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Historisches Grenzabkommen
Ankara stellt türkisch-griechischen Grenzverlauf infrage

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zweifelt in seinen Reden die Grenzziehung zwischen Griechenland und der Türkei von 1923 an. Die "Grenzen unserer Herzen" seien nicht die realen Grenzen. In Griechenland sorgt das für ungläubiges Staunen - und für Aufregung.

Von Rodothea Seralidou | 07.11.2016
    Zaun an der türkisch-griechischen Grenze.
    1923 wurden mit dem Friedensvertrag von Lausanne die Grenzen zwischen Griechenland und der Türkei gezogen. (picture alliance / dpa / ANA-MPA)
    Angefangen hatte alles bei einem Treffen des türkischen Staatspräsidenten mit Gemeinderäten und Bürgermeistern Ende September. Da bezeichnete Erdogan den Friedensvertrag von Lausanne, mit dem 1923 die Grenzen zwischen Griechenland und der Türkei gezogen wurden und der bisher als großer Erfolg gefeiert wurde, erstmals als Niederlage für die Türken:
    "Man hat versucht, uns zu überzeugen, dass das Abkommen von Lausanne ein Sieg war. Schaut euch jetzt die Ägäis an: Die Inseln, von denen du bis zum gegenüberliegenden Ufer gehört wirst, wenn du rufst, die haben wir mit dem Abkommen von Lausanne abgegeben. Ist das ein Sieg? Wir haben da unsere Moscheen und Monumente. Es gibt noch immer einen Kampf darum, was ein Festlandsockel ist und welche Grenzen wir an Land und in der Luft haben. Warum? Weil diejenigen, die sich damals an den Verhandlungstisch setzten, den realen Umständen nicht gerecht wurden. Jetzt ernten wir die Folgen davon."
    Aufregung um Erdogans Aussagen
    Seit dem wiederholt sich Erdogan immer wieder in seiner Rhetorik, spricht von den "Grenzen unserer Herzen" und sagt, dass diese nicht mit den geografischen Grenzen übereinstimmten. Zwar bestritt der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu jüngst in einem Zeitungsinterview territoriale Ansprüche der Türkei gegenüber Griechenland, doch die sich wiederholenden Aussagen des türkischen Staatspräsidenten sorgen zurzeit unter den Griechen für große Aufregung.
    So auch beim 68-jährigen Fanis Zoumbos. Der Rentner trinkt gerade seinen Mokka mit Bekannten in einem Athener Straßencafé und genießt die frühlingshaften 20 Grad. In ihrem Gespräch dreht sich alles um Erdogan:
    "Wenn du es so siehst, dehnt sich unsere Grenze bis zur türkischen Küste aus und bis zum ägyptischen Alexandria. Im Norden, im Süden, alles gehört uns! Aber sollen wir auch so denken? Wir haben doch Verträge unterzeichnet."
    Sein Bekannter Konstantinos Patsouroudis nickt. So wie die meisten hier, hält auch er ein Komboloi, eine Bernsteinkette, in der Hand und klappt die Perlen hin und her. Patsouroudis sagt:
    "Wir haben nichts zu befürchten! Wir sind doch seit 5.000 Jahren hier. Die ganze Welt weiß das. Erdogan spielt aber sein eigenes Spielchen. Ich hoffe, dass in ein bis zwei Jahren jemand Besseres an die Macht kommt. Wir sind doch Nachbarn und müssen Freunde sein. Dann wird auch dieses ständige Wettrüsten aufhören!"
    Griechenland kann militärisch nicht mithalten
    Gerade da, beim Wettrüsten, könne Griechenland kaum mehr mit der Türkei mithalten, sagt Politik-Experte Thanasis Veremis. Der emeritierte Hochschulprofessor ist Vorstandsmitglied beim griechischen Forschungsinstitut für Europa- und Außenpolitik ELIAMEP und beobachtet seit Jahren die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei.
    "Die Türkei hat nach den USA die größte Armee in der Nato und hat gerade angekündigt, nagelneue Kampfflugzeuge kaufen zu wollen. Wir wiederum sind nicht mehr in der Lage, unsere Abwehrsysteme zu erneuern und haben noch dazu eine sehr schwache Regierung. Würden morgen Wahlen stattfinden, würde sie diese mit Sicherheit verlieren. Erdogan hingegen hat in der Türkei keine Konkurrenz. Kılıçdaroğlu, der Chef der kemalististischen CHP, ist schwach, er inspiriert die Menschen nicht. Im Gegensatz zu Erdogan, der wie ein Sultan agiert."
    Veremis glaubt zwar, dass Erdogan vor allem die einfachen Leute in der Türkei mit seinen Sprüchen beeindrucken möchte. Trotzdem sei es gut, immer ein waches Auge auf den türkischen Staatspräsidenten zu haben, denn er werde nach dem Putsch-Versuch immer unberechenbarer.
    "Die letzten Jahre waren ruhig, weil Erdogan sich darauf konzentriert hatte, seine Macht zu etablieren. Er hat lange gebraucht, um das zu werden, was er heute ist, also hat er uns in Ruhe gelassen. Jetzt, wo er aber innenpolitische Probleme hat, versucht er Feinde im Ausland zu schaffen. Das ist ein beliebtes Schema in der Außenpolitik. Und das macht auch die Türkei oft. Ich gehe also davon aus, dass uns die Türkei auch in Zukunft Probleme machen wird."