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Hinter dicken Mauern

Hunderte von Pinien sind zu viereckigen Hügeln zusammenkomponiert worden. Die Hügel erheben sich an einer der Seitenwände des Klosters mit ihren großen Steinen. Eine Mauer aus dem 12. Jahrhundert. Zwischen den Pinienhügeln verläuft ein Eisenrost, das mit Rosen bewachsen ist. Mit kleinen Heckenrosen. Die Steinwand zieren Weinreben.

Von Thomas Migge | 15.07.2004
    Die Gartenkunstinstallation einer Gruppe italienischer, französischer und britischer Nachwuchskünstler nimmt den gesamten Klosterpark ein und wird von Lautsprechern beschallt, die in den Zypressen versteckt sind. Vom Klostergarten aus führt ein Kunststofffarbband von Nam June Paik in das Innere der gewaltigen Anlage. Die Certosa di San Lorenzo bei der Stadt Salerno ist eine der größten süditalienischen Klosteranlagen. Das Kloster beherbergt seit einiger Zeit eines der faszinierendsten Museen Europas für zeitgenössische Kunst, meint der Maler Mimmo Paladino:

    Die ganze Angelegenheit war für mich sehr stimulierend. Mein Freund, der bekannte Kunsthistoriker Achille Bonito Oliva, erhielt von der Region Kampanien den Auftrag, zusammen mit Künstlern seiner Wahl die mehrere tausend Quadratmeter große Klosteranlage wieder zu beleben. Für einen Künstler ist das eine wunderbare Idee.

    Bonito Oliva setzte sich mit Paladino und Nam June Paik, mit Paul Morrisey, Franz West, mit Michelangelo Pistoletto, Sandro Chia, mit Betty Bee und anderen zeitgenössischen Künstler zusammen. Nicht nur mit Stars, sondern auch mit jenen Nachwuchskünstlern, deren Werke Bonito Oliva endlich einmal einem größeren Publikum zeigen will. Jedem der Künstler wurde ein Schlüssel ausgehändigt. Schlüssel zu Sälen und Klosterzellen, zu kleinen Innenhöfen und Gewölbehallen. Die Künstler mussten ihre Schlüssel erst dann zurückgeben, wenn sie für die ihnen verantworteten Räumlichkeiten Kunstwerke geschaffen hatten. Kunst unter einem Stichwort, einem Motto. Achille Bonito Oliva entschied sich für "Vanità", zu deutsch: die Eitelkeit, die Selbstgefälligkeit - ein Thema, das vor allem während des Barock ein beliebtes religiöses Sujet war und das somit ausgezeichnet zum Kloster passte.

    Mimmo Paladino schuf für seinen Saal eine Art Gesamtkunstwerk: er bemalte die Wände und den Fußboden, die Decke und die Verzierungen an den Pforten und den Fenstern mit intensiven Farben - rot, blau, grün, weiß und schwarz - und erzeugte auf diese Weise ein Raum-Farb-Werk, das an den russischen Konstruktivismus erinnert:

    Die Idee war ja die: ein Kunstwerk für einen speziellen Ort zu schaffen. Wir konnten alle Materialen benutzen, um uns auszudrücken, um unserer Eitelkeit freien Lauf zu lassen und so versuchte jeder von uns dem Ort seinen Stempel aufzudrücken. Ein tolles Experiment, das wir hier realisieren konnten.

    Alfredo Pirri setzte einen der zahlreichen Klosterinnenhöfe unter Wasser. Nur die uralten Pinien bilden kleine Inseln. Pirri will damit den Besuchern der Certosa einen Spiegel vorhalten: einen Wasserspiegel, der ein Antlitz wiedergibt, das mit einer simplen Bewegung der Wasseroberfläche verschwimmt. Betty Bee malte eine der Kapellen mit knallroter Farbe aus. Sie gab ihrem Werk den Titel "Die Eitelkeit des Schweigens". Fabio Mauro legte in einem Saal über einen Tisch einen schwarzen Priesteranzug und ein dazugehöriges Hemd. Vor dem Tisch sehen zwei nachtschwarze Schuhe. Der Titel seiner Arbeit "Ein unnötiges Experiment" spielt auf die Eitelkeit des geistlichen Standes an, der sich Mauri zufolge anmaßt, Gott zu kennen und sich so der Sünde der Eitelkeit schuldig macht. Das Kunst-Kloster bei Salerno, meint die römische Galeristin Anna Maria Lunardi, bringt auf dialektische Weise alt und neu zusammen:

    Die Idee hierzu ist aus einer Sammelleidenschaft entstanden. Bonito Oliva sammelt zeitgenössische Kunst und in gewisser Weise hat er das riesige Kloster dazu genutzt, seinen Lieblingen die Möglichkeit zur unbeschränkten künstlerischen Entfaltung zu geben. Das Kloster wirkt fast wie die Residenz eines Fürsten, der einer Gruppe von Künstlern freie Hand gelassen hat. Hier hat er seinen Künstlern Raum gegeben.

    Finanziert wird das ungewöhnliche Kunstprojekt von der Region Kampanien. Sie will mit dieser und anderen Kunstinitiativen - wie zum Beispiel der Ausschmückung der U-Bahn von Neapel mit zeitgenössischer Kunst - ihr dank der organisierten Kriminalität nicht gerade gutes Image aufbessern und Touristen anziehen. Die Werke in der Certosa sollten eigentlich nur bis Ende September ausgestellt werden - doch der große Besucherandrang hat den Regionalpräsidenten davon überzeugt, das Kloster in ein Museum für zeitgenössische Kunst zu verwandeln - das erste Süditaliens.