Geuther: Herr Professor Hirsch, Sie sind seit einem knappen Vierteljahr Präsident des Bundesgerichtshofs, des höchsten deutschen Straf- und Zivilgerichts, und Sie stehen damit an der Spitze der ordentlichen deutschen Gerichtsbarkeit. Auf der 50-Jahr-Feier des Gerichts am Freitag sind Sie in Ihren Schlussworten als Sprecher der Richterschaft aufgetreten und haben sehr deutlich die Probleme des Rechtsradikalismus angesprochen – auf einer Veranstaltung, die sonst eher freundlich festlich gehalten war.
Hirsch: Ja, das ist richtig. Es war auch schön, dass der Bundesgerichtshof gefeiert hat und gefeiert wurde. Aber ich glaube, man kann in der heutigen Zeit mit den Nachrichten, die täglich zu dem Problem der kriminellen rechtsradikalen Szene kommen, sich nicht darauf beschränken, die Justiz darzustellen – freundlich darzustellen –, und man kann sich aus der Justiz heraus nicht damit zufrieden geben, dass man mit hohem Respekt behandelt wird. Man muss Position beziehen. Und das war – glaube ich – auch mein besonderes Anliegen, sozusagen der Richterschaft, der Justiz in dieser Situation eine Stimme zu geben, dass nicht über uns gesprochen wird, sondern dass wir selbst sagen, was wir in dieser Situation für richtig halten.
Geuther: Sie haben einerseits gesagt, auch bei rechtsradikalen Straftaten müsse jeder nach seiner Schuld beurteilt werden – ohne Exempel zu statuieren –, andererseits wollen Sie Bewährungsstrafen in der Regel auch bei Hakenkreuz-Schmierereien ausschließen. Wie geht das denn zusammen?
Hirsch: Also, dass die Justiz keine Exempel statuieren darf, ist für mich ein ganz wichtiger Punkt. Die Justiz hat – das ist ein Grundpfeiler unseres Rechtsstaates – nach der individuellen Schuld des Täters zu urteilen. Aber im Rahmen dieser individuellen Schuld und der Strafe hierfür ist Raum - und es ist auch notwendig, den auszuschöpfen - ist Raum auch für Abschreckung anderer. Und ich glaube, bei der Strafaussetzung zur Bewährung – das ist eines dieser Felder, wo die Justiz zeigen kann, dass sie sehr wohl begriffen hat, welche Besonderheit diese Straftaten haben und welche Auswirkungen sie auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung haben. Und genau dieser Aspekt, dem Rechtsbewusstsein der Bevölkerung Ausdruck zu geben bei der Frage ‚Strafaussetzung oder nicht‘ – gerade dieser Aspekt ist bei rechtsradikalen Straftaten – meine ich – besonders zu beachten.
Geuther: Kann man das also so verstehen, dass die Erwartungshaltung der Gesellschaft nicht nur den Richter in seinem Unwerturteil beeinflusst, weil er eben auch Teil der Gesellschaft ist, sondern dass solche gesellschaftlichen Bewertungen von ihm selbst ohnehin mit einzustellen sind?
Hirsch: Das ist natürlich so. Die Justiz steht nicht im luftleeren Raum. Wenn Sie die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs über 50 Jahre verfolgen – da gab es Urteile, die nur aus der Zeit zu verstehen sind, die heute kaum mehr nachvollziehbar sind. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Die Justiz ist Bestandteil dieser Gesellschaft, sie teilt die Werte dieser Gesellschaft. Sie muss den Werten, die anerkannt sind, Ausdruck geben. Insoweit ist es sicher auch richtig, dass das Rechtsbewusstsein in der Bevölkerung auch zurückschlägt auf das, was die Justiz zu leisten hat.
Geuther: Wir brauchen – Sie sagten es am Freitag – kein anderes strafrechtliches Handwerkszeug. Würde ein anderes Handwerkszeug schaden - eine Änderung etwa nach den Ideen, die nach amerikanischem Vorbild sogenannte Hass-Delikte gesondert unter Strafe stellen wollen oder Ähnliches?
Hirsch: Also, darüber lässt sich – und das muss man auch – nachdenken. Wir haben ja die Abgrenzung zwischen Totschlag und Mord, je nachdem, ob niedere Beweggründe vorliegen. Das macht einen Totschlag unter anderem zum Mord. Ob man nicht sagt, diese niederen Beweggründe – etwa Rassismus – die müssten auch bei anderen Delikten, bei Körperverletzung etwa, auch dazu führen, dass man ein qualifiziertes Delikt einführt, das mit höherer Strafe bedroht ist als die normale Körperverletzung – darüber lässt sich reden. Aber ich glaube nicht, dass wirklich eine Notwendigkeit besteht, das zu tun, weil die jetzigen Straftatbestände und die Möglichkeiten der Strafzumessung, die der Richter jetzt hat, ausreichen, auch dieser speziellen Gefährdung Rechnung zu tragen. Ich glaube nicht, dass man das Problem damit lösen kann. Man kann ein Zeichen setzen, man kann Farbe bekennen – aber es ist sicherlich kein Ansatz, um das Problem als solches besser in den Griff zu bekommen.
Geuther: Wenn man so eine besondere strafrechtliche Möglichkeit einführen würde: Fürchten Sie da nicht auch Abgrenzungsschwierigkeiten?
Hirsch: Ja, genau das ist es, denn eines ist klar: Wir dürfen kein Gesinnungsstrafrecht haben. Es darf nicht darum gehen, dass man Gesinnung bestraft, sondern man kann nur bestrafen unwertes Handeln, das einen Tatbestand erfüllt – und in diesem Rahmen dann die Gesinnung vielleicht strafschärfend berücksichtigen. Aber die Gefährdung ist eben sehr groß, dass man nachforscht, aus welcher Gesinnung Straftaten begangen wurden. Und man sieht ja auch bei der Abgrenzung ‚Totschlag und Mord‘, wie schwierig das ist. Man würde genau diese Schwierigkeit dann noch in ein sehr viel weiteres Feld hineintragen, nämlich in die gesamten Körperverletzungsdelikte. Und wissen Sie: Rassismus ist zweifellos ein niedriger Beweggrund, aber nicht der einzige. Nehmen Sie Frauenfeindlichkeit etwa, Körperverletzung aus Sexismus – oder welche Dinge auch immer. Sie kommen dann immer in den Bereich: Ist das jetzt ein niedriger Beweggrund, der einen schärferen Tatbestand erfüllt oder nicht? Ich glaube, aus meiner Erfahrung würden die jetzigen Tatbestände mit ihren Strafrahmen und mit der Möglichkeit der Strafzumessung, bei der man ja das berücksichtigen kann, ausreichen.
