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Hintze gegen EU-Beitritt der Türkei

Dirk Müller: Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben bereits vor mehr als zehn Jahren bei einem Gipfeltreffen in Kopenhagen damals die Bedingungen für den Beitritt neuer Mitgliedsländer zur Gemeinschaft festgeschrieben. Für den Beginn von Beitrittsverhandlungen ist demnach entscheidend, dass ein Kandidat zunächst einmal die politischen Kriterien erfüllt. Dazu gehören eine funktionierende Demokratie, stabile staatliche Einrichtungen, Rechtsstaatlichkeit, die Garantie der Menschenrechte sowie die Achtung und der Schutz von Minderheiten. Bis zu einem Beitritt muss das Land zudem eine funktionierende Marktwirtschaft haben. Und im Falle der Türkei geht es jetzt um die Frage Beitrittsverhandlungen ja oder nein. Heute fällt eine Vorentscheidung.

Moderation: Dirk Müller |
    Am Telefon sind wir nun verbunden mit Peter Hintze, europapolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag. Guten Morgen!

    Peter Hintze: Guten Morgen Herr Müller.

    Müller: Herr Hintze, wird das Morgenland nun zum Abendland?

    Hintze: Tatsache ist, dass mit dem Beitritt eines Staates aus dem Ausland praktisch Innland wird und man sich deswegen dreimal überlegen muss, mit welchem Staat man das macht, und dass im Falle der Türkei die Gefahr besteht, dass die Europäische Union die Operation Türkeibeitritt politisch nicht überlebt.

    Müller: Wir gehen fast alle davon aus - also ich sage wir: die Politik sowie auch die Medien, die Journalisten in Deutschland, in ganz Europa -, dass Verheugen heute - so ist es ja auch angekündigt - positiv votieren wird, also für Beitrittsverhandlungen eintreten wird, und dass sich mit großer Wahrscheinlichkeit die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union dort zunächst einmal anschließen. Ist das heutige Votum von Verheugen, wenn es denn so kommt wie wir es erwarten, de facto dann schon der Beitritt der Türkei in 15, 20 Jahren?

    Hintze: Man kann heute in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" lesen, dass der Bericht von Verheugen eine Menge Wenns und Abers beinhaltet, die es bisher nicht gab, etwa eine Ausstiegsklausel, wie die "FAZ" berichtet, oder aber die ausdrückliche Festlegung, dass der Prozess ergebnisoffen ist, an sich eine Selbstverständlichkeit, aber in diesem Falle wird man es einmal so dokumentieren. Deswegen gibt es noch eine geringe Hoffnung, dass hier auch eine andere Weichenstellung vorgenommen werden kann, etwa die in Richtung einer privilegierten Partnerschaft oder einer guten nachbarschaftlichen Beziehung, wie es die neue EU-Verfassung als Möglichkeit ja ausdrücklich vorsieht. Aber die Gefahr ist doch groß, dass mit dem heutigen Tag so ein Beitrittsautomatismus in Gang gesetzt wird und das in deutlicher Ignorierung der Tatsache, dass etwa die politischen Kriterien, die beim Beginn von Beitrittsverhandlungen erfüllt sein müssen, bei weitem nicht erfüllt sind.

    Müller: Warum ist die Türkei gefährlich?

    Hintze: Das Wort gefährlich ist vielleicht irreführend. Warum ist es ein Problem? - Erstens haben wir in der Türkei eine politische Situation, die eben im Moment noch nicht EU-kompatibel ist. Sie haben selbst in Ihrem Programm vor einer Stunde den Bericht von "Amnesty International" gebracht und die Differenz zwischen Gesetzestext und Lebenswirklichkeit dort aufgezeigt. Wenn etwa "human rights watch" sagt, im letzten Jahr sind 1.300 Folterungen in Polizeistationen noch dokumentiert, dann muss man sagen selbst wenn das auf dem Papier verboten sein sollte, das ist doch ein sehr bedenklicher Vorgang.

    Wir haben ein sehr starkes Wirtschaftsgefälle, was einen großen Migrationsdruck auslöst. Deswegen sagt ja unser Bundeskanzler immer, wir werden die Arbeitnehmerfreizügigkeit für lange, lange Zeit einschränken. Warum sie dann überhaupt öffnen!

    Wir haben das große Problem, dass ein Staat, der in die Europäische Union hinein will, nämlich die Türkei, einen Staat der Europäischen Union zum Teil mit Truppen besetzt. Türkische Truppen besetzen weiter völkerrechtswidrig Nord-Zypern, ein Riesen Vorgang, über den man auch sprechen müsste. In der vergangenen Woche ist es noch zu einem Eklat gekommen, als bei einer EU-Konferenz in Istanbul die Türkei allen Ernstes die türkische Republik Nord-Zypern, die es nicht gibt - die gibt es nur in der türkischen Fantasie -, als Staat mit an den Tisch setzen wollte. Also es gibt eine ganze Flut von Problemen. Deswegen halten wir es auch für sehr kritisch, dass jetzt unter Ignorierung dieser Probleme doch in den Beitritt hineingesteuert wird.

    Müller: Da würden die Befürworter ja sagen, es geht doch gerade darum, in der Verhandlungsphase diese Probleme in den Griff zu bekommen, diese Probleme zu lösen. Es ist ja auch, Herr Hintze, wenn wir das richtig verstanden haben, eine grundsätzliche Frage. Einbindung oder Ausgrenzung? - Ist Einbindung eine wichtige strategische Option, die man so hinwegwischen kann, wie das die Union in Teilen tut?

