenheim

Volker Winterberg, Zivildienstleistender in einem Altenheim und 20-jähriger Held aus Hilmar Klutes erstem Roman, träumt von einer Dichterkarriere. Geschickt verwebt Klute seine Coming-of-Age-Geschichte mit einem Rückblick auf die 80er Jahre und Anekdoten über die Gruppe 47.

Von Julia Schröder | 08.10.2018
    Buchcover: Hilmar Klute: „Was dann nachher so schön fliegt“; Foto: Der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Walter Jens (r) und der Leiter der Gruppe 47, Hans-Werner Richter (l)
    Hilmar Klutes Held träumt sich zurück in die glorreichen Zeiten der Gruppe 47 mit Hans Werner Richter (links) und Walter Jens (Buchcover: Galiani Verlag, Foto: picture-alliance / dpa / DB Pressens Bild)
    Wie man anfängt, das weiß Hilmar Klute. Die ersten Sätze seines Buchs lassen die Leser mit der unwiderstehlichen Sanftheit eines langsam anfahrenden D-Zugs in die Geschichte gleiten, in einen Tagesanbruch im Ruhrgebiet und in die Morgendämmerung eines jungen Dichterlebens. Das späte Romandebüt des 51-jährigen Journalisten, Titel: "Was dann nachher so schön fliegt", ist denn auch eine Geschichte vom Anfang und vom Anfangen.

    "Dieser stille raue Zauber, der auf der herbstlichen Frühe lag. Es gab noch keine Andeutung des Morgens, die Nacht war einfach hinter dem Abteilfenster hängen geblieben wie schwarzes Seidenpapier, und ich hätte jetzt gern ein Gedicht über meine sternklare Wachheit geschrieben. Die Pendler waren bereits in die summenden Nahverkehrszüge gestiegen, morgendliche Unlust in den Gesichtern, nach einer kurzen Fahrt in Mülheim oder Essen würden sie in ihre Lochkartensysteme entlassen werden, die paar Lehrlinge unter ihnen waren in ihren speckigen Anoraks vor Müdigkeit erstarrt."
    Ein Verse schreibender Zivi aus Bochum
    Es ist der Herbst 1986, und Volker Winterberg, so der Name des jungen Mannes, bricht auf. Er wird nicht im Ruhrgebiet aussteigen, seinem Revier, wo er geboren und aufgewachsen ist und noch ein paar Monate Zivildienst im Altenheim leisten muss. Volker Winterberg fährt nach Berlin, zu einem "Wettbewerb für Jungautoren", ausgelobt immerhin von den Berliner Festspielen.

    So beginnen Volkers Abenteuer in Berlin: Die Workshops voller ambitionierter Nachwuchsliteraten und unter der Fuchtel nicht immer ganz hasenreiner Mentoren, die Begegnung mit der attraktiven Studentin Katja und dem wenig älteren Thomas, der schon einen Lyrikband veröffentlicht hat - und der Volker erst zu Kleists Grab an den Wannsee und dann zu einem Abend mit Heiner Müller in der Akademie der Künste lockt. udn natürlich auch das Erlebnis der geteilten, gemütlich verlotterten Stadt. Angedockt sind Szenen aus Volkers bis dato normalem Alltag: Die frustrierende Arbeit auf der Pflegestation in Bochum, wo die abgebrühten Fachkräfte den dichtenden Zivi misstrauisch beäugen, die Nächte in der Kneipe gegenüber vom Schauspielhaus, wo er mit seinen alten Kumpels rauchend und (Gottfried Benn lässt grüßen) Bier trinkend am Tresen hängt, und an die Abende, die immer wieder mit seiner Kollegin im Bett enden:

