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Historiker hält deutsche Opfer-Debatte für Geschichtsklitterung

Köhler: Angeregt durch die Literatur gibt es so etwas wie einen neuen Opferdiskurs im deutschen Geschichtsbewusstsein. Er firmiert unter dem Begriff "Selbstversöhnung". Gemeint ist damit das Recht auf angemessene öffentliche Würdigung der deutschen Opfer während der NS-Diktatur. Gut in Erinnerung sind die Diskussionen um das angemessene Gedenken etwa für die Opfer von Krieg und Gewalt in der Neuen Wache, Berlin. Die vergrößerte Käthe-Kollwitz-Plastik der trauernden Mutter mit totem Sohn eröffnete für viele dieses neue Selbstbewusstsein.

Moderation: Michael Köhler | 30.05.2004
    Mit dem Mittelalterhistoriker Achatz von Müller von der Universität Basel möchte ich über das Entstehen und die Bedeutung dieses Opferdiskurses sprechen. Am Ende eines großen Artikels im vergangenen Herbst schrieben Sie selber, niemand bezweifelt eine deutsche Leidenserfahrung. Sie dürfe und solle aber nicht zum Opfer stilisiert werden. Warum?

    Von Müller: Ich denke, es geht wirklich darum, dass bei diesem ausgesprochen intensiven Inszenierungspotential, das diese Opferdebatte bekommen hat, so getan wird, als hätte es nie eine deutsche Leidensdebatte nach 1945 gegeben und als entdecke man erst jetzt überhaupt die deutschen Opfer und dürfe über sie sprechen. Meine Stoßrichtung richtet sich in der Tat gegen diese Pointierung, das heißt eigentlich gegen die darin liegende Geschichtsklitterung des deutschen Nachkriegsbewusstseins, das intensiv von Leiderfahrung, Bombenwahrnehmung, Flüchtlingswahrnehmung, Vertriebenenfesten und Tagen, auch durchaus Trauertage - gar keine Frage - geprägt ist.

    Jetzt nun aber, heißt es, müssen die deutschen Opfer wahrgenommen werden. Ich denke, in dieser sozusagen Dimension des Begriffes Opfer liegt tatsächlich eine auch gemeinte Differenz gegenüber der Leidensgeschichte und damit der Versuch, die deutschen Opfer gleichsam als Gleichnis gegenüber den Opfern der anderen zu stellen.

    Ich spreche vorsichtshalber nicht von Aufrechnung. Wenn man genau hinguckt, wäre das wirklich schwierig und ungerecht, aber doch als Gleichnis der Opfer der anderen die Opfer der Deutschen - ich spreche von Europa - zu verstehen und damit sozusagen zumindest einen neuen Diskurs über Egalität der Leidenserfahrung zu bewegen.

    Köhler: Wir müssen, glaube ich, diesen Begriff etwas stärker machen, damit das nicht missverstanden werden kann, was Sie damit meinen, Differenz zur Leidensgeschichte. Das Jahr 1945 steht aus deutscher Sicht heute auch für Niederlage, Kriegsende, Bombenkrieg, Flucht, Vertreibung, Gefangenschaft. Das letzte halbe Jahrhundert beherrschte die Diskussion um Kriegsschuld, historische Aufarbeitung. Ist es dann nicht doch Zeit für das, was man Selbstversöhnung nennt.

    Von Müller: Also gut, ich haben diesen Begriff, "Deutschland auf dem Weg zur Selbstversöhnung", gleichsam selbst präpariert und ihn zugleich kritisiert. Ich glaube eben nicht, dass es wirklich der Zeitpunkt ist, an dem man die Selbstfindung suchen soll. Ich glaube auch nicht, dass es überhaupt jemals einen Zeitpunkt geben wird. Die Täterschaft bleibt eingebahnt. Dennoch erhebt sich für die Deutschen immer wieder die Frage - und diese Frage ist seit 1949 in der deutschen Geschichte virulent.

    Köhler: Wer von der Selbstversöhnung spricht, der relativiert ja noch nichts, der relativiert ja keine Schuldfrage, sondern der sagt lediglich, da gibt es auch noch mehr, und wir müssen auch mit uns mal ins Reine kommen und darüber sprechen.

    Von Müller: Die Selbstversöhnung, die ich kritisiere, ist nicht sozusagen jetzt ein anderer Blick auf die deutsche Leidensgeschichte und die Anerkennung der Leidensgeschichte als Teil der Tätergeschichte. Das meine ich nicht. Das wäre in der Tat Selbstversöhnung in dem Sinne, wie Sie es meinen. Ich glaube, es geht in dem Sinne, in dem hier diese Opfer inszeniert werden, um eine Selbstversöhnung im Sinne einer Normalisierung. Das heißt, die Deutschen sind eben im 20. Jahrhundert so normal wie alle anderen Opfer der Geschichte, und diese Eskamutierung, also das Herausdrücken gleichsam der Täter, wobei dann immer noch die Frage ist, wer wären denn eigentlich die Täter gegenüber den deutschen Opfern, ist das eigentlich Interessante an diesem Diskurs.

