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Hirnforschung
Unmögliche Geschlechtsbestimmung

Gehirne von Frauen und Männern sind grundverschieden - davon gehen seit Jahrzehnten ganze Forschergenerationen aus und suchen nach Unterschieden. Gibt es wirklich die Kategorien männlich/weiblich? Ein internationales Forscherteam berichtet im Fachblatt PNAS über neue Erkenntnisse, die diese Thesen infrage stellen.

Von Michael Stang | 01.12.2015
    Illustration eines menschlichen Gehirns von der Seite.
    Gehört dieses Gehirn einer Frau oder einem Mann? (imago/CHROMORANGE)
    Die Idee war einfach, sagt Daphna Joel. Es gibt Merkmale im Gehirn, die bei Frauen häufiger zu finden sind als bei Männern und andersherum. Bestimmte Hirnareale sind unterschiedlich groß beziehungsweise verschieden miteinander verknüpft. Die Frage war: Kann man diese Merkmale bei einer Person ausmachen und danach zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen unterscheiden? Genau das wollte die Psychologin von der Tel Aviv Universität in Israel herausfinden.
    "Diese Hypothese hatte sich aus Beobachtungen von Tierstudien entwickelt. Bei Ratten hatten wir schon gesehen, dass etwa eigentlich rein weibliche Merkmale auch in männlichen Gehirnen vorkommen können und es meist eher einen Mix dieser Merkmale gibt als klare Unterschiede."
    Datensätze aus Deutschland
    Um zu testen, ob sich menschliche Gehirne geschlechtsspezifisch einteilen lassen oder nicht, haben Daphna Joel und ihre Kollegen aus Israel, Deutschland und der Schweiz vier Datensätze mit Magnetresonanzaufnahmen von mehr als 1.400 Probanden untersucht. Bei den Bildern konzentrierten sich die Forscher auf das Volumen sämtlicher Hirnstrukturen der grauen und weißen Substanz sowie die Verknüpfungen zwischen den Hirnhemisphären.
    "Wir haben zuerst nach eindeutigen Geschlechtsunterschieden gesucht. Die Regionen, die sich in ihrer Aktivität am deutlichsten unterschieden, haben wir dann in männliche beziehungsweise weibliche Kategorien eingeteilt. Danach haben wir geschaut - und das hat noch niemand vor uns gemacht - ob und wie wir eine Geschlechtsbestimmung am Gehirn bei den Probanden machen konnten. Tatsächlich haben wir aber kaum Gehirne gefunden, die wir sehr weit auf der männlichen beziehungsweise weiblichen Seiten einteilen konnten."
    Geschlechtsspezifische Unterschiede
    Die geschlechtsspezifischen Volumenunterschiede haben sie in vielen Bereichen entdeckt, etwa im Kleinhirn, im Cortex oder im Hippocampus. Je nach untersuchter Gruppe hatte nur jeder zweite bis vierte Proband ein tendenziell männliches oder weibliches Gehirn.
    "Im Gehirn gibt es zwar viele geschlechtsspezifische Unterschiede, aber aus diesen lassen sich keine zwei klar unterscheidbaren Kategorien wie Männergehirn einerseits und Frauengehirn andererseits erstellen. Jeder von uns verfügt über ein individuelles Mosaik dieser Merkmale, die es manchmal häufiger bei Männern oder bei Frauen gibt oder eben bei beiden Geschlechtern vorkommen."
    "Biologischer Determinismus haltlos"
    Das deckt sich mit den Erkenntnissen aus Studien, in denen Verhaltens- oder Persönlichkeitsunterschiede zwischen Männern und Frauen untersucht wurden. Zur Bewertung ihrer Daten hatten Daphna Joel und ihre Kollegen Studienergebnisse von mehr als 5.500 Freiwilligen analysiert, die hinsichtlich ihrer Persönlichkeit, dem Verhalten und Interessen untersucht worden waren. Auch hier gab es viele Personen, die zusammengerechnet hinsichtlich ihrer Persönlichkeit nicht in eindeutig in die Kategorie männlich oder weiblich eingeordnet werden konnten. Überall gebe es Überlappungen, eben auch im Gehirn, sagt Gina Rippon, Neuropsychologin von der Aston Universität im britischen Birmingham.
    "Seit Jahrhunderten wird argumentiert, dass sich Frauen und Männer verschieden verhalten, weil ihre Gehirne verschieden sind. Dieser biologische Determinismus, bei dem in ausschließlich zwei Kategorien gedacht wird, erweist sich dank der neuen und überzeugenden Daten von Daphna Joel als haltlos. Wir sollten hinsichtlich der Gehirne nicht mehr in zwei Kategorien denken, denn es gibt viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede."
    "Tsunami der Unterschiede"
    Wie schnell sich diese Erkenntnis durchsetzen werde, bleibt abzuwarten. Ein Umdenken erfordert eine große Bereitschaft. Aber das, so Gina Rippon, berühre das Grundproblem der Wissenschaft:
    "Es ist viel einfacher, Daten über Unterschiede im Gehirn in großen Fachjournalen zu veröffentlichen als etwas über Gemeinsamkeiten der Geschlechter zu publizieren. Das Nationale Gesundheitsinstitut in den USA etwa finanziert zahlreiche Studien, wo es nur um die Suche nach solchen Unterschieden bei Menschen und Tieren geht, etwa im Bereich Entwicklung neuer Medikamente. Und die Forscher sollen alle Unterschiede veröffentlichen, die sie nur finden können."
    Daher sei bald eine Art "Tsunami der Unterschiede" zu erwarten. Und dieses Ungleichgewicht in den Studien könnte dann dazu führen, dass die Daten, die zeigen, dass die Gemeinsamkeiten wichtiger sind als die Unterschiede, weiter vernachlässigt werden.