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Hochliteratur in der Nische

Nach Ansicht von Rainer Moritz, Leiter des Hamburger Literaturhauses, ist der Trend zur autobiografischen Literatur nichts Neues. Es habe jedoch in diesem Jahr im deutschsprachigen Raum auch "wunderbare Erfolge mit klassischer Belletristik gegeben".

Moderation: Christoph Schmitz | 04.10.2006
    Christoph Schmitz: Rainer Moritz, schon seit Wochen, aber auch hier auf der Messe, ist es weniger die Belletristik, auf die geschaut wird, sondern es sind vor allem Erinnerungsbücher. Autobiografien wie "Beim Häuten der Zwiebel" von Günter Grass, "Ich nicht" von Joachim Fest, oder "Dossier K." des ungarischen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertesz. Ist die Belletristik in Deutschland derzeit etwas ins Hintertreffen geraten, Rainer Moritz?

    Rainer Moritz: Ich glaube es eigentlich nicht, aber es gibt natürlich seit Jahren schon diesen Trend zur autobiografischen Literatur. Das ist nichts Neues, das hat auch damit zu tun, dass einfach das Interesse der Menschen für Bücher, die so genannte wahre Geschichten erzählen - man bildet sich ja immer ein, das sei ein Unterschied kategorialer Art, zwischen einem Roman und einer Autobiografie, als habe die nichts Literarisches an sich. Aber wenn man auf die letzten Jahre schaut: Es hat auch aus dem deutschsprachigen Raum wunderbare Erfolge mit klassischer Belletristik gegeben. Daniel Kehlmann ist vielleicht das Beispiel par excellence der letzten Jahre. Richtig ist aber, dass die Aufmerksamkeit des Publikums immer besonders entzündet wird, wenn eben solche Geschichten auch noch von bekannten Autoren veröffentlicht werden, die eben von sich behaupten, sie erzählen jetzt Wahres. Günter Grass ist ein Beispiel; ich erinnere an Uwe Timm "Am Beispiel meines Bruders" vor ein, zwei Jahren. Ich glaube, das ist ein Trend, der wird stärker werden, weil natürlich auch bestimmte Medien daran interessiert sind, Autoren zu präsentieren, die nichts Erfundenes erzählen, sondern von sich selbst erzählen. Für viele Medien ist das interessanter, als einen Roman vorstellen zu müssen, der sozusagen eine, in Anführungszeichen, erfundene Geschichte nur präsentiert.

    Schmitz: Oder ist es vielleicht eine Selbstvergewisserung, die wir im Moment sehr stark merken, dass man auf historische Dinge schaut, um die Gegenwart besser in den Griff zu bekommen?

    Moritz: Ich glaube letztlich nicht, dass das ein ganz neuer Trend ist. Es ist sicherlich bei Grass - das ist auch nicht das Musterbeispiel, insofern, weil das natürlich immer Aufmerksamkeit erregt hätte, wenn Grass eine Art Autobiografie, er selber vermeidet den Ausdruck ja bewusst, auch das Buch hat keine Gattungsbezeichnung, aber das ist natürlich immer, wäre immer ein Ereignis gewesen, wenn Günter Grass von seinem Leben erzählt. Ich glaube das ist nichts Neues.

    Schmitz: In vielen Romanen, natürlich nicht nur in deutschsprachigen, geht es um islamistischen Terrorismus. In Christoph Peters "Ein Zimmer im Haus des Krieges" etwa, im gerade preisgekrönten Roman der Katharina Hacker "Die Habenichtse" spielen die Attentate des 11. September mit herein, auch bei Thomas Hettche, dem Stück, "Woraus wir gemacht sind", diesem Roman. Die jüngsten Kriege, überhaupt die Wiedervereinigung. Ist die junge Autorengeneration wieder politisch interessierter?