    Darüber habe ich einfach nur nachgedacht und überlege immer noch, was hier eigentlich geschieht. In welcher Weise versucht eigentlich dieses deutsche Selbstbewusstsein mit sich selbst ins Reine zu kommen und ein Stück seiner Täterschaft - und ich spreche nicht von Tätervolk; dieses war gleichsam eine Art von Ironie, die ich in diesem Artikel positioniert habe - in den Hintergrund zu stellen und eine gemeinsame europäische Opfergeschichte zu inszenieren und damit den Eintritt in eine eigentlich nebulöse Geschichte von Daueropfern auf allen europäischen Seiten zu präsentieren.

    Köhler: Ihr Blick ist ja ein politischer Geschichtsbewusstseinsblick, wenn ich das richtig verstanden habe. Was ist dann, sagen wir mal, die Funktion dieser Debatte? Eine deutsche Opferinszenierung, wie Sie darüber sprechen, hat ja auch sozusagen einen innenpolitischen Wert, einen Versöhnungswert quasi, einen Besänftigungswert, oder wie würden Sie das ausdrücken?

    Von Müller: Ja, es geht natürlich auch um deutsche Identität und die Frage, in welcher Weise man Identität wiedergewinnen kann. Ich erinnere daran, dass immer wieder etwa von Schäuble, also dem CDU-Politiker Schäuble die deutsche Schicksalsgemeinschaft beschworen wurde und zu gleicher Zeit in eine europäische Schicksalsgemeinschaft überführt wurde. Das versteht sich in einer Tradition, die in den fünfziger Jahren schon mit dem Abendlandsbegriff so etwas wie eine europäische Schicksalhaftigkeit beschwören wollte.

    Es geht also um eine Identität, die einerseits national brauchbar und zu gleicher Zeit aber auch europäisch kollektivierbar ist. In dem Sinne muss man als Opfer auch die eigene Leidensgeschichte des 20. Jahrhunderts anerkannt bekommen, um tatsächlich eben eine Art von Gleichwertigkeit des Identitätsstatus der Deutschen gegenüber den anderen zu gewinnen und damit auch tatsächlich in diesem europäischen Diskurs einigermaßen auf gleicher Ebene wahrgenommen zu werden.

    Das ist auch letztlich, könnte man sagen, funktional vernünftig, aber den Versuch zu machen, die eigene Geschichte des 20. Jahrhunderts dabei zu instrumentalisieren und sie eigentlich zu klittern, ist für meine Begriffe problematisch und schafft am Ende Unausgewogenheiten, die man bitter bereuen würde.

    Köhler: Ich würde gerne in einer Schusskurve den Mittelalterhistoriker in Ihnen ansprechen und Sie fragen, ob es nicht da vielleicht so etwas wie reinigende Wirkungen gibt, die ganz sinnvoll sind. Ob Hungersnot, Pest oder Dreißigjähriger Krieg - das Trauern nach Massensterben ist ja genauso wichtig wie die Klärung, sagen wir mal, von politischen Territorialfragen, Schuldfragen oder Reparationsfragen. Welche Rolle nimmt da diese Debatte um die Versöhnung ein?

    Von Müller: Ich habe eben den eigentlich fürchterlichen Eindruck, dass es nicht um Wiedergewinnung der Trauerfähigkeit geht - also eine Gegenbewegung zur Diagnose der Unfähigkeit zu trauern Mitte der sechziger Jahre -, sondern dass es im Gegenteil eher darum geht, diese Leidensgeschichte als Mediengeschichte zu inszenieren und dabei Emotionen der Betroffenheit zu wecken, die aber keine wirkliche Trauer, sondern gleichsam die Vorstellung provozieren könnten, jetzt muss aber doch irgendwann mal wieder Schluss sein. Das ist ja ein berühmter deutscher Satz, der schon 1949 bekanntlich seine Entstehung hatte.

    Ich denke, die Analogisierung zu dem, was als Liturgie oder als Ritual in der vormodernen Geschichte von Ihnen angesprochen worden ist, ist hier gar nicht gemeint. Medialisierung solcher kollektiver Emotionen lässt sich nicht mit wirklichen gleichsam liturgischen Emotionen parallelisieren. Da sind eigentlich die Volkstrauertage der fünfziger Jahre echter als dieses, was jetzt geschieht.

    Köhler: Aber eine Diskussion, sagen wir mal, um das Vertriebenenzentrum wird doch davon nicht beeinträchtigt. Wir haben in dieser Diskussion, dass auch jemand, der integer ist wie Peter Glotz oder andere, oder auch durch den Einspruch von polnischer Seite, dass es nie eine Frage war, irgendwelches Leid zu relativieren.

    Von Müller: Nein, das ist keine Frage. Ich glaube schon, das Zentrum gegen Vertreibung mit seiner deutlichen Notierung, das deutsche Vertreibungsschicksal wirklich zu zentrieren und darum herum immer wieder in ablösenden Ausstellungen europäische oder andere Welterfahrungen von Vertreibung zu stellen, ist durchaus problematisch. Ich glaube nicht, dass man wirklich das deutsche Vertreibungsschicksal, das eine Leidensgeschichte ist - gar keine Frage -, ins Zentrum einer Weltgeschichte der Vertreibungen stellen sollte, denn das würde tatsächlich die Frage von Ursache und Wirkung völlig auf den Kopf stellen.

    Köhler: Vielen Dank für das Gespräch.