Geuther: In den letzten Wochen – auch das hatten Sie erwähnt, Herr Professor Hirsch – fehlte es ja nicht an Tipps und Anregungen an die Richterschaft für den richtigen Umgang mit dem Recht aus der Politik - Äußerungen etwa wie ‚mit der Verhängung von Bewährungsstrafen müsse man nicht so freundlich sein wie das gelegentlich geschehe‘ oder allgemein der Ruf nach härteren Strafen und schnelleren Urteilen. Nun sind ja solche Forderungen in der Politik an sich nichts Besonderes. Wo hört denn gegenüber der Justiz der Dialog auf und wird zum Angriff auf die Unabhängigkeit?
Hirsch: Wissen Sie, ich war ein bisschen verärgert über solche Äußerungen, weil man damit den Eindruck erweckt, dass die Justiz Defizite hätte, und wenn die nicht bestünden, würde man besser mit dem Problem des Rechtsradikalismus fertig. Diese Defizite bestehen aktuell in keiner Art und Weise. Das ist so ein bisschen ein ‚Schwarzes-Peter-Spiel‘. Man schiebt jetzt auch jedenfalls einen Teil der Verantwortung und damit der Schuld auf die Justiz. Es kommt aber dann noch sehr viel massiver hinzu – das Problem der richterlichen Unabhängigkeit. Wissen Sie, wenn ein Innenminister eines Landes, bevor ein Prozess gegen rechtsradikale Straftäter überhaupt durchgeführt wurde, bereits öffentlich feststellt, hier gebe es keine Milderungsgründe, dann wird damit eine Stimmung erzeugt, die psychischen Druck auf die Richter ausübt – denn der Richter steht ja dann unter dieser Anforderung, dass eigentlich die Politik, die Gesellschaft, die Mehrheit keine Milderungsgründe sieht; wie kann er dann dieser Prüfung überhaupt noch nähertreten. Im konkreten Fall ging es um die Mörder von Dessau. Das Gericht hat, wie Sie wissen, einen der Täter zu lebenslänglich verurteilt, die anderen beiden zu neun Jahren Jugendstrafe. Das Gericht hat – wie ich meine – rechtsstaatlich in einem vorzüglichen Verfahren, in einem schnellen Verfahren gutes Recht gesprochen. Aber diese Pression, die ausgeübt wurde, die ist unerträglich, denn die berührt die richterliche Unabhängigkeit. Man versucht ein psychisches Umfeld zu schaffen, das Druck auf die Richter ausübt. Und das darf die Politik nicht tun.
Geuther: Das war jetzt ein Fall, in dem konkret in einem bestimmten Verfahren kritisiert wurde. Wie sieht es denn sonst aus – eben zum Beispiel der Ruf nach härteren Strafen an die Richterschaft, oder: Weniger Bewährungsstrafen, schnellere Urteile?
Hirsch: Der Ruf sollte weniger an die Richterschaft gehen. Wenn, dann sollte man rechtspolitisch tätig werden. Es gibt eine Initiative von Brandenburg, die in der Tat bei Körperverletzungsdelikten oder sonstigen Delikten die niedrigen Beweggründe ausdrücklich zum Anlass eines qualifizierten schärferen Straftatbestandes machen will. Das ist richtig, das ist legitim, das ist die Rechtspolitik. Aber in die Gerichte hinein zu versuchen, auch durch abstrakte Äußerungen - zum Beispiel weniger Bewährung zu geben -, das ist Sache des Richters zu entscheiden, ob dies ein Fall ist, der die Bewährung zulässt oder nicht. Die Politik sollte wirklich sensibel sein, wenn sie Hinweise, Empfehlungen, Ratschläge an die Justiz gibt. Ich verkenne nicht, dass das für die Politik vielleicht legitim sein mag. Die Justiz steht auch in dem gesellschaftlichen Feld und muss sich Kritik natürlich gefallen lassen – nach einem Urteil muss sie sich Kritik gefallen lassen. Was schwierig ist: Wenn sozusagen für die Zukunft von der Justiz etwas erwartet wird, wenn dem Ausdruck gegeben wird von hoher politischer Seite – wenn also auf zukünftiges Verhalten der Justiz Einfluss genommen werden soll, dann ist die kritische Grenze überschritten.
Geuther: Glauben Sie denn, in diesen Bereichen Rechtsradikalismus sind Richter im Moment frei von solchem Druck?
Hirsch: Nein, überhaupt nicht. Richter lesen natürlich die Zeitungen, oder – wie ich auch – Richter sind genau so erschüttert, wenn sie lesen, dass am deutschen Nationalfeiertag Brandsätze gegen eine Synagoge fallen. Richter sind zornig, Richter sind empört. Und natürlich wirkt sich das auf ihre tägliche Arbeit aus. Aber das ist ja auch nicht zu beanstanden. Der Richter sitzt nicht im Elfenbeinturm. Er ist Teil dieser Gesellschaft, und seine Justiz und seine Urteile sind Teil auch der Reaktion der Gesellschaft auf diese Sachverhalte. Und das ist richtig so.
Geuther: Ein anderes Problem, in dem auch die Wellen hochgegangen sind: Das Jubiläum des Bundesgerichtshofs fällt zusammen mit dem großen Jahrestag dieser Woche – zu zehn Jahren deutsche Einheit. Für die Strafgerichte sind das vor allem zehn Jahre mit dem Versuch, das Erbe des DDR-Unrechts aufzuarbeiten – auf der einen Seite mit hohen Erwartungen, die sie zu erfüllen hatten, auf der anderen Seite wurde immer wieder kritisiert, mit den Mitteln des Rechts könne man Geschichte ohnehin nicht bewältigen. Was wäre denn Ihr Fazit der strafrechtlichen Rechtsprechung?
Hirsch: Also, das ist hier richtig, dass man mit den Mitteln des Rechts keine historischen Prozesse bewältigen kann. Aber gleichwohl ist es eine Aufgabe insbesondere der Strafjustiz, nach den gegebenen Straftatbeständen auch Unrecht zu beurteilen, das in dem anderen System – sei es durch Bürger, sei es durch Politiker, sei es durch Richter – geschehen ist. Und ich glaube, da gab es in der deutschen Justiz Defizite nach dem Ende des Dritten Reiches, insbesondere bei der Aufarbeitung von Justizunrecht, das damals passiert ist. Sie wissen ja, dass kein deutscher Richter aus der Zeit des Nationalsozialismus anschließend wegen seiner Tätigkeit im Rahmen dieses Unrechts-Justizsystems verurteilt wurde. Das heißt, das Richterprivileg, das eben verbietet, dass man nachträglich nachforscht, ob ein Urteil korrekt war oder nicht, wurde sehr weit ausgelegt. Und das wirkte sich breit zum Schutz der Richter des Naziregimes aus. Jetzt nach dem Ende der DDR war das ganz anders. Das wurde ja zum Teil der Justiz auch vorgeworfen, dass sie jetzt anders reagiert hat, als sie früher reagiert hat nach dem Ende des Dritten Reiches. Das ist richtig, dass die Justiz anders reagiert hat. Sie hat vielleicht auch gelernt inzwischen. Um auf Ihre konkrete Frage zu kommen: Wie ich meine, die wirklich korrekte Reaktion der Strafjustiz auf DDR-Unrecht zeigt sich darin, dass man nicht etwa nach dem Motto ‚die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen‘ vorgegangen ist. Wenn Sie die Mauerschützen-Prozesse nehmen – da wurden verurteilt die DDR-Grenzschützer, die auf unbewaffnete Flüchtlinge geschossen haben, aber genau so wurden verurteilt die Mitglieder des Politbüros, die diese Befehle gegeben haben, die diese Straftaten initiiert haben. Das heißt, hier hat die Justiz wirklich ohne Ansehen der Person einfach strafrechtliches Unrecht geahndet.
