Friedbert Meurer: Die Plakate sind rot, damit sie auffallen, dazu ein Foto des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, Unterschriftszug: "Spät, aber nicht zu spät". Seit einigen Tagen sind diese Plakate in den großen deutschen Städten zu sehen. Es handelt sich quasi um Fahndungsplakate. Mit ihnen sucht das Simon-Wiesenthal-Zentrum die letzten noch lebenden Kriegsverbrecher. Alle Bürger sind aufgerufen, mutmaßliche Nazi-Verbrecher zu melden, die noch unerkannt unter uns leben. Es winkt auch eine Belohnung von bis zu 25.000 Euro. Deswegen hält der Historiker Michael Wolffsohn die ganze Aktion für ziemlich pietätlos. Mein Kollege Rainer Brandes hat gestern den Historiker Norbert Frei von der Universität Jena gefragt, ob er die Belohnung von 25.000 Euro auch für unmoralisch hält.
Norbert Frei: Was soll daran unmoralisch sein? Ob es angemessen und sinnvoll ist, ist die ganz andere Frage. Aber letzten Endes geht es ja darum, öffentlich Aufmerksamkeit zu erzielen, und das ist offensichtlich mit dieser Plakataktion gelungen. Das sieht man ja auch schon daran, dass wir uns jetzt darüber unterhalten.
Rainer Brandes: Wenn man sich die genauen Konditionen anschaut, die das Wiesenthal-Zentrum dort anlegt, dann staffeln die diese Belohnung. Es gibt 5000 Euro für die Anklageerhebung, weitere 5000 für eine Verurteilung und dann noch mal 100 Euro pro Tag Haft für die ersten 150 Tage im Gefängnis, maximal 25.000 Euro. Ist denn so eine Aufrechnung nach Hafttagen, nach Verurteilung pietätlos?
Frei: Das weiß ich nicht, ob es pietätlos ist, aber es ist mit Sicherheit eher kurios und wird sicherlich diejenigen, die glauben, dass sie Hinweise geben können, nicht motivieren oder demotivieren. Mit anderen Worten: Ich schätze eigentlich an der ganzen Aktion die Sache selbst für das Wichtige ein und nicht die Modalitäten, und Tatsache ist nun mal, dass in der Tat – das haben Sie ja auch in dem Beitrag schon herausgearbeitet -, dass durch das Demjanjuk-Urteil die Möglichkeiten der Anklage und auch der wirksamen Prozessführung sich verändert haben.
Brandes: Wie wahrscheinlich ist es denn, dass sich jetzt Leute melden und sagen werden, stimmt, bei mir in der Nachbarschaft, da wohnt seit Jahrzehnten so ein alter Nazi-Verbrecher und den melde ich jetzt mal?
Frei: Dazu kann ich gar nichts sagen. Ich bin Historiker, ich bin kein Staatsanwalt, ich weiß nicht, welche Erfahrungen man mit solchen Anzeigen bisher schon gemacht hat. Da müssen Sie wirklich eher Juristen und Ermittler fragen.
Brandes: Dann sprechen wir mal über die mutmaßlichen Verbrecher, um die es da geht. Wie viele von denen leben schätzungsweise denn noch unter uns?
Frei: Na ja, wenn man sich vorstellt – und das hat ja auch Herr Suroff gesagt, dass es um das Wachpersonal und die Helfer in den Vernichtungslagern geht, und man etwa weiß, dass allein in Majdanek etwa 1200 solche Mitarbeiter tätig waren, dann kann man das hochrechnen und dann kommt man doch auf Zehntausende-Zahlen insgesamt. Und nun kann man die einfache Rechnung anstellen, wenn jemand in der Schlussphase des Krieges noch zum Täter geworden ist und dann vielleicht unter den ganz jungen war, sagen wir 18, dann muss er jetzt mindestens 86 Jahre alt sein. Das bedeutet, es wird vermutlich nur noch eine sehr kleine Zahl von Tätern sein. Andererseits haben wir vor einigen Wochen oder Monaten gehört, dass die zentrale Stelle in Ludwigsburg 50 Angehörige des Wachpersonals von Auschwitz-Birkenau, also des dortigen Vernichtungslagers, ausfindig gemacht hat. Mit anderen Worten: Es gibt diese vermeintlich kleinen Täter, die aber Teil dieser Maschinerie der Endlösung gewesen sind.
