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"Hobbit" im Kreuzfeuer

Anthropologie. - Vor rund drei Jahren fanden Wissenschaftler auf der indonesischen Insel Flores einen winzigen menschlichen Schädel und sahen darin eine neue Menschenart. Falsch, meint eine andere Fraktion, vielmehr handele es sich um eine krankheitsbedingte Variation. Der Streit bekam jetzt neue Nahrung.

Gerd Pasch im Gespräch mit Dagmar Röhrlich und Michael Stang | 30.01.2007
    Der vor rund drei Jahren auf der indonesischen Insel Flores gefundene Schädel eines kleinwüchsigen Menschen war für die Forscher eine Sensation: das menschliche Skelett war nicht nur ungewöhnlich klein, sondern passte auch in keinen bis dato aufgestellten Stammbaum des Menschen - vorausgesetzt, es handelt sich tatsächlich bei dem Fund um eine neue Menschenart und nicht um das deformierte Skelett eines Kranken. Der Fund teilt die Wissenschaftler in zwei Lager, die zunehmend heftiger gegeneinander argumentieren. Jetzt erhält die Theorie, dass es tatsächlich einen Homo floresiensis gegeben haben könnte, neue Munition durch eine neue Studie im Fachblatt PNAS. Die Autoren wollen beweisen, dass der winzige Schädel nicht krankhaft deformiert war, sondern zu einem gesunden Individuum gehörte.

    Von seinen Anhängern hat das Fossil den Kosenamen Hobbit erhalten. Sein offizieller ist prosaischer: Liang Bua 1 – benannt nach dem Fundort und abgekürzt LB 1. Liefe LB 1 heute über die Strasse, wäre ihm großes Aufsehen gewiss: Von der Statur her gliche er einem Dreijährigen. Sein Gehirn war nur so groß wie das eines Schimpansen – und genau das macht ihn zum Zankapfel zweier Wissenschaftlerlager. Handelt es sich bei dem Hobbit um eine neue Menschenart – den Homo floresiensis – oder um einen kleinen Menschen mit einem krankhaft winzigen Gehirn, einem Mikrozephalus:

    "Weil unsere Gegner erklären, dass LB 1 das Skelett eines Menschen mit krankhaft verkleinertem Gehirn ist, haben wir eine Studie zusammengestellt. Sie vergleicht 3D-Scans des Schädelinneren von Mikrozephalus-Kranken mit denen normaler Menschen und dem von LB 1. Unser Gehirn hinterlässt zu Lebzeiten Abdrücke an der Schädelinnenseite, die wir vermessen. So finden wir heraus, ob es mehr klar definierte Unterschiede zwischen den Gehirnen von Mikrozephalus-Kranken und denen gesunder Menschen gibt."

    Diese Unterschiede existieren wirklich, erklärt die Paläoneurologin Dean Falk von der Florida-State-University. Es gebe Strukturen, die eine klare Unterscheidung zwischen gesunden und kranken Gehirne zulassen – und das Gehirn von LB 1 sei einmalig:

    "Dieser Schädel hat sehr spezielle Kennzeichen, die es rechtfertigen, ihn als eigene Art zu bezeichnen. Durch diese Debatte um die krankhafte Mikrozephalie haben wir Zeit verloren, uns um die wirklich wichtige Frage zu kümmern: Woher stammt dieser Homo floresiensis?"

    Trotz der neuen Studie ist es längst nicht ausgemacht, ob es den Homo floresiensis wirklich gegeben hat. Der Paläoanthropologe Fred Smith von der Loyola-Universität in Chicago schwankt. Er hält es prinzipiell für möglich, aber er ist noch nicht überzeugt:

    "Da sich diese Behauptung auf nur einen einzigen Schädel stützt, kann sie nicht stimmen. Ein Fossil reicht nicht, das hat sich schon oft gezeigt. Von daher gibt es keinen Beweis für die Behauptung einer eigenen Menschenart, bis wir nicht weitere Fossilien finden. Es ist vielleicht keine Mikrozephalie, aber wir können auf keinen Fall ausschließen, dass es nicht doch etwas krankhaft Verändertes war."

    Gerd Pasch: Die beiden Wissenschaftsjournalisten Dagmar Röhrlich und Michael Stang beschäftigen sich mit dem Thema seit dem Fund des Schädels im Jahr 2003. Sie haben mit Forschern aus beiden Lagern gesprochen, jetzt sitzen sie beide hier im Studio für den "Schlagabtausch", dem Pro und Kontra zur heute veröffentlichten Studie. Dagmar Röhrlich, ist der Anspruch auf eine eigene Menschenart gerechtfertigt?

    Dagmar Röhrlich: Dieses Gehirn ist wirklich einzigartig, so wie es sich in diesen 3D-Scans darstellt. Es gibt dort Regionen, die beim modernen Menschen für die höheren kognitiven Fähigkeiten zuständig sind, wie beispielsweise das Vermögen, zu abstrahieren. Und die sind bei diesem Gehirn auch vergrößert, obwohl es so lächerlich winzig ist. Aber daneben gibt es auch Strukturen, die beim modernen Menschen längst verloren gegangen sind, die weit in die Entwicklungsgeschichte der Menschheit zurück reichen, erklärt Dean Falk, die diese Untersuchung durchgeführt hat. Sie sagt, dass dieses Gehirn so einzigartig ist, dass es durchaus rechtfertigt, dass wir hier das Mitglied einer neuen Art vor uns haben und kein krankes Gehirn, keinen Mikrozephalus.

