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Historiker Jan Tomasz Gross
Polen fordern Aberkennung des Verdienstordens

Der polnisch-amerikanische Historiker Jan Tomasz Gross polarisiert seit langem mit seinen Schriften über den Antisemitismus in Polen. Jetzt wird angeblich geprüft, ihm den 1996 überreichten polnischen Orden für Verdienste um die Verständigung zwischen Polen und anderen Nationen abzuerkennen: wegen eines kritischen Artikels über die Flüchtlingspolitik.

Von Sabine Adler | 17.02.2016
    Der in Polen geborene amerikanische Historiker konfrontiert seine früheren Landsleute regelmäßig mit unbequemen Wahrheiten, hält ihnen den Spiegel vor, in dem sie entdecken, was sie lieber nicht sehen möchten. Zum Beispiel: den in der Vergangenheit weitverbreiteten Antisemitismus.
    Jan Tomasz Gross initiierte Debatten, frei nach dem Motto, dass nur die schmerzhaften Auseinandersetzungen mit der eigenen Geschichte die Gesellschaft voranbringen, Selbstbetrug und Lügenmuster nur wenn es wehtut, besiegt werden können.
    Als im vorigen Sommer in der Westukraine, ganz nah an der polnischen Grenze, sechs Gedenkstätten für Hunderttausende im Holocaust getötete ukrainische Juden eröffnet wurden, war Jan Gross dabei. "Die Verstorbenen im Boden gehören zu einem wichtigen Teil einer langen Geschichte und die Ukrainer reagieren darauf." Gross wurde mit Zeuge, wie manch Ukrainer rundweg abstritt, dass eine Kollaboration mit den Deutschen bei der Auslöschung der Juden stattgefunden hat. Derartige Auseinandersetzungen gab es auch in Polen, aber sie schienen inzwischen der Vergangenheit anzugehören. Doch nun wurde bekannt, dass Präsident Andrzej Duda angeblich rund 2.000 Anträge bekommen habe, Jan Tomasz Gross den polnischen Verdienstorden abzuerkennen. Der Geschichtswissenschaftler, der 1969 mit seinen Eltern in die USA emigrierte, verfolgt die Debatte derzeit von Israel aus.
    Erinnerungen an die Kollaboration mit den Nazis
    "Das geht schon eine ganze Weile so. Die rechten und nationalistischen Kräfte stellen mich schon seit langem als jemand dar, der falsch über Polen schreibt. Ich habe einen Artikel über die Flüchtlingskrise geschrieben. Er ist in 20 Ländern erschienen, aber weil er auch in der deutschen Tageszeitung 'Die Welt' gedruckt wurde, fanden sie, dass ich auf alle mögliche Art und Weise bestraft werden soll, unter anderem, in dem man mir den Orden aberkennt und strafrechtlich gegen mich ermittelt wegen übler Nachrede gegen die polnische Nation."
    Gross hat in dem Artikel den osteuropäischen Mitgliedsländern der EU in der Flüchtlingskrise intolerantes, engherziges und fremdenfeindliches Verhalten vorgeworfen, sie hätten den Geist der Solidarität zu Zeiten des Mauerfalls vergessen. Vor allem aber erinnerte er einmal mehr an das dunkle Kapitel Kollaboration mit den Nazis. Zitat:
    "Die Polen waren zwar zu Recht stolz auf den Widerstand ihrer Gesellschaft gegen die Nazis, haben aber tatsächlich während des Krieges mehr Juden als Deutsche getötet. Natürlich gab es auch Polen, die Juden (...) geholfen haben. Tatsächlich ist die Anzahl der polnischen 'Gerechten unter den Völkern', die im israelischen Yad Vashem für ihre Heldenhaftigkeit ausgezeichnet wurden, unter allen europäischen Nationalitäten die größte (was nicht überrascht, da Polen vor dem Krieg die Heimat der mit Abstand größten jüdischen Gemeinde in ganz Europa war). Aber diese bemerkenswerten Individuen haben normalerweise allein und gegen die vorherrschenden sozialen Normen gehandelt. Alle besetzten europäischen Gesellschaften haben sich in gewissem Ausmaß an den Bemühungen der Nazis zur Vernichtung der Juden beteiligt."
    Wissenschaftler erklären sich solidarisch
    Den Verdienstorden bekam er 1996 - für sein Engagement in der polnischen Opposition zu Zeiten der sozialistischen Volksrepublik, für seine Mitgliedschaft im Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, im Solidarnosc-Komitee im Ausland und für seine wissenschaftlichen Werke. Gerade weil viele der älteren polnischen Politiker der gemeinsamen früheren Oppositionsbewegung entstammen, dürfte es der derzeitigen Regierung in erster Linie um die Bücher des Historikers gehen und den Zeitungsartikel.
    Während das Präsidialamt nun auf eine Stellungnahme des polnischen Außenministeriums wartet, haben 30 polnische und ausländische Wissenschaftler in einem öffentlichen Brief ihre Solidarität mit Jan Tomasz Gross bekundet. Die Aberkennung des Ordens würde Polen nicht nur in den Augen seiner Bürger, sondern in der Welt kompromittieren und wäre ein Zeichen der Einschränkung der Freiheit der Wissenschaft und des Wortes, so die Unterzeichner des Briefes. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder erklärte per Twitter, sollte Jan Tomasz Gross den Orden zurückgeben, würde er gleiches mit seinem polnischen Verdienstorden tun.