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Hitlers vermeintliche Intuition

Das Unternehmen war riskant, denn bei einer entschlossenen militärischen Gegenaktion der Franzosen hätten sich die Truppen der Wehrmacht wieder zurückziehen müssen. Doch der deutsche Diktator hatte die Schwäche des Gegners richtig eingeschätzt.

Von Volker Ullrich | 07.03.2011
    "Taumelnder Jubel und patriotische Begeisterung erfasst die ganze Bevölkerung. Alles sang das Lied 'Die Wacht am Rhein', das seit 1918, nach dem schmählichen Vertrag von Versailles, hier in diesem deutschen Land nicht mehr vernommen wurde."

    So kommentierte der Reichssender Berlin am 8. März 1936 den tags zuvor vollzogenen Einmarsch deutscher Truppen ins Rheinland, dessen Status als entmilitarisierte Zone im Friedensvertrag von 1919 festgelegt und im Locarno-Vertrag von 1925 noch einmal bekräftigt worden war. Hitler hatte freilich aus seiner Absicht, das Versailler Vertragssystem aus den Angeln zu heben, nie einen Hehl gemacht. Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht im März 1935 war der erste Schritt, und schon im Februar 1936 bereitete der Diktator den nächsten Coup vor: die Remilitarisierung des Rheinlands. Doch Militärs und Diplomaten rieten zur Vorsicht: Warum sollte Deutschland das Risiko eines bewaffneten Konflikts mit den Westmächten eingehen? Auch Hitler zögerte noch. Doch Anfang März hatte er sich zum Losschlagen entschlossen. Reichspropagandaminister Goebbels notierte:

    "Es ist wieder ein kritischer Augenblick, aber nun muss gehandelt werden. Dem Mutigen gehört die Welt! Wer nicht wagt, der gewinnt auch nichts."

    Um das Überraschungsmoment zu gewährleisten, sollte nun alles ganz schnell gehen. Für den Mittag des 7. März, einen Sonnabend, wurden die Reichstagsabgeordneten in der Berliner Krolloper zusammengetrommelt. Eine fieberhafte Spannung lag über dem Saal, als der Diktator ans Mikrofon trat. Noch einmal erging er sich in wüsten Ausfällen gegen den Versailler Vertrag, um schließlich zum Kern seiner Erklärung zu kommen: dass Deutschland sich nicht mehr an den Rheinpakt von Locarno gebunden fühle:

    "Im Interesse des primitiven Rechts jedes Volkes auf Sicherung seiner Grenzen und zur Wahrung seiner Verteidigungsmöglichkeiten hat daher die deutsche Reichsregierung mit dem heutigen Tage die volle und uneingeschränkte Souveränität des Reiches in der demi- (Unterbrechung: Beifall) in der demilitarisierten Zone des Rheinlandes wiederhergestellt."

    Der amerikanische Korrespondent William Shirer erlebte die Reaktion der Abgeordneten von der Tribüne aus mit:

    "Sie springen auf ... Ihre Hände sind zum sklavischen Salut hochgestreckt, ihre Gesichter von Hysterie gezeichnet, ihre Münder weit geöffnet und schreiend, ihre vor Fanatismus brennenden Augen gerichtet auf den neuen Gott, den Messias."

    Noch während Hitler sprach, waren die deutschen Truppen, insgesamt nicht mehr als 20 000 Mann, ins Rheinland eingerückt. Nur 3000 sollten tiefer ins linksrheinische Gebiet vordringen. Sie hatten strikte Anweisung, sich zurückzuziehen, falls es zu einer Konfrontation mit französischen Truppen kommen sollte. Doch genau davor schreckte der französische Generalstab zurück. Man glaubte, einer militärischen Auseinandersetzung mit Nazi-Deutschland nicht gewachsen zu sein. Dabei hätte damals eine einzige französische Division ausgereicht, um Hitlers Vabanquespiel zu beenden. So blieb es bei Protesten, die den Hasardeur kaum beeindrucken konnten. Die letzte Chance, ihm ohne großes militärisches Engagement Einhalt zu gebieten, war vertan.

    Mit dem Einmarsch ins Rheinland hatte Hitler zugleich die Auflösung des Reichstags und Neuwahlen für den 29. März angekündet. Er wollte den außenpolitischen Triumph nutzen, um sein Regime aufs Neue plebiszitär bestätigen zu lassen. Tatsächlich ging eine Welle nationaler Euphorie durchs Land, in der sich Bewunderung für Hitlers vermeintliche Intuition mit Erleichterung über den glücklichen Ausgang des Abenteuers mischte. Über 98 Prozent stimmten für die "Liste des Führers". Hitler war nun mehr denn je von seiner Unfehlbarkeit überzeugt; er glaubte sich mit der "Vorsehung" im Bunde, wie er etwa beim Empfang im Kölner Gürzenich einen Tag vor der Wahl bekundete:

    "Dass die Vorsehung mich bestimmt hat, diese Handlung zu vollziehen, empfinde ich als die größte Gnade meines Lebens."

    In der Hybris, die sich hier offenbarte, lag bereits der Keim von Scheitern und Untergang.