    Michael Stang: Ein Mikrozephalus ist es vielleicht nicht, das legt diese neue Studie nahe, aber sonst auch gar nichts. Da gibt es noch eine ganze Palette von anderen Krankheiten, die einen so winzigen Schädel verursachen können. Die Behauptung, dass es eine neue Menschenart ist, kann ja an sich überhaupt nicht funktionieren, weil die Forscher nur einen einzigen Schädel zur Verfügung haben. In der Vergangenheit, Fred Smith hat es eben im Beitrag erwähnt, war es ja oft so, dass der vorschnelle Ruf "Wir haben eine neue Menschenart gefunden" revidiert werden musste, als weitere Knochen aufgetaucht sind. [...] Dieser Schädel ist so klein wie der eines Schimpansen mit gerade einmal 417 Kubikzentimetern. Da deutet eigentlich Vieles darauf hin, dass es eigentlich keine neue Menschenart sein kann, sondern etwas Krankhaftes sein muss.

    Röhrlich: Wenn man diesen Schädel losgelöst betrachtet, dann kommt man vielleicht nicht weiter. Aber es gibt ja nicht nur diesen Schädel, sondern man hat inzwischen Knochen von neuen Individuen gefunden, mehr oder weniger komplette Skelette. Darunter ist auch ein Kiefer, der kleiner ist als der von LB 1. LB 1 ist überhaupt das größte Wesen dieser Art. Es gibt Untersuchungen, die durchgeführt worden sind, weil die Kontra-Fraktion gesagt hat, diese Knochen seien ganz normal, sie lägen im Bereich von Schwankungen, die wir heute bei Pygmäen und zwergwüchsigen Menschen haben. Dabei wurden die Knochen verglichen zum einen mit jenen von anderen kleinwüchsigen Hobbits, andererseits aber auch mit Knochen von Pygmäen aus Afrika, von Andamanen, von Bewohnern der Insel Flores, die auch sehr klein sind. Man hat festgestellt, dass heute auf der Erde kein Mensch läuft, der auch nur im Entferntesten so aussieht wie die Hobbits, denn keiner hat so ungewöhnlich lange Arme und so ungewöhnlich kurze Beine. Es ist weiterhin so, wenn man sich die Struktur dieser Knochen genau anschaut, die Form, dass die sehr, sehr weit zurückreicht. Ähnliches findet man erst bei "Lucy", das ist ein Vormensch, der vor zweieinhalb Millionen Jahren auf der Erde gelebt hat in Afrika. Jetzt stellt sich die wirklich erstaunliche, sensationelle Frage: "Hat Lucy sich auf den Weg in die Welt gemacht?" Es ist eine Sensation, dass überhaupt darüber nachgedacht wird, aber es könnte sein, dass alles darauf hindeutet.

    Stang: Ja, aber das weicht doch das Theoriegebäude noch weiter auf. Dann sprechen wir hier über eine Menschenart, die über zweieinhalb Millionen Jahre auf einer Insel gelebt haben soll. Und das ist eigentlich völlig ausgeschlossen. Eine kleine Insel, auf der nur wenige Individuen leben, die kaum etwas zu essen haben, wo kein Gen-Fluss stattfindet - das macht es überhaupt unwahrscheinlich, dass Menschenformen überlebt haben sollen, die sich zu diesem Hobbit weiter entwickelt haben sollen. Und weil das Skelett nicht wie ein typischer Pygmäe aussieht, ist eine so kleine Menschenart kaum vorstellbar. Es ist meiner Meinung nach, oder der Meinung vieler Forscher, ein krankhaft veränderter Mensch mit einem so winzigen Schädel.

    Pasch: Alle messen die gleichen Knochen – aber wenn man die Ergebnisse hört, könnte man denken, wir sprechen von mindestens zwei vollkommen verschiedenen Funden?

    Stang: Das ist ja gerade das Kuriose bei diesem Streit: egal, welche Daten in den letzten Monaten publiziert wurden - beide Lager pressen alles sofort in ihr Theoriegebäude. Es gibt entweder Pro oder Kontra, nichts dazwischen. Und das klingt oft nach selbsterfüllenden Prophezeiungen, da ist kaum Platz für objektive Betrachtungen. Mit dem Streit werden ja alle Argumente selber geschwächt, das hat teilweise schon Züge von unwissenschaftlichem Arbeiten. Es ist ein abartiger Streit, der zum Teil sehr persönlich zwischen den einzelnen Forschern ist, und anscheinend geht es einigen Akteuren nur darum, Recht zu behalten.

    Pasch: Wie kann denn eine Lösung der konträren Auffassungen aussehen, wie können die Forscher zu einem eindeutigen Ergebnis kommen?

    Röhrlich: Dazu braucht man eindeutig mehr Funde, vor allen Dingen einen zweiten Schädel. Es ist so, dass es paläontologisch nicht ungewöhnlich ist, es gibt solche Entwicklungen, auch von großen Tieren wie Elefanten auf Inseln, die auch über Millionen Jahre laufen, auch auf kleinen Inseln. Aber es ist hier so, dass wir in einem sehr empfindlichen Gebiet sind, wo politische Sachen dazu kommen, wo persönliche Empfindlichkeiten dazu kommen. Dieser Streit ist objektiv nicht mehr nachvollziehbar, es ist ein Schlagabtausch zwischen rivalisierenden Gruppen, die den Ruhm wollen.