Geuther: Jetzt, zehn Jahre nach der Vereinigung – haben Sie denn das Gefühl, dass die Politik die Rolle der Justiz hier noch mitträgt? Günter Schabowski und Günther Kleiber sind kürzlich begnadigt worden. Mir ist kein Fall bekannt, dass das so früh nach einer Verurteilung geschehen wäre. Wird das Recht hier als unbequem empfunden?
Hirsch: Ich glaube das nicht. Wissen Sie, die Aufarbeitung des DDR-Unrechts weist wirklich besondere Schwierigkeiten auf. Sie hatten ein Unrechtssystem, das alle Lebensbereiche geprägt hat. Das heißt, viele Menschen in der DDR, die nach unseren Maßstäben straffällig geworden sind, hatten sich dort ja konform verhalten – rechtskonform, gesellschaftlich konform verhalten. Das Unrechtsbewusstsein war ein anderes. Sie hatten ein staatliches Unrechtssystem, sie hatten Gesetze, die per se Unrecht waren. Und es ist doch etwas anderes, wenn Sie jemanden verurteilen, der sich in seinem System an geltende Regeln gehalten hat, die eben nach unserem System nicht akzeptabel und schweres Unrecht waren, oder ob jemand auch psychisch eigene Regeln bricht, die in seinem System gelten. Man korrigiert ja nicht die Justiz durch Gnadenentscheidungen. Wissen Sie, ein Rechtsphilosoph sagte einmal: ‚Die Gnadenentscheidung – das ist der Blitz, der die Düsternis des Rechtshimmels erhellt‘. Ich bin ein Befürworter des Gnadenrechts. Die Gnade richtet sich nach völlig anderen Maßstäben als das Urteil. Die Gnade ist im bestimmten Sinne etwas ganz Individuelles, vielleicht etwas Willkürliches. Das ist ein Geschenk. Dass man bei verurteilten Straftätern der Ex-DDR, insbesondere soweit sie im politischen Bereich tätig waren, nach diesem Zeichen der strafrechtlichen Verurteilung jetzt Gnade walten lässt, dafür habe ich viel Verständnis.
Geuther: Christoph Schaefgen, der Chefankläger für diese Fälle, hat darauf hingewiesen, dass für die Begnadigung gerade Gründe angegeben wurden, die auch schon bei der Strafzumessung eine Rolle gespielt hatten, insbesondere die Reue der Täter.
Hirsch: Also, ich sehe überhaupt kein Problem mit der Gewaltenteilung, solange die Gnade ihre ursprüngliche Bedeutung behält. Zu begnadigen – das war das Privileg des obersten Souverän. Das hat nichts mit der Justiz zu tun. Nicht die Justiz, nicht die Gerichte sollten begnadigen, sondern der Souverän, der dann auch in unserer Gesellschaft natürlich verantwortlich ist dem Parlament und dem Gesetzgeber. Das ist eine seiner letzten Vorrechte, die er hat. Darum war ich immer etwas skeptisch, dieses Gnadenrecht zu sehr zu verrechtlichen – sozusagen dann Klagemöglichkeiten vorzusehen, wenn jemand nicht begnadigt wird. Die Gnade sollte außerhalb der Rechtsprechung stehen. Da war sie angesiedelt, da soll sie bleiben. Und dann soll sie aber auch nicht beurteilt werden nach Maßstäben, die im System der Rechtsprechung gelten. Sie richtet sich nach anderen Maßstäben, und das sollte von der Idee her auch so bleiben.
Geuther: Sie sind vom Europäischen Gerichtshof an den Bundesgerichtshof gekommen, Herr Professor Hirsch. Da gibt es ja ein ganz eigenes Problem der Einflussmöglichkeiten der Exekutive, nämlich bei der Berufung selbst. Im innerstaatlichen Bereich ist das ja immer noch ausschließlich eine Sache der Regierung, während für die Bundesrichter und Bundesverfassungsrichter Ausschüsse zuständig sind – mit Beteiligung auch des Parlaments. Kann man das noch rechtfertigen auf europäischer Ebene?
Hirsch: Das ist ein delikates Problem. Ich habe gestern mit meinem holländischen Kollegen gesprochen – auch über dieses Problem. Und er sagte mir etwa: In Holland stand jetzt an die Benennung eines neuen Richters beim Europäischen Gerichtshof. Man hat ein Gremium gebildet, bestehend aus – ich glaube – den beiden Präsidenten der obersten Gerichte, aus einem ehemaligen holländischen Richter beim EuGH und einem Vertreter des Parlaments. Und der Vorschlag dieses Gremiums war quasi verbindlich für die Regierung für die Benennung eines neuen Richters. Das heißt, das ist ein ganz transparentes Verfahren unter der Mitwirkung der Kompetenz der Richterschaft, aber auch der politischen Verantwortlichen. Ich finde dieses System phantastisch. In Deutschland ist es seit je her so, dass dies ein Vorrecht, eine Prärogative, der Bundesregierung ist, die dabei natürlich auch – das ist legitim – die politischen Rahmenbedingungen mit einbezieht, etwa - wie sieht die Zusammensetzung in der Kommission aus, welche anderen hohen europäischen Posten sind wie besetzt aus deutscher Sicht. All dies wird mit einbezogen in die Überlegung. Das ist ein anderes System. Ich selbst – da mach ich kein Hehl draus – würde mir mehr Transparenz und auch die Mitwirkung etwa parlamentarischer und richterlicher Kompetenz bei der Meinungsbildung der Bundesregierung wünschen.
Geuther: Der Entwurf zur europäischen Grundrechtscharta ist gerade abgeschlossen, gerade hat der Konvent ihn den Regierungen übergeben. Auch hier gibt es ja Befürchtungen, der Europäische Gerichtshof könnte dadurch mehr Macht bekommen, obwohl ja an sich die Charta nur die Rechte der Bürger gegenüber der EU stärken soll. Können Sie das verstehen?