Brandes: Warum laufen die denn immer noch frei herum, 70 Jahre nach den Taten?
Frei: Weil die Rechtsprechung in den 50er-, 60er-, 70er- und 80er-Jahren im Grunde genommen letztlich bis zum Prozess gegen Demjanjuk eine andere Position eingenommen hat und hier nicht von einer Beihilfe zum Mord ausgegangen ist, weil man hier keinen eigenen Tatwillen bei diesen Menschen unterstellt hat. Erst diese neue Rechtsprechung macht es jetzt sinnvoll, Anklage zu erheben.
Brandes: Was bringen denn Prozesse wie zum Beispiel der gegen John Demjanjuk jetzt, 70 Jahre nach den Taten, Prozesse gegen Menschen, die über 90 Jahre alt sind? Was bringt das heute noch?
Frei: Es bringt vor allem, wie man im Demjanjuk-Prozess gesehen hat, Erkenntnisse für die Öffentlichkeit. Das Thema Sobibor, das Vernichtungslager der Aktion Reinhardt, war bis dahin in der breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt, kaum diskutiert. Es ist darüber doch auch so etwas wie historische Aufklärung vorangetrieben worden. Und es geht bei einer Schuldzumessung letztlich nicht um die Frage, ob dieses Urteil dann auch noch ausgeführt werden kann, sondern es geht – das ist jedenfalls die Perspektive der vielen Nebenkläger, die im Demjanjuk-Prozess eine Rolle gespielt haben – darum, den Opfern nachträglich noch Gerechtigkeit zu verschaffen.
Brandes: Das heißt, es geht bei solchen Anklagen und auch dieser Aktion des Simon-Wiesenthal-Zentrums auch um ein Stück Erinnerungskultur?
Frei: Es geht sicherlich auch um Erinnerungen, aber ich glaube, solange es Überlebende oder Nachkommen von Überlebenden gibt, die argumentieren, dass sie eine Sühne für das Leid erwarten, und es vermutet werden kann, dass es ungesühntes Leid gibt, solange, glaube ich, darf die Justiz nicht ruhen, zumal doch ganz klar gilt, Mord ist unverjährbar.
Meurer: Rainer Brandes sprach mit dem Historiker Norbert Frei über die NS-Fahndungsaktion des Simon-Wiesenthal-Zentrums.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Norbert Frei: Was soll daran unmoralisch sein? Ob es angemessen und sinnvoll ist, ist die ganz andere Frage. Aber letzten Endes geht es ja darum, öffentlich Aufmerksamkeit zu erzielen, und das ist offensichtlich mit dieser Plakataktion gelungen. Das sieht man ja auch schon daran, dass wir uns jetzt darüber unterhalten.
Rainer Brandes: Wenn man sich die genauen Konditionen anschaut, die das Wiesenthal-Zentrum dort anlegt, dann staffeln die diese Belohnung. Es gibt 5000 Euro für die Anklageerhebung, weitere 5000 für eine Verurteilung und dann noch mal 100 Euro pro Tag Haft für die ersten 150 Tage im Gefängnis, maximal 25.000 Euro. Ist denn so eine Aufrechnung nach Hafttagen, nach Verurteilung pietätlos?
Frei: Das weiß ich nicht, ob es pietätlos ist, aber es ist mit Sicherheit eher kurios und wird sicherlich diejenigen, die glauben, dass sie Hinweise geben können, nicht motivieren oder demotivieren. Mit anderen Worten: Ich schätze eigentlich an der ganzen Aktion die Sache selbst für das Wichtige ein und nicht die Modalitäten, und Tatsache ist nun mal, dass in der Tat – das haben Sie ja auch in dem Beitrag schon herausgearbeitet -, dass durch das Demjanjuk-Urteil die Möglichkeiten der Anklage und auch der wirksamen Prozessführung sich verändert haben.
