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Hochwasser in Venedig
Ein Mythos geht unter

Wasser im Palazzo Gritti, Wasser in der Krypta des Markusdoms, Wasser auf dem Gelände der Biennale. Venedig versinkt langsam aber stetig. Der Untergang der Stadt hat zahlreiche Gründe - geologische und wirtschaftliche. Venedig ist ein Symbol für unsere Zivilisation, die so kühn ist wie hybrid.

Von Ulrich Deuter | 15.11.2019
Italien, Venedig: Passanten gehen in der Nähe der Rialto-Brücke durch das Hochwasser.
In Venedig gehen Passanten in der Nähe der Rialto-Brücke durch das Hochwasser. (AP - Luca Bruno)
Goethe war ganz unbesorgt. "Die Langsamkeit, mit der das Meer abnimmt", schrieb er am 9. Oktober 1786 in sein Italienische-Reise-Tagebuch, "gibt ihr – Venedig – Jahrtausende Zeit, und sie werden schon, den Kanälen klug nachhelfend, sich im Besitz zu erhalten suchen."
Damals, und in den Jahrhunderten davor, fürchtete die Lagunenstadt tatsächlich, dass sie verlanden, vom Meer abgeschnitten und damit in die Bedeutungslosigkeit versinken würde – wie zuvor schon Ravenna. Dies, da hatte Goethe ganz recht, geschah aber nicht, "klug nachhelfend" leiteten die Venezianer sogar Flüsse um, um sich im "Besitz zu erhalten". Heute ragt Venedig berghoch empor – aus dem Meer der Durchschnittsstädte, als der Gipfel des Massentourismus. Während es physisch versinkt.
Eine Stadt in den Wolken
Im Grunde ist Venedig eine unwahrscheinliche Stadt und damit ein Paradigma für die Stadt überhaupt. Für diesen herzbewegenden Versuch, die Harmonie des Himmels auf die Erde zu zwingen, unsere Träume von Ordnung, Friedlichkeit und Gelingen festzuhalten als steinerne Geometrie. In Italo Calvinos Roman "Die unsichtbaren Städte", einem Bericht von lauter Orten symbolischer menschlicher Lebensformen, gesteht Marco Polo dem Kublai Khan: "Jedes Mal, wenn ich dir eine Stadt beschreibe, sage ich etwas über Venedig." Einen Ort, den man in der Tat nur erfinden kann. Wie aberwitzig, Pfähle in den Sumpf einer Lagune treiben und darauf Kirchen errichten zu wollen. Könnte man da nicht gleich eine Stadt in den Wolken gründen? Aber Venedig gibt es, die Kirchen stehen.
Während derselbe träumerische Erfindergeist, der dazu in der Lage war, ihnen den Boden unter dem Fundament wegzieht. Im Industriezeitalter wurden Teile der Lagune, zum Beispiel für den Flughafen, trockengelegt, überall die Fahrrinnen vertieft. Die so zunehmende Strömung spült unablässig Sand ins Meer, der Lagunenboden sinkt und damit die Stadt, die auf ihm errichtet wurde. Heute liegt sie bis zu dreißig Zentimeter tiefer im Wasser als vor hundert Jahren. Und der Klimawandel mit seinem ansteigenden Meeresspiegel wird das Seine dazu beitragen, dass Venedig, die unwahrscheinliche Stadt, eine Gewesene sein wird.
Unweigerlicher Untergang
Aber was ist mit MO.S.E., jenem gigantischen Sperrsystem, das sich bei Hochwasser in den Eingängen der Lagune aufrichten und einen temporären Damm bilden soll? Seit sechzehn Jahren wartet das Modulo Sperimentale Elettromeccanico auf seine Fertigstellung und erweist sich schon jetzt als einer der unzähligen Versuche, sich mittels Technik freizukaufen von der Notwendigkeit einer Verhaltensänderung. Wer hat sich nicht alles in dem Glauben eingerichtet, der drohenden Weltklimakatastrophe werde schon mit irgendwelchen genialen Erfindungen beizukommen sein!
So steht Venedig für unsere Art der Zivilisation. In Thomas Manns dort spielender Novelle lässt die Verwaltung der Lagunenstadt hier und da Desinfektionsmittel versprühen, weil sie die grassierende Cholera nicht öffentlich machen will – es würde den Gang der Geschäfte stören. Ein wohlbekanntes Argument. Und weil auch der Held zu matt zur Umkehr ist, geschieht er unweigerlich: Der Tod in Venedig.