Hirsch: Ich kann das schon verstehen. Ich meine, einerseits rein rechtsdogmatisch wird ja mit dieser Charta eigentlich nur kodifiziert, was aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ja schon besteht. Es gibt ja schon europäische Grundrechte, die werden nicht neu geschaffen - neu erfunden -, sondern die werden jetzt niedergeschrieben und konkretisiert. In der Tat besteht natürlich die Befürchtung, dass die Gemeinschaft – wenn jetzt ein Grundrechtskatalog besteht – hieraus neu Kompetenzen zieht, indem etwa die Gemeinschaft sagt: ‚Jetzt haben wir Grundrechte, wir müssen die Grundrechte schützen – aber auch aus diesen Grundrechten Maßnahmen der Fürsorge zugunsten der Bürger herleiten; wir wollen tätig werden‘. Und wenn man tätig werden will, dann sucht und findet man eine Kompetenz. Das heißt, man fürchtet, dass die Grundrechte dazu führen, dass die Gemeinschaft neue Kompetenzen sucht und findet und an sich zieht. Diesen Befürchtungen soll mit der Grundrechtscharta selbst begegnet werden. Es gibt ja einen Artikel am Ende der Charta, der ausdrücklich feststellt: Mit dieser Charta bekommt die Gemeinschaft keine neuen Gesetzgebungskompetenzen. Sicher ist es aber richtig, dass der Europäische Gerichtshof in Zukunft noch deutlicher vielleicht als bisher Maßnahmen der Gemeinschaft messen wird an den Grundrechten, so dass sich die Systematik schon ein bisschen verschieben wird durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Aber es werden keine neuen harten Kompetenzen begründet für die Gemeinschaft.
Geuther: Also tatsächlich in erster Linie Grundrechte für die Bürger. Sind Sie denn - vor dem Hintergrund - mit dem Verfahren einverstanden?
Hirsch: Da habe ich so ein bisschen Probleme, und zwar – dies will ich ganz deutlich machen – vom Grundansatz her. Ich meine, Grundrechte, das sollen Rechte sein, mit denen die Bürger den Gesetzgeber in seine Schranken weisen. Die sollen ausgehen vom Bürger. Es ist der Bürger, der dem Gesetzgeber, der der Hoheitsgewalt mit den Grundrechten sagt: ‚Hier sind Deine Schranken, hier beginnen meine unverletzlichen Rechte‘. Nach dem jetzigen Verfahren sollen aber die Grundrechte sozusagen von den Autoritäten dem Bürger als Geschenk gegeben werden. Das ist kein Geschenk, das ein Europäischer Rat oder ein Europäisches Parlament oder wer auch immer den Bürgern macht, sondern diese Grundrechte – das ist etwas, was die Bürger der Hoheitsgewalt als Grenze vorsetzen. Und darum meine ich, wäre die Grundrechtscharta ein würdiger Anlass, um ein Referendum in allen europäischen Ländern durchzuführen, um zu sagen: Die Bürger sollen entscheiden, ob sie diese Charta als ihre unverletzlichen Rechte jetzt implantieren in das Gemeinschaftsrecht. Ich plädiere für eine Befragung der Bürger, für ein Referendum, für einen Volksentscheid in allen Mitgliedsstaaten über diese Charta der Grundrechte.
Geuther: Das ist ja ein Verfahren, das man in Deutschland sonst auf Bundesebene der Verfassung nach gar nicht hat. Würden Sie da auch Änderungen vorschlagen, oder ist das etwas, was Sie jetzt nur auf die europäische Ebene beschränken wollen?
Hirsch: Wissen Sie, da sehe ich eigentlich keine Probleme. Wenn man die Grundrechte in den Vertrag integriert und damit eben zu harten subjektiven Grundrechten machen will, dann bräuchte man doch meines Erachtens nur eine zusätzliche Klausel in den Vertrag hineinschreiben, dass diese Grundrechtscharta in Kraft tritt, wenn sie von der Mehrheit der europäischen Bürger bejaht wird. Dann wäre dieser Auftrag eines Referendums kraft Gemeinschaftsrecht - kraft Europarecht - verankert. Das Gemeinschaftsrecht aber geht nationalem Recht vor. Das heißt, auch wenn nationale Verfassungen - wie etwa die deutsche - das nicht vorsehen, wäre für diesen spezifischen Fall das höherrangige Gemeinschaftsrecht maßgebend, das eben ein Referendum voraussetzt für das Inkrafttreten dieser Charta. Das könnte meines Erachtens ein gangbarer Weg sein. Ob man das jetzt aus politischen Gründen will, ob man das mit der jetzigen Integrationsstruktur der Gemeinschaft als vereinbar ansieht, oder ob man vielleicht sagt: ‚Ja, dadurch würde die Gemeinschaft ja noch stärker zu einem souveränen Staat hin sich entwickeln‘ – und das will man nicht –, das sind letztendlich politische Entscheidungen, die natürlich zu respektieren sind. Ich würde nur argumentieren: Aus dem Grundansatz einer Grundrechtscharta her läge es sehr, sehr nahe, ein Referendum vorzusehen.
Geuther: Kommen wir zu einem gesetzgeberischen Projekt, das zeitlich und dem BGH sehr viel näher ist. Es steht ja konkret eine Reform zur Umgestaltung des Zivilprozesses an - nach den Plänen von Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin. Unter Ihrem Vorgänger Karlmann Geiß hat sich der BGH insgesamt klar für die Reform ausgesprochen. Sie haben sich bisher bedeckt gehalten und sind nun drei Monate aus dem Ausland wieder da. Haben Sie jetzt eine Position dazu?
Hirsch: Ja, ich hatte mich bisher in der Tat nicht geäußert, weil ich mich erst wirklich sachkundig machen wollte. Inzwischen gibt es ja eine Fülle von Stellungnahmen. Ich möchte mich beschränken auf den Bereich der Revisionen, der den Bundesgerichtshof betrifft, für den wir ja auch zuständig sind. Ich halte persönlich diesen Paradigmenwechsel, der jetzt vorgeschlagen wird in der Revision, für richtig. Er sieht ja so aus, dass man nicht mehr anknüpfen will an eine bestimmte Streitwertsumme – 60.000 Mark, vielleicht irgendwann 100.000 Mark –, um den Zugang zum BGH zu eröffnen, sondern ein völlig anderes System, das den Zugang auch bei kleinsten Streitwerten eröffnet, wenn die Sache, die Rechtsfrage, grundsätzliche Bedeutung hat. Diesen Wechsel halte ich im Prinzip für gut.
Geuther: Es gibt vor allem von Seiten der Anwaltschaft am BGH Befürchtungen, es könnte dem Bundesgerichtshof das Anschauungsmaterial fehlen, es könnte insgesamt ein trockeneres Gericht werden. Glauben Sie, die Arbeit am Bundesgerichtshof wird sich verändern?
Hirsch: Also, den Einwand verstehe ich ehrlich gesagt nicht ganz. In Zukunft wird es ja möglich sein, ohne Rücksicht auf den Streitwert, also auch materiell kleine Streitigkeiten zum BGH zu bringen. Bisher war es so, dass das Feld bis zu 60.000 Mark völlig versperrt war – oder weitgehend, für den Bundesgerichtshof, nicht völlig. Also ich glaube, das Anschauungsmaterial wird sich eher verbreitern. Man muss abwarten, in welchem Umfang sich das denn einspielen wird, dass man sagt: ‚Das hat grundsätzliche Bedeutung, das bedarf einer Grundsatzentscheidung des BGH – oder nicht‘. Also, ich habe diese Befürchtung, dass der BGH dadurch sozusagen ausgetrocknet wird, eigentlich nicht.