    Hintze: Herr Müller, ich bin voll für die Einbindung der Türkei. Ich finde den Reformprozess, der dort stattfindet, sehr gut und auch sehr wichtig. Ich finde ihn auch unterstützenswert. Die Türkei hatte immer eine Orientierung hin zu Europa und diese Europaorientierung zu stärken, ist auch unsere volle Absicht. Auf der anderen Seite müssen wir zwischen einer Europaorientierung und einer engen partnerschaftlichen Beziehung und der Mitgliedschaft doch stark unterscheiden. Sehen Sie, wenn die Europäische Union die Türkei aufnimmt, wird die Türkei, die heute 70 Millionen Einwohner hat und die sehr schnell auf 100 Millionen zuwächst, mit ihrem Beitritt das stärkste und mächtigste Land in der Europäischen Union und das als Land mit den mit Abstand größten Problemen und der größten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Differenz zu Europa. Das kann einfach eine Überdehnung sein und deswegen ist das wichtigste Kopenhagener Kriterium, über das wenig gesprochen wird, das, dass die Integrationskraft der EU bei jeder Erweiterungsrunde erhalten bleiben muss und das ist doch im Falle der Türkei in hoher Gefahr. Angela Merkel hat ja bei ihrem Besuch in Ankara deutlich gemacht, dass wir enge freundschaftliche Beziehungen wollen, dass die aber auch anders aussehen können als eine Mitgliedschaft, nämlich eine privilegierte Partnerschaft, wo man auf den politischen Feldern eng zusammenarbeitet und die Europaorientierung der Türkei stützt.

    Müller: Hat die Türkei aus Sicht der Unionsparteien auch die falsche Religion?

    Hintze: Religion spielt in der Frage der Europäischen Union keine Rolle, mit einer einzigen Ausnahme: dort wo sie kulturprägende Kraft entfaltet und diese Prägungen stärker sind als Gesetzestexte. Wenn also die Lebenswirklichkeit in der Türkei sich den Gesetzestexten in der Türkei nicht anpasst, dann wäre das ein Problem. Das ist aber kein religiöses Problem, sondern das ist ein politisches Problem.

    Müller: Sie sagen "wenn", Herr Hintze. Ist das so? Kultur und Religion ist unproblematisch für Sie?

    Hintze: Kultur und Religion sind reine Privatsache.

    Müller: Auch mit Blick auf einen türkischen Beitritt?

    Hintze: Na selbstverständlich!

    Müller: Die Europäische Union ist keine christliche Wertegemeinschaft, wie wir das in den vergangenen Wochen gelesen haben?

    Hintze: Hier muss man etwas unterscheiden. Unser Grundgesetz und das europäische Menschenbild sind stark geprägt von christlichen Vorstellungen von Menschen und von der Aufklärung. Das sind aber keine religiösen Fragen, sondern das sind Fragen einer Prägung eines Menschenbildes, die sich unter anderem auch aus einer bestimmten Religion heraus über Jahrhunderte entwickelt haben. Aber das ist für sich gesehen keine religiöse Frage, weil der Toleranzbegriff des Grundgesetzes, die unbedingte Einhaltung der Menschenwürde, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, all das, was unsere europäischen Werte ausmacht, keine religiösen Erkenntnisse sind, sondern das sind allgemeine menschliche Erkenntnisse, wie sie in unserer Rechtsordnung niedergelegt sind. Wer diese teilt, kann Mitglied in Europa werden, wenn er im europäischen Kontinent liegt, auch wenn er eine andere religiöse Auffassung in der Mehrheit der Bevölkerung hat.

    Müller: Und noch teilt die Türkei das nicht?

    Hintze: Darüber sind sich ja alle einig. Die Frage ist, ob sie in diesem Prozess zu dieser wirklichen Übereinstimmung kommt oder nicht. Und natürlich stellt sich auch die Frage, ist die Europäische Union eine Veranstaltung, um Völker, die andere Werteordnungen haben in ihren Gesetzen oder in ihrer Lebenswirklichkeit, zu der unserigen zu bringen. Dann stellt sich natürlich auch die Frage nehmen wir Russland auf, nehmen wir Weißrussland auf oder die viel berechtigtere Frage nehmen wir die Ukraine auf, die natürlich in dem Sinne viel europäischer ist, als es etwa die Türkei ist. Wir müssen uns also nicht nur fragen, kann ein solcher Staat diesen Weg schaffen, sondern kann die Europäische Union das auch verkraften und ihren positiven Charakter beibehalten. Da sehen wir doch für die Türkei einen anderen Weg der partnerschaftlichen Beziehungen als den der Mitgliedschaft.

    Und was wir vor allen Dingen wollen ist, dass wir endlich im Parlament Gelegenheit bekommen, darüber zu entscheiden. Hier ist ein Konstruktionsfehler in unserem Grundgesetz. Das Grundgesetz sieht vor, dass über Beitrittsverträge am Ende des Beitrittsprozesses abgestimmt wird. Wir wollen, dass Bundestag und Bundesrat am Anfang abstimmen können, ob die Bundesregierung ja sagt zur Einleitung eines solchen in der Vergangenheit immer unumkehrbaren Prozesses.

    Müller: Peter Hintze war das, europapolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!