Brandes: Wie wahrscheinlich ist es denn, dass sich jetzt Leute melden und sagen werden, stimmt, bei mir in der Nachbarschaft, da wohnt seit Jahrzehnten so ein alter Nazi-Verbrecher und den melde ich jetzt mal?
Frei: Dazu kann ich gar nichts sagen. Ich bin Historiker, ich bin kein Staatsanwalt, ich weiß nicht, welche Erfahrungen man mit solchen Anzeigen bisher schon gemacht hat. Da müssen Sie wirklich eher Juristen und Ermittler fragen.
Brandes: Dann sprechen wir mal über die mutmaßlichen Verbrecher, um die es da geht. Wie viele von denen leben schätzungsweise denn noch unter uns?
Frei: Na ja, wenn man sich vorstellt – und das hat ja auch Herr Suroff gesagt, dass es um das Wachpersonal und die Helfer in den Vernichtungslagern geht, und man etwa weiß, dass allein in Majdanek etwa 1200 solche Mitarbeiter tätig waren, dann kann man das hochrechnen und dann kommt man doch auf Zehntausende-Zahlen insgesamt. Und nun kann man die einfache Rechnung anstellen, wenn jemand in der Schlussphase des Krieges noch zum Täter geworden ist und dann vielleicht unter den ganz jungen war, sagen wir 18, dann muss er jetzt mindestens 86 Jahre alt sein. Das bedeutet, es wird vermutlich nur noch eine sehr kleine Zahl von Tätern sein. Andererseits haben wir vor einigen Wochen oder Monaten gehört, dass die zentrale Stelle in Ludwigsburg 50 Angehörige des Wachpersonals von Auschwitz-Birkenau, also des dortigen Vernichtungslagers, ausfindig gemacht hat. Mit anderen Worten: Es gibt diese vermeintlich kleinen Täter, die aber Teil dieser Maschinerie der Endlösung gewesen sind.
Brandes: Warum laufen die denn immer noch frei herum, 70 Jahre nach den Taten?
Frei: Weil die Rechtsprechung in den 50er-, 60er-, 70er- und 80er-Jahren im Grunde genommen letztlich bis zum Prozess gegen Demjanjuk eine andere Position eingenommen hat und hier nicht von einer Beihilfe zum Mord ausgegangen ist, weil man hier keinen eigenen Tatwillen bei diesen Menschen unterstellt hat. Erst diese neue Rechtsprechung macht es jetzt sinnvoll, Anklage zu erheben.
Brandes: Was bringen denn Prozesse wie zum Beispiel der gegen John Demjanjuk jetzt, 70 Jahre nach den Taten, Prozesse gegen Menschen, die über 90 Jahre alt sind? Was bringt das heute noch?
Frei: Es bringt vor allem, wie man im Demjanjuk-Prozess gesehen hat, Erkenntnisse für die Öffentlichkeit. Das Thema Sobibor, das Vernichtungslager der Aktion Reinhardt, war bis dahin in der breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt, kaum diskutiert. Es ist darüber doch auch so etwas wie historische Aufklärung vorangetrieben worden. Und es geht bei einer Schuldzumessung letztlich nicht um die Frage, ob dieses Urteil dann auch noch ausgeführt werden kann, sondern es geht – das ist jedenfalls die Perspektive der vielen Nebenkläger, die im Demjanjuk-Prozess eine Rolle gespielt haben – darum, den Opfern nachträglich noch Gerechtigkeit zu verschaffen.
Brandes: Das heißt, es geht bei solchen Anklagen und auch dieser Aktion des Simon-Wiesenthal-Zentrums auch um ein Stück Erinnerungskultur?
Frei: Es geht sicherlich auch um Erinnerungen, aber ich glaube, solange es Überlebende oder Nachkommen von Überlebenden gibt, die argumentieren, dass sie eine Sühne für das Leid erwarten, und es vermutet werden kann, dass es ungesühntes Leid gibt, solange, glaube ich, darf die Justiz nicht ruhen, zumal doch ganz klar gilt, Mord ist unverjährbar.
Meurer: Rainer Brandes sprach mit dem Historiker Norbert Frei über die NS-Fahndungsaktion des Simon-Wiesenthal-Zentrums.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