Hirsch: Ja, das ist richtig. Es war auch schön, dass der Bundesgerichtshof gefeiert hat und gefeiert wurde. Aber ich glaube, man kann in der heutigen Zeit mit den Nachrichten, die täglich zu dem Problem der kriminellen rechtsradikalen Szene kommen, sich nicht darauf beschränken, die Justiz darzustellen – freundlich darzustellen –, und man kann sich aus der Justiz heraus nicht damit zufrieden geben, dass man mit hohem Respekt behandelt wird. Man muss Position beziehen. Und das war – glaube ich – auch mein besonderes Anliegen, sozusagen der Richterschaft, der Justiz in dieser Situation eine Stimme zu geben, dass nicht über uns gesprochen wird, sondern dass wir selbst sagen, was wir in dieser Situation für richtig halten.
Geuther: Sie haben einerseits gesagt, auch bei rechtsradikalen Straftaten müsse jeder nach seiner Schuld beurteilt werden – ohne Exempel zu statuieren –, andererseits wollen Sie Bewährungsstrafen in der Regel auch bei Hakenkreuz-Schmierereien ausschließen. Wie geht das denn zusammen?
Hirsch: Also, dass die Justiz keine Exempel statuieren darf, ist für mich ein ganz wichtiger Punkt. Die Justiz hat – das ist ein Grundpfeiler unseres Rechtsstaates – nach der individuellen Schuld des Täters zu urteilen. Aber im Rahmen dieser individuellen Schuld und der Strafe hierfür ist Raum - und es ist auch notwendig, den auszuschöpfen - ist Raum auch für Abschreckung anderer. Und ich glaube, bei der Strafaussetzung zur Bewährung – das ist eines dieser Felder, wo die Justiz zeigen kann, dass sie sehr wohl begriffen hat, welche Besonderheit diese Straftaten haben und welche Auswirkungen sie auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung haben. Und genau dieser Aspekt, dem Rechtsbewusstsein der Bevölkerung Ausdruck zu geben bei der Frage ‚Strafaussetzung oder nicht‘ – gerade dieser Aspekt ist bei rechtsradikalen Straftaten – meine ich – besonders zu beachten.
Geuther: Kann man das also so verstehen, dass die Erwartungshaltung der Gesellschaft nicht nur den Richter in seinem Unwerturteil beeinflusst, weil er eben auch Teil der Gesellschaft ist, sondern dass solche gesellschaftlichen Bewertungen von ihm selbst ohnehin mit einzustellen sind?
Hirsch: Das ist natürlich so. Die Justiz steht nicht im luftleeren Raum. Wenn Sie die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs über 50 Jahre verfolgen – da gab es Urteile, die nur aus der Zeit zu verstehen sind, die heute kaum mehr nachvollziehbar sind. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Die Justiz ist Bestandteil dieser Gesellschaft, sie teilt die Werte dieser Gesellschaft. Sie muss den Werten, die anerkannt sind, Ausdruck geben. Insoweit ist es sicher auch richtig, dass das Rechtsbewusstsein in der Bevölkerung auch zurückschlägt auf das, was die Justiz zu leisten hat.
Geuther: Wir brauchen – Sie sagten es am Freitag – kein anderes strafrechtliches Handwerkszeug. Würde ein anderes Handwerkszeug schaden - eine Änderung etwa nach den Ideen, die nach amerikanischem Vorbild sogenannte Hass-Delikte gesondert unter Strafe stellen wollen oder Ähnliches?
Hirsch: Also, darüber lässt sich – und das muss man auch – nachdenken. Wir haben ja die Abgrenzung zwischen Totschlag und Mord, je nachdem, ob niedere Beweggründe vorliegen. Das macht einen Totschlag unter anderem zum Mord. Ob man nicht sagt, diese niederen Beweggründe – etwa Rassismus – die müssten auch bei anderen Delikten, bei Körperverletzung etwa, auch dazu führen, dass man ein qualifiziertes Delikt einführt, das mit höherer Strafe bedroht ist als die normale Körperverletzung – darüber lässt sich reden. Aber ich glaube nicht, dass wirklich eine Notwendigkeit besteht, das zu tun, weil die jetzigen Straftatbestände und die Möglichkeiten der Strafzumessung, die der Richter jetzt hat, ausreichen, auch dieser speziellen Gefährdung Rechnung zu tragen. Ich glaube nicht, dass man das Problem damit lösen kann. Man kann ein Zeichen setzen, man kann Farbe bekennen – aber es ist sicherlich kein Ansatz, um das Problem als solches besser in den Griff zu bekommen.
Geuther: Wenn man so eine besondere strafrechtliche Möglichkeit einführen würde: Fürchten Sie da nicht auch Abgrenzungsschwierigkeiten?
Hirsch: Ja, genau das ist es, denn eines ist klar: Wir dürfen kein Gesinnungsstrafrecht haben. Es darf nicht darum gehen, dass man Gesinnung bestraft, sondern man kann nur bestrafen unwertes Handeln, das einen Tatbestand erfüllt – und in diesem Rahmen dann die Gesinnung vielleicht strafschärfend berücksichtigen. Aber die Gefährdung ist eben sehr groß, dass man nachforscht, aus welcher Gesinnung Straftaten begangen wurden. Und man sieht ja auch bei der Abgrenzung ‚Totschlag und Mord‘, wie schwierig das ist. Man würde genau diese Schwierigkeit dann noch in ein sehr viel weiteres Feld hineintragen, nämlich in die gesamten Körperverletzungsdelikte. Und wissen Sie: Rassismus ist zweifellos ein niedriger Beweggrund, aber nicht der einzige. Nehmen Sie Frauenfeindlichkeit etwa, Körperverletzung aus Sexismus – oder welche Dinge auch immer. Sie kommen dann immer in den Bereich: Ist das jetzt ein niedriger Beweggrund, der einen schärferen Tatbestand erfüllt oder nicht? Ich glaube, aus meiner Erfahrung würden die jetzigen Tatbestände mit ihren Strafrahmen und mit der Möglichkeit der Strafzumessung, bei der man ja das berücksichtigen kann, ausreichen.
Geuther: In den letzten Wochen – auch das hatten Sie erwähnt, Herr Professor Hirsch – fehlte es ja nicht an Tipps und Anregungen an die Richterschaft für den richtigen Umgang mit dem Recht aus der Politik - Äußerungen etwa wie ‚mit der Verhängung von Bewährungsstrafen müsse man nicht so freundlich sein wie das gelegentlich geschehe‘ oder allgemein der Ruf nach härteren Strafen und schnelleren Urteilen. Nun sind ja solche Forderungen in der Politik an sich nichts Besonderes. Wo hört denn gegenüber der Justiz der Dialog auf und wird zum Angriff auf die Unabhängigkeit?