    Moritz: Ich glaube, dieser Trend ist deutlich wahrzunehmen. Es gibt diesen Versuch, oder auch dieses Zutrauen überhaupt einmal, ein bisschen von Befindlichkeitskrisen, von Dreiecksgeschichten, was die deutsche Literatur uns gegeben hat, oder nicht gegeben hat in den letzten Jahren, wegzukommen. Das ist deutlich stärker geworden. Sie haben Beispiele genannt: Ich glaube Hettche und Hacker, die beiden ganz engen Kandidaten um den Buchpreis, versuchen gerade dieses Generationengefühl festzuhalten, in Reaktionen auf Ereignisse wie den 11. September. Man könnte einen Roman aus dem Frühjahr, Judith Kuckart "Kaiserstraße", und Helmut Krausser "Eros" aus dem Herbst dazunehmen. Zwei Romane, die versuchen, wie geglückt das auch sein mag, die ganze Palette der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik in eine Romanhandlung zu bringen. Das ist, glaube ich, ein Effekt. Wir haben Thomas Brussig vor ein paar Jahren gehabt, Ingo Schulze, der das versucht hat, den, in Anführungszeichen, Wende-Roman zu schreiben. Ich glaube, das ist ein sehr interessanter Trend, weil er auch wieder das Zutrauen deutschsprachiger Autoren zeigt, sich solchen Themen zuzuwenden, die natürlich erst einmal schwerer in den Griff zu bekommen sind, als irgendwelche privaten Liebesnöte.

    Schmitz: Vom Inhalt zur Form. Die vorhin erwähnten Titel sind recht ambitionierte literarische Arbeiten, das gilt aber besonders für Christoph Ransmayrs Versepos "Der fliegende Berg" oder Wolf Haas "Das Wetter vor fünfzehn Jahren". Wie steht es um die anspruchsvolle, kunstvolle deutschsprachige Literatur auf dem hiesigen Markt?

    Moritz: Ich glaube, der Markt ist seit Jahren schon, wenn man einmal die letzten zehn Jahre zurückverfolgt, ein schwieriger Markt gewesen. Das hat mit der ökonomischen Situation in Deutschland allgemein zu tun. Besonders gelitten hat, das kann man aber sicher nachzeichnen, in den letzten drei, vier Jahren, natürlich die Belletristik. Die Kluft zwischen Autoren, die gut verkaufen und zwischen den vielen, vielen Autoren, die allmählich durch den Rost auch des Buchmarktes fallen, diese Kluft ist größer geworden in den letzten Jahren. Das merken auch arrivierte Autoren, die plötzlich eben nicht modelartig geeignet sind, für Homestorys vorgezeigt zu werden, dass sie plötzlich, weil ihre Auflagenzahlen von vormals, was weiß ich, 5000 Exemplaren auf 2000, 2500 gesunken sind. Das führt dazu, dass die Verlage auch unduldsamer werden, in schwierigen ökonomischen Zeiten, und plötzlich sich entscheiden, diese Autoren gar nicht mehr verlegen zu können. Ich glaube, da wird viel noch auf etliche Autoren zukommen, weil, das hat sich zugespitzt in den letzten Jahren.

    Schmitz: Wie reagieren die Autoren darauf? Reagieren sie, indem sie versuchen auch diesem möglichen Erfolgsroman hinterher zu schreiben, oder kann man das so einfach nicht sagen?

    Moritz: Ich glaube, man kann das nicht so einfach sagen. Dass da eine Verlockung da ist, bei Autoren, wenn sie sehen - ich glaube, auch Herr Kehlmann wird Nachfolger, Nachahmer in deutschen Autoren haben. Und man wird in der Historie, der Kulturgeschichte, der Naturwissenschaftsgeschichte natürlich graben jetzt, und sehen, ob man nicht mit Gauß und Humboldt jetzt, das auch mit anderen Figuren durchexerzieren wird. Die Erfahrung lehrt, dass die Erfolge meistens ausbleiben, wenn man sozusagen diesen Me-too-Effekt, wenn man das so nennen will, wirklich auserprobt. Aber es ist mühsamer geworden, ich glaube, die deutschen Autoren sind zum Glück noch in einem Netzwerk von Stipendien und Preisen so eingefangen, dass viele sowieso nicht von ihren Buchverkäufen leben können, sondern von solchen Preisen, die sie Gott sei Dank bekommen.

    Schmitz: Rainer Moritz, vielen Dank für das Gespräch. Rainer Moritz, Autor und Literaturhausleiter in Hamburg.