    "Abends saß ich in meinem Zimmer und sah mir meine Gedichte an. Ich fand eigentlich alles gut, und genau das machte mir Sorgen. (…) Manchmal glaubte ich, dass ich die Arbeit des Altenpflegers besser versah als die des Dichters.
    'Du weißt, was für einer Generation wir hier den Hintern abwischen?' fragte Erika und sah mich mit ihrem Examensblick über den Rand des Weißweinglases an, an dem sie nippte.
    'Nee, was denn für ‘ne Generation?'
    Erika lächelte diese billige Lächelmischung aus Mitleid und Nachsichtigkeit.
    'Die Generation, die Auschwitz möglich gemacht hat.'"
    Rückblick auf die 80er-Jahre-BRD
    Unschwer lässt sich schon auf den ersten Seiten des Romans dessen Gattung ausmachen, eine Coming-of-Age-Story vor dem Hintergrund des Jahrzehnts, in dem die Geschichte, wie man damals glaubte, an ihr Ende gekommen schien. Das war bekanntlich nicht so; drei Jahre nach Volker Winterbergs West-Berliner Abenteuer fiel die Mauer. Und auch dieser Roman ist nicht ganz das, was er auf den ersten Blick zu sein scheint.
    Zwar enthält er alles, was eine Geschichte vom Erwachsenwerden in den letzten Jahren der alten Bundesrepublik erfordert, jener grauen Vorzeit ohne Globalisierung, Internet und Rauchverbot, die nun auch schon eine Generation zurückliegt. Aber er enthält eben auch sehr viel Literaturgeschichte. Volker berichtet von der Suche nach Ernst Meisters Haus im hässlichen Hagen und nach den Gräbern von Paul Eluard und Guillaume Apollinaire auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. Und immer wieder träumt er sich zurück in die Zeiten der Gruppe 47, imaginiert seine Freundinnen Katja und Erika als Bachmann-gleiche Shooting Stars mitten unter die älteren Mandarine Walter Jens, Günter Grass, Marcel Reich-Ranicki, Joachim Kaiser, Reinhard Lettau, Walter Höllerer e tutti quanti, die unterm menschlich moralischen Gesichtspunkt nicht immer gut wegkommen. Was man zu den am wenigsten originellen, aber immerhin lustig ausgeführten Einfällen dieses Buchs zählen muss.
    Tagträume von der Gruppe 47
    Zuweilen gewinnt die Leserin den Eindruck, dieser Teil der neueren deutschen Literaturgeschichte sei das eigentliche Sujet des Romans - dies und die Frage, wie einer sich selbst im Angesicht der Literaturgeschichte verortet. Stellt sie sich diese Frage im Hinblick auf den Helden und sein Erzählen und schließlich auch auf den Verfasser von "Was dann nachher so schön fliegt", fällt die Antwort gemischt aus. So rauscht Hilmar Klute, just wenn es um Volkers eigene Lyrik und um dessen großes Vorbild, den Lyriker Nicolas Born geht, nur zu gern ungebremst ins Sentiment. Auf seinem Paris-Trip hat Volker, der ebenso ahnungs- wie mittellose Poet, im Überschwang ein kurzes Gedicht geschrieben, betitelt "Langstieliges Nachtleben", über das es heißt:

    "Ganz zittrig war es noch und so fragil wie ein frisch geschlüpftes Nachtigallenkind."

    Und über Nicolas Born:

    "Wie eine gefangene Nachtigall musste er sich vorgekommen sein, Anfang der sechziger Jahre in seinem Malocherhaus in Essen-Holthausen."

    Andererseits ist Volker Winterberg ja tatsächlich noch sehr jung. Da drückt man sich vielleicht so aus, zumal wenn man sich für einen Dichter hält. Die stärksten Passagen des Buchs sind ohnedies nicht die übers Schreiben, sondern die über das Altenheim und seine dementen, verlorenen, sprachlosen, sich mühsam aufrecht haltenden, ihrer Würde beraubten Bewohner. Hier ist der Erzähler so mitmenschlich, achtsam und berührbar, wie er es gegenüber vielen anderen nicht ist. Hier genügt das Buch dem Born’schen Maßstab, den es sich selbst gesetzt hat:
    Erinnerung an Nicolas Born
    "Born, dessen Gedichte (…) so waren, wie ich mir Gedichte immer gewünscht habe. Einer geht durch die Wirklichkeit und erkennt die Wirklichkeit als Wirklichkeit. Aber er erkennt sie nicht an. (…) Seine Sprache war im ersten Moment fast sachlich und auslotend und im nächsten Augenblick wie verzaubert."

    Eben dies gelingt Hilmar Klute nicht immer, vielleicht, weil er der Sachlichkeit nicht traut, weil er Zauber mit Metaphernsalat verwechselt, weil er mal fast humoristisch, mal mit klischeehaften Floskeln auf Nummer sicher geht. Es ist eben doch gar nicht so einfach – weder mit dem Gedicht noch mit dem Roman.
    Hilmar Klute: "Was dann nachher so schön fliegt"
    Galiani Verlag, Berlin. 365 Seiten, 22 Euro.