Hirsch: Wissen Sie, ich war ein bisschen verärgert über solche Äußerungen, weil man damit den Eindruck erweckt, dass die Justiz Defizite hätte, und wenn die nicht bestünden, würde man besser mit dem Problem des Rechtsradikalismus fertig. Diese Defizite bestehen aktuell in keiner Art und Weise. Das ist so ein bisschen ein ‚Schwarzes-Peter-Spiel‘. Man schiebt jetzt auch jedenfalls einen Teil der Verantwortung und damit der Schuld auf die Justiz. Es kommt aber dann noch sehr viel massiver hinzu – das Problem der richterlichen Unabhängigkeit. Wissen Sie, wenn ein Innenminister eines Landes, bevor ein Prozess gegen rechtsradikale Straftäter überhaupt durchgeführt wurde, bereits öffentlich feststellt, hier gebe es keine Milderungsgründe, dann wird damit eine Stimmung erzeugt, die psychischen Druck auf die Richter ausübt – denn der Richter steht ja dann unter dieser Anforderung, dass eigentlich die Politik, die Gesellschaft, die Mehrheit keine Milderungsgründe sieht; wie kann er dann dieser Prüfung überhaupt noch nähertreten. Im konkreten Fall ging es um die Mörder von Dessau. Das Gericht hat, wie Sie wissen, einen der Täter zu lebenslänglich verurteilt, die anderen beiden zu neun Jahren Jugendstrafe. Das Gericht hat – wie ich meine – rechtsstaatlich in einem vorzüglichen Verfahren, in einem schnellen Verfahren gutes Recht gesprochen. Aber diese Pression, die ausgeübt wurde, die ist unerträglich, denn die berührt die richterliche Unabhängigkeit. Man versucht ein psychisches Umfeld zu schaffen, das Druck auf die Richter ausübt. Und das darf die Politik nicht tun.
Geuther: Das war jetzt ein Fall, in dem konkret in einem bestimmten Verfahren kritisiert wurde. Wie sieht es denn sonst aus – eben zum Beispiel der Ruf nach härteren Strafen an die Richterschaft, oder: Weniger Bewährungsstrafen, schnellere Urteile?
Hirsch: Der Ruf sollte weniger an die Richterschaft gehen. Wenn, dann sollte man rechtspolitisch tätig werden. Es gibt eine Initiative von Brandenburg, die in der Tat bei Körperverletzungsdelikten oder sonstigen Delikten die niedrigen Beweggründe ausdrücklich zum Anlass eines qualifizierten schärferen Straftatbestandes machen will. Das ist richtig, das ist legitim, das ist die Rechtspolitik. Aber in die Gerichte hinein zu versuchen, auch durch abstrakte Äußerungen - zum Beispiel weniger Bewährung zu geben -, das ist Sache des Richters zu entscheiden, ob dies ein Fall ist, der die Bewährung zulässt oder nicht. Die Politik sollte wirklich sensibel sein, wenn sie Hinweise, Empfehlungen, Ratschläge an die Justiz gibt. Ich verkenne nicht, dass das für die Politik vielleicht legitim sein mag. Die Justiz steht auch in dem gesellschaftlichen Feld und muss sich Kritik natürlich gefallen lassen – nach einem Urteil muss sie sich Kritik gefallen lassen. Was schwierig ist: Wenn sozusagen für die Zukunft von der Justiz etwas erwartet wird, wenn dem Ausdruck gegeben wird von hoher politischer Seite – wenn also auf zukünftiges Verhalten der Justiz Einfluss genommen werden soll, dann ist die kritische Grenze überschritten.
Geuther: Glauben Sie denn, in diesen Bereichen Rechtsradikalismus sind Richter im Moment frei von solchem Druck?
Hirsch: Nein, überhaupt nicht. Richter lesen natürlich die Zeitungen, oder – wie ich auch – Richter sind genau so erschüttert, wenn sie lesen, dass am deutschen Nationalfeiertag Brandsätze gegen eine Synagoge fallen. Richter sind zornig, Richter sind empört. Und natürlich wirkt sich das auf ihre tägliche Arbeit aus. Aber das ist ja auch nicht zu beanstanden. Der Richter sitzt nicht im Elfenbeinturm. Er ist Teil dieser Gesellschaft, und seine Justiz und seine Urteile sind Teil auch der Reaktion der Gesellschaft auf diese Sachverhalte. Und das ist richtig so.
Geuther: Ein anderes Problem, in dem auch die Wellen hochgegangen sind: Das Jubiläum des Bundesgerichtshofs fällt zusammen mit dem großen Jahrestag dieser Woche – zu zehn Jahren deutsche Einheit. Für die Strafgerichte sind das vor allem zehn Jahre mit dem Versuch, das Erbe des DDR-Unrechts aufzuarbeiten – auf der einen Seite mit hohen Erwartungen, die sie zu erfüllen hatten, auf der anderen Seite wurde immer wieder kritisiert, mit den Mitteln des Rechts könne man Geschichte ohnehin nicht bewältigen. Was wäre denn Ihr Fazit der strafrechtlichen Rechtsprechung?
Hirsch: Also, das ist hier richtig, dass man mit den Mitteln des Rechts keine historischen Prozesse bewältigen kann. Aber gleichwohl ist es eine Aufgabe insbesondere der Strafjustiz, nach den gegebenen Straftatbeständen auch Unrecht zu beurteilen, das in dem anderen System – sei es durch Bürger, sei es durch Politiker, sei es durch Richter – geschehen ist. Und ich glaube, da gab es in der deutschen Justiz Defizite nach dem Ende des Dritten Reiches, insbesondere bei der Aufarbeitung von Justizunrecht, das damals passiert ist. Sie wissen ja, dass kein deutscher Richter aus der Zeit des Nationalsozialismus anschließend wegen seiner Tätigkeit im Rahmen dieses Unrechts-Justizsystems verurteilt wurde. Das heißt, das Richterprivileg, das eben verbietet, dass man nachträglich nachforscht, ob ein Urteil korrekt war oder nicht, wurde sehr weit ausgelegt. Und das wirkte sich breit zum Schutz der Richter des Naziregimes aus. Jetzt nach dem Ende der DDR war das ganz anders. Das wurde ja zum Teil der Justiz auch vorgeworfen, dass sie jetzt anders reagiert hat, als sie früher reagiert hat nach dem Ende des Dritten Reiches. Das ist richtig, dass die Justiz anders reagiert hat. Sie hat vielleicht auch gelernt inzwischen. Um auf Ihre konkrete Frage zu kommen: Wie ich meine, die wirklich korrekte Reaktion der Strafjustiz auf DDR-Unrecht zeigt sich darin, dass man nicht etwa nach dem Motto ‚die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen‘ vorgegangen ist. Wenn Sie die Mauerschützen-Prozesse nehmen – da wurden verurteilt die DDR-Grenzschützer, die auf unbewaffnete Flüchtlinge geschossen haben, aber genau so wurden verurteilt die Mitglieder des Politbüros, die diese Befehle gegeben haben, die diese Straftaten initiiert haben. Das heißt, hier hat die Justiz wirklich ohne Ansehen der Person einfach strafrechtliches Unrecht geahndet.
Geuther: Jetzt, zehn Jahre nach der Vereinigung – haben Sie denn das Gefühl, dass die Politik die Rolle der Justiz hier noch mitträgt? Günter Schabowski und Günther Kleiber sind kürzlich begnadigt worden. Mir ist kein Fall bekannt, dass das so früh nach einer Verurteilung geschehen wäre. Wird das Recht hier als unbequem empfunden?
Hirsch: Ich glaube das nicht. Wissen Sie, die Aufarbeitung des DDR-Unrechts weist wirklich besondere Schwierigkeiten auf. Sie hatten ein Unrechtssystem, das alle Lebensbereiche geprägt hat. Das heißt, viele Menschen in der DDR, die nach unseren Maßstäben straffällig geworden sind, hatten sich dort ja konform verhalten – rechtskonform, gesellschaftlich konform verhalten. Das Unrechtsbewusstsein war ein anderes. Sie hatten ein staatliches Unrechtssystem, sie hatten Gesetze, die per se Unrecht waren. Und es ist doch etwas anderes, wenn Sie jemanden verurteilen, der sich in seinem System an geltende Regeln gehalten hat, die eben nach unserem System nicht akzeptabel und schweres Unrecht waren, oder ob jemand auch psychisch eigene Regeln bricht, die in seinem System gelten. Man korrigiert ja nicht die Justiz durch Gnadenentscheidungen. Wissen Sie, ein Rechtsphilosoph sagte einmal: ‚Die Gnadenentscheidung – das ist der Blitz, der die Düsternis des Rechtshimmels erhellt‘. Ich bin ein Befürworter des Gnadenrechts. Die Gnade richtet sich nach völlig anderen Maßstäben als das Urteil. Die Gnade ist im bestimmten Sinne etwas ganz Individuelles, vielleicht etwas Willkürliches. Das ist ein Geschenk. Dass man bei verurteilten Straftätern der Ex-DDR, insbesondere soweit sie im politischen Bereich tätig waren, nach diesem Zeichen der strafrechtlichen Verurteilung jetzt Gnade walten lässt, dafür habe ich viel Verständnis.
Geuther: Christoph Schaefgen, der Chefankläger für diese Fälle, hat darauf hingewiesen, dass für die Begnadigung gerade Gründe angegeben wurden, die auch schon bei der Strafzumessung eine Rolle gespielt hatten, insbesondere die Reue der Täter.
Hirsch: Also, ich sehe überhaupt kein Problem mit der Gewaltenteilung, solange die Gnade ihre ursprüngliche Bedeutung behält. Zu begnadigen – das war das Privileg des obersten Souverän. Das hat nichts mit der Justiz zu tun. Nicht die Justiz, nicht die Gerichte sollten begnadigen, sondern der Souverän, der dann auch in unserer Gesellschaft natürlich verantwortlich ist dem Parlament und dem Gesetzgeber. Das ist eine seiner letzten Vorrechte, die er hat. Darum war ich immer etwas skeptisch, dieses Gnadenrecht zu sehr zu verrechtlichen – sozusagen dann Klagemöglichkeiten vorzusehen, wenn jemand nicht begnadigt wird. Die Gnade sollte außerhalb der Rechtsprechung stehen. Da war sie angesiedelt, da soll sie bleiben. Und dann soll sie aber auch nicht beurteilt werden nach Maßstäben, die im System der Rechtsprechung gelten. Sie richtet sich nach anderen Maßstäben, und das sollte von der Idee her auch so bleiben.
Geuther: Sie sind vom Europäischen Gerichtshof an den Bundesgerichtshof gekommen, Herr Professor Hirsch. Da gibt es ja ein ganz eigenes Problem der Einflussmöglichkeiten der Exekutive, nämlich bei der Berufung selbst. Im innerstaatlichen Bereich ist das ja immer noch ausschließlich eine Sache der Regierung, während für die Bundesrichter und Bundesverfassungsrichter Ausschüsse zuständig sind – mit Beteiligung auch des Parlaments. Kann man das noch rechtfertigen auf europäischer Ebene?
Hirsch: Das ist ein delikates Problem. Ich habe gestern mit meinem holländischen Kollegen gesprochen – auch über dieses Problem. Und er sagte mir etwa: In Holland stand jetzt an die Benennung eines neuen Richters beim Europäischen Gerichtshof. Man hat ein Gremium gebildet, bestehend aus – ich glaube – den beiden Präsidenten der obersten Gerichte, aus einem ehemaligen holländischen Richter beim EuGH und einem Vertreter des Parlaments. Und der Vorschlag dieses Gremiums war quasi verbindlich für die Regierung für die Benennung eines neuen Richters. Das heißt, das ist ein ganz transparentes Verfahren unter der Mitwirkung der Kompetenz der Richterschaft, aber auch der politischen Verantwortlichen. Ich finde dieses System phantastisch. In Deutschland ist es seit je her so, dass dies ein Vorrecht, eine Prärogative, der Bundesregierung ist, die dabei natürlich auch – das ist legitim – die politischen Rahmenbedingungen mit einbezieht, etwa - wie sieht die Zusammensetzung in der Kommission aus, welche anderen hohen europäischen Posten sind wie besetzt aus deutscher Sicht. All dies wird mit einbezogen in die Überlegung. Das ist ein anderes System. Ich selbst – da mach ich kein Hehl draus – würde mir mehr Transparenz und auch die Mitwirkung etwa parlamentarischer und richterlicher Kompetenz bei der Meinungsbildung der Bundesregierung wünschen.
Geuther: Der Entwurf zur europäischen Grundrechtscharta ist gerade abgeschlossen, gerade hat der Konvent ihn den Regierungen übergeben. Auch hier gibt es ja Befürchtungen, der Europäische Gerichtshof könnte dadurch mehr Macht bekommen, obwohl ja an sich die Charta nur die Rechte der Bürger gegenüber der EU stärken soll. Können Sie das verstehen?
Hirsch: Ich kann das schon verstehen. Ich meine, einerseits rein rechtsdogmatisch wird ja mit dieser Charta eigentlich nur kodifiziert, was aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ja schon besteht. Es gibt ja schon europäische Grundrechte, die werden nicht neu geschaffen - neu erfunden -, sondern die werden jetzt niedergeschrieben und konkretisiert. In der Tat besteht natürlich die Befürchtung, dass die Gemeinschaft – wenn jetzt ein Grundrechtskatalog besteht – hieraus neu Kompetenzen zieht, indem etwa die Gemeinschaft sagt: ‚Jetzt haben wir Grundrechte, wir müssen die Grundrechte schützen – aber auch aus diesen Grundrechten Maßnahmen der Fürsorge zugunsten der Bürger herleiten; wir wollen tätig werden‘. Und wenn man tätig werden will, dann sucht und findet man eine Kompetenz. Das heißt, man fürchtet, dass die Grundrechte dazu führen, dass die Gemeinschaft neue Kompetenzen sucht und findet und an sich zieht. Diesen Befürchtungen soll mit der Grundrechtscharta selbst begegnet werden. Es gibt ja einen Artikel am Ende der Charta, der ausdrücklich feststellt: Mit dieser Charta bekommt die Gemeinschaft keine neuen Gesetzgebungskompetenzen. Sicher ist es aber richtig, dass der Europäische Gerichtshof in Zukunft noch deutlicher vielleicht als bisher Maßnahmen der Gemeinschaft messen wird an den Grundrechten, so dass sich die Systematik schon ein bisschen verschieben wird durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Aber es werden keine neuen harten Kompetenzen begründet für die Gemeinschaft.
Geuther: Also tatsächlich in erster Linie Grundrechte für die Bürger. Sind Sie denn - vor dem Hintergrund - mit dem Verfahren einverstanden?
Hirsch: Da habe ich so ein bisschen Probleme, und zwar – dies will ich ganz deutlich machen – vom Grundansatz her. Ich meine, Grundrechte, das sollen Rechte sein, mit denen die Bürger den Gesetzgeber in seine Schranken weisen. Die sollen ausgehen vom Bürger. Es ist der Bürger, der dem Gesetzgeber, der der Hoheitsgewalt mit den Grundrechten sagt: ‚Hier sind Deine Schranken, hier beginnen meine unverletzlichen Rechte‘. Nach dem jetzigen Verfahren sollen aber die Grundrechte sozusagen von den Autoritäten dem Bürger als Geschenk gegeben werden. Das ist kein Geschenk, das ein Europäischer Rat oder ein Europäisches Parlament oder wer auch immer den Bürgern macht, sondern diese Grundrechte – das ist etwas, was die Bürger der Hoheitsgewalt als Grenze vorsetzen. Und darum meine ich, wäre die Grundrechtscharta ein würdiger Anlass, um ein Referendum in allen europäischen Ländern durchzuführen, um zu sagen: Die Bürger sollen entscheiden, ob sie diese Charta als ihre unverletzlichen Rechte jetzt implantieren in das Gemeinschaftsrecht. Ich plädiere für eine Befragung der Bürger, für ein Referendum, für einen Volksentscheid in allen Mitgliedsstaaten über diese Charta der Grundrechte.
Geuther: Das ist ja ein Verfahren, das man in Deutschland sonst auf Bundesebene der Verfassung nach gar nicht hat. Würden Sie da auch Änderungen vorschlagen, oder ist das etwas, was Sie jetzt nur auf die europäische Ebene beschränken wollen?
Hirsch: Wissen Sie, da sehe ich eigentlich keine Probleme. Wenn man die Grundrechte in den Vertrag integriert und damit eben zu harten subjektiven Grundrechten machen will, dann bräuchte man doch meines Erachtens nur eine zusätzliche Klausel in den Vertrag hineinschreiben, dass diese Grundrechtscharta in Kraft tritt, wenn sie von der Mehrheit der europäischen Bürger bejaht wird. Dann wäre dieser Auftrag eines Referendums kraft Gemeinschaftsrecht - kraft Europarecht - verankert. Das Gemeinschaftsrecht aber geht nationalem Recht vor. Das heißt, auch wenn nationale Verfassungen - wie etwa die deutsche - das nicht vorsehen, wäre für diesen spezifischen Fall das höherrangige Gemeinschaftsrecht maßgebend, das eben ein Referendum voraussetzt für das Inkrafttreten dieser Charta. Das könnte meines Erachtens ein gangbarer Weg sein. Ob man das jetzt aus politischen Gründen will, ob man das mit der jetzigen Integrationsstruktur der Gemeinschaft als vereinbar ansieht, oder ob man vielleicht sagt: ‚Ja, dadurch würde die Gemeinschaft ja noch stärker zu einem souveränen Staat hin sich entwickeln‘ – und das will man nicht –, das sind letztendlich politische Entscheidungen, die natürlich zu respektieren sind. Ich würde nur argumentieren: Aus dem Grundansatz einer Grundrechtscharta her läge es sehr, sehr nahe, ein Referendum vorzusehen.
Geuther: Kommen wir zu einem gesetzgeberischen Projekt, das zeitlich und dem BGH sehr viel näher ist. Es steht ja konkret eine Reform zur Umgestaltung des Zivilprozesses an - nach den Plänen von Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin. Unter Ihrem Vorgänger Karlmann Geiß hat sich der BGH insgesamt klar für die Reform ausgesprochen. Sie haben sich bisher bedeckt gehalten und sind nun drei Monate aus dem Ausland wieder da. Haben Sie jetzt eine Position dazu?
Hirsch: Ja, ich hatte mich bisher in der Tat nicht geäußert, weil ich mich erst wirklich sachkundig machen wollte. Inzwischen gibt es ja eine Fülle von Stellungnahmen. Ich möchte mich beschränken auf den Bereich der Revisionen, der den Bundesgerichtshof betrifft, für den wir ja auch zuständig sind. Ich halte persönlich diesen Paradigmenwechsel, der jetzt vorgeschlagen wird in der Revision, für richtig. Er sieht ja so aus, dass man nicht mehr anknüpfen will an eine bestimmte Streitwertsumme – 60.000 Mark, vielleicht irgendwann 100.000 Mark –, um den Zugang zum BGH zu eröffnen, sondern ein völlig anderes System, das den Zugang auch bei kleinsten Streitwerten eröffnet, wenn die Sache, die Rechtsfrage, grundsätzliche Bedeutung hat. Diesen Wechsel halte ich im Prinzip für gut.
Geuther: Es gibt vor allem von Seiten der Anwaltschaft am BGH Befürchtungen, es könnte dem Bundesgerichtshof das Anschauungsmaterial fehlen, es könnte insgesamt ein trockeneres Gericht werden. Glauben Sie, die Arbeit am Bundesgerichtshof wird sich verändern?
Hirsch: Also, den Einwand verstehe ich ehrlich gesagt nicht ganz. In Zukunft wird es ja möglich sein, ohne Rücksicht auf den Streitwert, also auch materiell kleine Streitigkeiten zum BGH zu bringen. Bisher war es so, dass das Feld bis zu 60.000 Mark völlig versperrt war – oder weitgehend, für den Bundesgerichtshof, nicht völlig. Also ich glaube, das Anschauungsmaterial wird sich eher verbreitern. Man muss abwarten, in welchem Umfang sich das denn einspielen wird, dass man sagt: ‚Das hat grundsätzliche Bedeutung, das bedarf einer Grundsatzentscheidung des BGH – oder nicht‘. Also, ich habe diese Befürchtung, dass der BGH dadurch sozusagen ausgetrocknet wird, eigentlich nicht.